Читать книгу Madame Beaumarie und die Melodie des Todes - Ingrid Walther - Страница 9

5

Оглавление

Der Unterschied zur morgendlichen Stille hätte größer nicht sein können. Ein unübersehbarer Strom von Touristen, von denen vermutlich der größere Teil bereits die Orientierung verloren hatte, drängte sich durch die verschlungenen Gassen von Avignon.

Sobald die Besucher der Stadt auf einem der zahlreichen Plätze ankamen, blieben sie wie angewurzelt stehen, zückten ihre Fotoapparate, holten ihre Reiseführer hervor und suchten die umliegenden Cafés nach den letzten freien Plätzen ab. Man hätte meinen können, dass die Hitze, die sich mittlerweile auf die Stadt herabgesenkt hatte, ihrem Eifer Einhalt gebieten würde, aber die Zeiten, in denen die Straßen des Südens um die Mittagszeit herum wie leergefegt waren, gehörten längst der Vergangenheit an.

Ungeduldig bahnte Florence sich ihren Weg durch die Leute, denn die Hitze setzte ihr mittlerweile zu und so war sie froh, als sie endlich ihren Bestimmungsort erreichte. In der Mitte der Place de l’Horloge angekommen, drehte Florence sich einmal um ihre Achse. Das Café Mistral war schnell entdeckt und auch nach Monsieur Florentin musste sie nicht lang suchen. Das war bestimmt jener angespannt wirkende Mann mit den dichten weißen Haaren, der in der vordersten Reihe des Straßencafés saß, sich halb von seinem Sitz erhoben hatte und seinen Blick durch eine Brille, die tatsächlich rot war, unruhig über den Platz schweifen ließ. Florence zog sich kurz hinter einer Touristengruppe zurück. Eine so belebte Stadt eignete sich bestens für polizeiliche Observationen. Hinter und zwischen den Leuten konnte man sich gut unsichtbar machen. Sie war mittlerweile schweißgebadet und wollte dem Herrn, der einen eleganten Eindruck machte, nicht so ramponiert entgegentreten.

Sie wischte sich mit einem Tuch über die Stirn, nahm die Kappe ab, fuhr sich mit den Fingern durch die plattgedrückten Haare, schob die Sonnenbrille über die Stirn zurück, sprühte sich etwas Eau Thermale ins Gesicht, puderte sich die Nase und trug sogar frischen Lippenstift auf. Gleich darauf steuerte sie entschiedenen Schrittes auf ihre Zielperson zu. Diese hatte wieder Platz genommen und starrte auf die aktuelle Ausgabe der Le Monde.

Eine halbe Stunde später hätte wohl jeder, der den älteren Herrn und die hochgewachsene Dame an einem der vordersten Tische des Café Mistral beobachtete, geschworen, dass es sich bei den beiden um ein Paar handelte, das sich schon lange kannte. Aufgrund der Aufmerksamkeit, mit der sie von den überwiegend männlichen Kellnern behandelt wurden, hätte man vermutlich auf zwei alteingesessene Bürger der Stadt getippt. Bei der Dame wäre man diesbezüglich im Irrtum gewesen, bei dem Herrn hingegen hätte man den Nagel auf den Kopf getroffen.

Gerade erläuterte der Herr der Dame seine höchst persönliche Theorie von den unterschiedlichen Umlaufbahnen, auf denen sich die Ortsansässigen durch die Touristenströme dieser Stadt bewegten, und sie hörte ihm interessiert zu. Normalerweise befand man sich als Einheimischer auf einer Bahn, auf der man nur mit vertrauten Stadtbewohnern verkehrte, erläuterte er. Von Zeit zu Zeit wurde man jedoch durch irgendein Vorkommnis auf jene Umlaufbahn katapultiert, auf der man alle Fremden als Eindringlinge und Störenfriede erlebte und sich über sie empörte oder gar einen Streit vom Zaun brach. Schließlich gab es da noch die Umlaufbahn jener, die aus beruflichen oder privaten Gründen einen regelmäßigen persönlichen Kontakt mit den Besuchern der Stadt pflegten. Gehörte man – so wie er auch – zu diesen, begann man gar bald die Gäste nicht nur als anonyme Masse wahrzunehmen, sondern sie als Individuen und oft als interessante Persönlichkeiten kennen und schätzen zu lernen.

