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Ouvertüre und Lamento 1

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Florence Beaumarie ließ sich ermattet auf die Bank vor dem großen roten Klavier fallen, dem Instrument, das jedem, der sich halbwegs mit der Bedienung der schwarzen und weißen Tasten auskannte, zur Verfügung stand. Es war die einzige freie Sitzgelegenheit in der Halle des Bahnhofs Gare de Lyon in Paris. Niemandem würde es in der nächsten halben Stunde gelingen, ihr diesen Platz streitig zu machen. Sie hatte im Laufe ihres Lebens mehr als genug Trainingsstunden im Sportstudio von Monsieur Atlas verbracht, um diesen Sitz erfolgreich verteidigen zu können.

Ihr Blick umfing die Menschenmassen, die wie ein vom Sturm gepeitschtes Meer um sie herum wogten. Abgekämpft und gereizt wirkte der Großteil der Leute, was keinesfalls verwunderlich war. Bestimmt war niemand ohne Komplikationen hierhergekommen. Wie so oft in Paris hatte auch heute ein Heer von Streikenden bereits am frühen Morgen die halbe Stadt lahmgelegt. Nur eine alteingesessene und dazu noch besonders krisenfeste Bewohnerin dieser Stadt, wie Florence es zweifellos war, hatte es so früh vor Abfahrt des Zuges bis hierher schaffen können.

Sie stützte sich auf ihren Regenschirm. Den hätte sie jetzt wirklich nicht gebraucht. Nach dem kurzen nächtlichen Gewitterregen war der Himmel über Paris wieder blau wie eine frisch erblühte Glockenblume und die von den Straßenpflastern aufsteigenden Dämpfe kündigten bereits die tropische Hitze an, die die Stadt heute noch heimsuchen würde. Unwillkürlich musste Florence bei der Betrachtung ihres Schirmes den Kopf schütteln. Schon verrückt, dass ihr noch immer so viel daran lag, dass jeder Teil ihrer Garderobe haargenau zum anderen passte. Nein, mit einem x-beliebigen Schirm würde sie sich beim Musikfestival in Avignon nicht blicken lassen. Der weiße Schirm mit seinen schwarzen und orangefarbenen Punkten war ohnedies schon ein Kompromiss und würde noch am ehesten zu ihrer Garderobe passen, die sie in den letzten Tagen genauso sorgfältig für diese Reise ausgewählt hatte, wie sie das am Vorabend eines jeden einzelnen Arbeitstages ihres langen Berufslebens getan hatte. Nur auf diese Weise hatte sie sich für den Ansturm all jener Schrecknisse und Abenteuer gerüstet gefühlt, die einem begegneten, wenn man im Kommissariat des 4. Arrondissements in Paris zeit seines Lebens offiziell die Sekretärin des Chefs, inoffiziell aber jene Person war, die so manchen scheinbar unlösbaren Mordfall aufgeklärt und dafür über die Grenzen des Dienstortes hinaus Anerkennung gefunden hatte. Dass für diese Position nun, da sie in Pension gegangen war, rasch ein Ersatz gefunden werden konnte, war kaum anzunehmen. Immerhin hatte sie sich diese in vierzig Berufsjahren peu à peu erarbeitet. Ihr erster Chef, Kommissar Mordent, hatte in einer Zeit, in der die Stellung eines Kommissars noch ausschließlich Männern vorbehalten war, rasch ihre besonderen Fähigkeiten erkannt und sie nach Kräften gefördert. Jeder in ihrer Dienststelle wusste, dass es aussichtslos war, einen auch nur annähernd gleichwertigen Ersatz für sie zu finden. Würde der Eiffelturm auswandern, könnte man diesen schließlich auch nicht so mir nichts, dir nichts ersetzen.

Apropos Eiffelturm. Direkt vor ihr hatte sich soeben ein Mann aufgebaut, der sie an das berühmte Wahrzeichen ihrer Heimatstadt erinnerte, denn er überragte all die Menschen um sie herum um Haupteslänge. Obwohl sein weißer Anzug bei näherer Betrachtung ein wenig ramponiert wirkte, bot er mit seinem hageren, von feinen Falten durchzogenen Gesicht und seinem langen, silberweißen Haar, das er im Nacken zurückgebunden hatte, einen interessanten und eleganten Anblick.

Jetzt hob er seinen Zeigefinger und richtete ihn direkt auf Florence. „Dieser Platz ist einem Pianisten vorbehalten, Madame. Ich darf Sie bitten, ihn für mich frei zu machen.“

Florence musste laut lachen. „Monsieur, Sie glauben doch nicht, dass hier im Augenblick irgendjemand an einer Beethoven-Sonate interessiert sein könnte. In fünfzehn Minuten muss ich zu meinem Zug und dann wird der Platz für Sie frei sein und Sie können den ganzen Tag hier sitzen und Ihr Talent demonstrieren.“

„In fünfzehn Minuten, Madame, muss ich auch zum Zug, aber ich bin gerade durch halb Paris gerannt und muss mich sofort setzen, sonst klappe ich zusammen. Dieser verdammte Streik …“

Florence unterdrückte das Mitleid, das sie beim Anblick der leicht schwankenden Gestalt erfasst hatte. „So wie Sie sich halten, Monsieur, werden Sie tatsächlich nicht lange stehen können. Also – Beine etwas weiter auseinander, Fersen und Zehenballen fest gegen den Boden drücken, Schultern zurück und ruhig aus- und einatmen!“