„Wissen Sie, ich bin ein interessierter Beobachter dieses Geschehens“, sagte er gerade. „Bei Ihnen, verehrte Madame, wäre ich allerdings ganz und gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass Sie eine Touristin sein könnten – und glauben Sie mir, ich kenne mich bei Touristen aus.“

„Sie sind ein Charmeur, Monsieur!“ Florence drohte scherzhaft mit dem Zeigefinger. Ihr erging es ähnlich wie allen Touristen. Obwohl sie eine von ihnen war, wünschte sie sie dennoch zum Teufel und fühlte sich selbst nicht als dazugehörig.

„Aber nein, Madame, als Abgesandte meiner Tochter habe ich Sie von vornherein als jemanden betrachtet, der zu uns gehört.“

Soeben kam der Kellner, stellte ihr das Plat du jour auf den Tisch und der verlockende Duft der Moules marinières stieg Florence in die Nase. Monsieur Florentin hatte sich sichtlich erleichtert gezeigt, als er von Florence den Grund für das Fernbleiben seiner Tochter erfuhr, und sie auf der Stelle eingeladen, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Der Tagesteller sei hier im Gegensatz zu vielen anderen Touristenlokalen durchaus zu empfehlen. Den Koch kenne er persönlich und der schaffe alltäglich den Spagat zwischen vorgefertigtem Touristenfraß und einem guten, frisch gemachten Mittagstisch.

Florence konnte dazu nicht nein sagen. Sie war hungrig und wusste eine gute Essensempfehlung zu schätzen. Schweigend aß sie ihre Muscheln, während Monsieur Florentin eine um die andere Anekdote von seinen Begegnungen mit Gästen der Stadt zum Besten gab. Als sie aufgegessen hatte, nahm sie noch einen Schluck Weißwein und lehnte sich angenehm benebelt im Sessel zurück.

„Wie kommt es, Monsieur Florentin, dass Sie ein derartiger Kenner der Spezies Touristen sind?“

Er schmunzelte, trank ebenfalls einen Schluck Wein und beantwortete dann ihre Frage.

„Wenn man – so wie ich – sein halbes Leben im Palais des Papes in Avignon zugebracht hat, lässt sich ein Kontakt mit dessen Besuchern wohl schwerlich vermeiden.“

Auf ihren neugierigen Blick hin fuhr er fort.

„Ich bin hier in Avignon geboren und aufgewachsen und habe in jungen Jahren ein Studium der Geschichte in Paris begonnen und in den Ferien als Aufseher in unserem Palast hier gearbeitet. Das Studium habe ich bedauerlicherweise nie abgeschlossen, aber im Palast habe ich es im Laufe von dreißig Berufsjahren bis zum zeitweiligen Museumsdirektor gebracht. Dann haben sich die Zeiten geändert, und als die Vertreter des modernen Marketings eingezogen sind, hatte ich genug davon. Ich habe eines meiner zwei kleinen Landhäuser verkauft, die ich beide geerbt hatte, und hier in Avignon einen Buchladen für antiquarische Bücher eröffnet. Der Handel mit alten Büchern ist meine Leidenschaft und ich führe das Geschäft auch heute noch, obwohl die Zeiten auch in diesem Metier immer schwerer werden.“ Er blickte auf die Uhr.

„Trinken wir rasch noch einen Kaffee, Madame? Dann wird es für mich allerdings höchste Zeit, mich um mein Geschäft zu kümmern!“

Beim Kaffee berichtete Florence ihrem neuen Bekannten von den Vorgängen rund um die überklebten Plakate. Er schien die Sache nicht allzu ernst zu nehmen. Es sei schon kurios, meinte er, dass immer dieselben Mechanismen in Avignon in Gang gesetzt würden, wenn jemand mit einer neuen Idee daherkäme. Die Bewohner Avignons seien eben konservativ. Seiner Ansicht nach war Monsieur Lemercier jedoch taktisch nicht besonders geschickt vorgegangen. Er habe offensichtlich voll auf seine Reputation in der internationalen Musikwelt gesetzt und sich in den längst geplanten Festivalsommer hineingedrängt. Erst vor knapp einem Jahr habe die Planung begonnen. Die Kirche für das Eröffnungskonzert sei zu diesem Zeitpunkt noch zur Verfügung gestanden, aber der Saal in der Opéra Grand Avignon sei neben anderen Regisseuren vor allem dem Monsieur Perou für drei Theaterproduktionen zugesagt gewesen. Perou habe zunächst eine seiner Produktionen zurückstellen müssen und müsse sich nun das Theater mit Lemercier teilen. Dass Perou sauer sei, könne man verstehen.

„Das mag schon stimmen, Monsieur. Dennoch hat dieser großartige Dirigent derartige Unannehmlichkeiten nicht verdient. Er ist – soweit ich das beurteilen kann – der größte Spezialist für Barockmusik. Die neuen Plakate, die heute aufgetaucht sind, sind durchaus als Drohung zu verstehen. Die Polizei jedenfalls scheint die Sache ernst zu nehmen.“

„Aha, die Polizei! Dort sind aber vermutlich auch nicht gerade die hellsten Köpfe am Werk.“

„So sehen Sie das also? Dann sollen Sie aber auch wissen, dass ich meine Berufsjahre nicht so wie Sie in einem Palast, sondern im Dienste der Pariser Polizei verbracht habe!“

„Pardon, Madame!“ Monsieur Florentin hielt sich die Hand in gespieltem Entsetzen vor den Mund. „Wenn ich das gewusst hätte! Da habe ich wohl einen Fauxpas begangen. Können Sie einem Mann, der anno 1968 auf den Barrikaden der Pariser Sorbonne einer Phalanx von Polizisten gegenüberstand, seine gewiss ungerechten Vorurteile noch einmal verzeihen?“

Florence winkte großzügig ab. Es war nun wirklich Zeit zu gehen. Sie rief den Kellner herbei, konnte aber nicht verhindern, dass Monsieur Florentin ihre Rechnung übernahm.

„Vielleicht sehe ich Sie ja beim Konzert heute Abend? Sie werden bestimmt nicht das überraschende Debüt Ihrer Tochter versäumen wollen!“

„Geplant hatte ich es ursprünglich nicht. Ich habe nur Karten für die Opernaufführung übermorgen. Eine Karte bekomme ich wohl nur mehr mit viel Glück. Wenn ja, werde ich bestimmt nach Ihnen Ausschau halten, Madame.“

Als Florence auf dem Weg zurück zu ihrem Quartier war, wunderte sie sich, dass ein älterer Herr, der schon an der 68er-Bewegung in Paris beteiligt gewesen war, noch so eine blutjunge Tochter haben konnte. Bei den Herren der Schöpfung kam so etwas allerdings öfter vor. Ihr eigener Sohn war hingegen selbst schon ein Herr im mittleren Alter.

Auf einmal fühlten sich ihre Füße ganz schwer an. Die Nachmittagshitze zwischen den Stadtmauern war kaum mehr zu ertragen. Gerade als sie sich fragte, wie weit es noch zu ihrem Quartier war, entdeckte sie den Eingang zu einem kleinen Park. Ein Teich und große Bäume lenkten ihre Schritte automatisch in Richtung einer schattigen Bank. Den Kopf an den dicken Stamm einer amerikanischen Linde gelehnt, blickte sie auf eine Gruppe von Männern, die große schwarze und weiße Figuren über den Boden schoben. Das weckte Erinnerungen! Ihr Sohn Michel war seit seiner frühesten Kindheit ein begeisterter und begabter Schachspieler gewesen. Oft genug war sie mit ihm in einem der Pariser Parks unterwegs gewesen, in denen im Freien Schach gespielt wurde. Nun, das war lange her. Sie beobachtete, wie einer der Spieler den schwarzen König zu Fall brachte. Was war das doch für ein verrückter Vormittag gewesen! Die Geschichte mit den Plakaten ging ihr nicht aus dem Kopf. Ein Blick auf den Stadtplan verriet ihr, dass es eigentlich gar nicht mehr weit zu ihrem Quartier war. Sie brauchte eine Dusche und eine Siesta.

Madame Beaumarie und die Melodie des Todes

Подняться наверх