Ihre klare, dunkle Stimme, in der ein Hauch von Amüsement mitschwang, verfehlte die gewohnte Wirkung nicht. Es war, als hätte sie ihrem Gegenüber einen Anker zugeworfen, denn schon folgte er ihren Anweisungen und schien sogleich etwas fester und entspannter zu stehen. Florence öffnete ihre Tasche, nahm eine kleine Plastikdose heraus und überreichte ihm einen Riegel aus Trockenfrüchten, Haferflocken und Sesam. „Stärken Sie sich ein wenig, Monsieur! Das Zeug ist selbstgemacht und wird Ihnen guttun.“ Mit einem gemurmelten „Merci, Madame“ nahm er die Gabe in Empfang, biss sofort hinein, und als er sich gleich darauf in Richtung Bahnsteig entfernte, lag tatsächlich ein kleines Lächeln auf seinen Lippen. Sie blickte ihm nach, bewunderte seinen teuer aussehenden Koffer aus rötlichem Leder und dachte sich, dass es doch gut gewesen sei, ihren Platz zu behaupten. Schließlich hatte sie schon eine umständliche Anreise hinter sich, war nicht mehr die Jüngste und eine Vertreterin des zarteren Geschlechts, auf das Männer nun einmal Rücksicht zu nehmen hatten.

Als sie eine gute halbe Stunde später im Schnellzug Richtung Avignon Platz genommen hatte und die Landschaft Frankreichs in verwischten Farbtönen an ihr vorbeiflitzte, konnte sie endlich entspannt aufatmen. Wie sehr hatte sich das Zugfahren doch seit ihrer Kindheit verändert! In den Fünfzigerjahren war sie jeden Sommer mit dem Zug zu ihrer Oma in das zu jener Zeit noch idyllische Montfermeil gefahren. Damals konnte man noch alle Fenster öffnen, um sich den Fahrtwind um die Nase wehen zu lassen. In nostalgische Kindheitserinnerungen versunken, nahm sie ihre Mitreisenden erst allmählich wahr. Eine langweilige Bande schien das zu sein. Fast jeder hatte Kopfhörer auf und die Augen auf irgendein elektronisches Gerät geheftet. Nur das junge Mädchen ihr direkt gegenüber, eine ganz reizende Elfe, las altmodisch in einem Buch. In ihrer schulterfreien Bluse würde sie sich bestimmt noch eine Erkältung holen, dachte sich Florence in einer Aufwallung mütterlicher Gefühle, denn die Klimaanlage lief auf höchsten Touren. Natürlich trug auch die Elfe Kopfhörer, vermutlich nur als Schutz vor dem störenden Geschwätz anderer Passagiere. Die Kopfhörer waren himmelblau und halb in die Stirn gerutscht, denn am Kopf thronte ein mit einem Gummiband zusammengehaltener Knoten aus widerspenstigen dunklen Locken.

Gerade jetzt schaute die Elfe von ihrem Buch auf und musterte Florence. Als diese ihren Blick erwiderte und lächelte, überzog sich das blasse Gesicht mit einem Hauch von Röte und sie nahm ihre Kopfhörer ab.

„Entschuldigen Sie, Madame“ – ihre Stimme klang robuster, als Florence es von einer Elfe erwartet hatte – „ich musste einfach Ihre Jacke bewundern. So etwas Elegantes habe ich auf einer Fahrt von Paris nach Avignon schon lange nicht mehr gesehen. Die meisten Reisenden hier tragen furchtbar langweilige Klamotten.“ Sie blickte an sich hinunter. „Ich ja auch, wie ich zugeben muss. Aber so wie Sie sich kleiden, das finde ich viel interessanter.“

„Sie interessieren sich für Mode?“ Florence schnappte nach dem ersten Gesprächshäppchen. „Habe ich vielleicht eine zukünftige Modeschöpferin vor mir?“

„Oh nein“, die Elfe klang beinahe entrüstet, „dazu habe ich bestimmt kein Talent, und ehrlich gesagt interessiere ich mich normalerweise auch nicht besonders für Mode.“ Florence vermeinte aus dieser Antwort ein wenig Enttäuschung herauszuhören und folgte dem Impuls, der jungen Dame etwas Freundliches zu sagen.

„Wenn ich in meiner Jugend so eine hübsche Mademoiselle wie Sie gewesen wäre, hätte ich es wohl auch nicht nötig gehabt, mir allzu viele Gedanken über meine Garderobe zu machen.“

Jetzt errötete die Elfe gleich noch einmal. „Sehr freundlich von Ihnen, Madame, aber bei einer Musikstudentin kommt es weniger auf die Schönheit als auf den Fleiß und das Können an.“

Florence folgte dem Blick der jungen Frau in Richtung Gepäckablage, wo ein großer, knallroter und seltsam geformter Koffer lag. „Meine Trompete“, erklärte die Elfe, „ich habe gerade mein letztes Studienjahr am Pariser Konservatorium abgeschlossen.“

Florence freute sich. Ihre allererste Reise zu einem Festival für klassische Musik hätte nicht besser beginnen können. Dass sie schon im Zug einer echten Musikerin begegnete, war ein gutes Omen für ein Unternehmen, das den Auftakt zu einer neuen Lebensphase bilden sollte. Eigentlich hatte ihre Begegnung mit diesem Möchtegern von Pianisten am Pariser Bahnhof auch schon ganz gut dazu gepasst.

Sie ließ ihrer Neugier freien Lauf und begann die junge Dame nach ihren Interessen und Lebensumständen auszufragen. Weil sie dabei jene superfreundliche Verhörtechnik anwandte, mit der sie im Kommissariat oft den verstocktesten Übeltätern ihre Geheimnisse entlockt hatte, dauerte es nicht lange, bis sie bald so ziemlich alles über die Trompete spielende Elfe wusste, die Chantal Florentin hieß und aus Avignon stammte.

Madame Beaumarie und die Melodie des Todes

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