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Nach dem Treffen mit ihrem früheren Kollegen schlug Florence zunächst automatisch den Weg zum Ciel Bleu ein. Es musste zehn Uhr vormittags sein und die Aufbruchsstimmung von heute Morgen hatte sie noch nicht verlassen. Ganz im Gegenteil, ihr Forscherdrang war nach dem, was sie erfahren hatte, erst recht angestachelt. Sie durchquerte gerade ein stilles Gässchen, als etwas Seltsames passierte. Auf einmal hatte sie den Geruch des Meeres in der Nase. Dabei lag Avignon bestimmt nicht am Meer. War es die Rhône, die am Morgen eine Sehnsucht nach dem Meer in ihr geweckt hatte? Den Hinweisen ihrer Nase folgte sie jedoch gerne, denn die brachten sie in der Regel auf eine interessante Spur. Darin unterschied sie sich gar nicht so sehr von Lambert. Wie weit war es von Avignon bis ans Meer? Sie könnte den Chauffeur des Ermordeten ausfindig machen und ihn fragen, ob er sie hinfahren würde. Der war jetzt vermutlich arbeitslos und würde den Auftrag vielleicht sogar annehmen. Nun ja – eines nach dem anderen.

Jedenfalls wollte sie jetzt noch nicht zurück. Sie erinnerte sich an den Park, an dem sie gestern vorbeigekommen war. Vielleicht war das große Schachspiel frei und sie könnte die Figuren benutzen, um sich einen Überblick über die Personen zu verschaffen, die in einer Beziehung zu Monsieur Lemercier gestanden hatten. Sie hatte schon oft die Szenerie eines Kriminalfalls auf einem Schachbrett nachgestellt, ganz intuitiv und ohne sich dabei an die Regeln zu halten. Sie hatte nie Zeit gehabt, das Spiel zu erlernen, hatte es aber immer wieder reizvoll gefunden, die Protagonisten eines Falles einer Schachfigur zuzuordnen und sie damit noch auf eine andere Weise in ihrer Vorstellung zu verankern.

Als sie den kleinen Park erreichte, stellte sie fest, dass sie diesmal Glück hatte. Die Schachfiguren schienen sie schon zu erwarten und waren rasch aufgestellt. Es war, als würde sie eine unsichtbare Hand zur jeweils passenden Figur führen. Der weiße König in der Mitte auf E5 stand natürlich für den verstorbenen Dirigenten. Die schwarze Dame verkörperte Madame Petermann, die Konzertmeisterin. Sie landete auf C3, drei Felder ober- oder unterhalb von ihm, je nachdem, von welcher Seite aus man das Schachbrett betrachtete. Für Eliette Lemercier wanderte die weiße Dame direkt an die Seite des Königs: F5. Auch der Pianist, Bruno Amontero, musste von einer weißen Figur dargestellt werden. Florence wählte den weißen Springer, der sich nun auf gleicher Höhe mit König und weißer Dame befand: G5. Was war mit dem geschassten Trompeter? Er rückte als schwarzer Läufer gefährlich nahe an die weiße Dame heran und wollte ins Feld direkt hinter ihr: G6. Florence fühlte sich nicht wohl bei diesem Zug, aber es gelang ihr nicht, die Figur an einer anderen Stelle zu platzieren.

Jetzt noch der Cellist, dessen Saite fehlte. Sie entschied sich für einen einfachen Bauern in Weiß. Momentan war noch jeder verdächtig, aber es war doch unwahrscheinlich, dass er der Täter war. In der Nähe der Konzertmeisterin auf D2 konnte es passen.

Wen hatte sie bisher im Umkreis von Lemercier noch kennengelernt? Ach ja, seinen Chauffeur. Die Vertreter dieser Zunft wussten meist sehr viel über die Leute, für die sie arbeiteten, deshalb musste auch er mit ins Spiel. Auf C7 befand er sich in einem gewissen Abstand vom zentralen Geschehen, hatte jedoch einen guten Überblick. Jetzt noch der große Unbekannte! Wie immer wählte sie einen schwarzen Turm für ihren Joker und stellte ihn auf A8, in eine der vier äußersten Ecken des gesamten Feldes.

Das war es wohl vorerst. Florence stellte sich vor ihre Figuren und betrachtete sie. Gerade als ihr noch der verärgerte Theaterregisseur als weiterer Protagonist einfiel, ertönte von hinten eine Männerstimme:

„Das ist ein Schachspiel und kein Kinderspielzeug. Stellen Sie die Figuren wieder richtig hin. Das ist unser Platz.“

Florence drehte sich um und stand zwei jüngeren Männern gegenüber, die sie anstarrten.

„Die halten mich wohl für eine verrückte Alte, die die Schachfiguren als Spielzeug betrachtet“, amüsierte sich Florence. Sie starrte eine Weile zurück und breitete dann ihre Arme mit geöffneten Handflächen aus: „Ich möchte es aber im Moment so haben und Sie beide werden sich noch gedulden müssen, bis ich so weit bin.“

Der eine machte einen Schritt in ihre Richtung, der andere hielt ihn jedoch zurück: „Lass die Alte, wir gehen noch eine rauchen!“ Er wandte sich an Florence: „Aber in zehn Minuten sind wir zurück und dann sind Sie verschwunden.“

Florence blieb einfach so stehen, wie ein Fels in der Brandung, vor dem sich die Wellen zurückzogen. Sie nahm den vorherigen Gedanken wieder auf, schnappte sich den schwarzen König und stellte ihn als Vertreter des ihr noch unbekannten Theaterregisseurs in gehörigem Abstand zum weißen König auf: E1. Sie war sich nicht sicher, ob das passte. Von ihm würde sie sich erst ein Bild machen müssen.

Noch einmal ging sie drei Schritte zurück und betrachtete die gesamte Stellung. Nun konnte sie diese nicht mehr vergessen. Die Figuren würde sie ab nun in ihrem Kopf beliebig hin- und herschieben können. Für Hypothesen war es zu früh. Sie stellte die Figuren in ihre Ausgangsstellung zurück und schlenderte langsam zum Ausgang. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete sie die beiden Männer, die rauchend auf einer Bank saßen und ihr scheinbar keine weitere Beachtung schenkten.

Vor den Toren des Parks war einiges los. Die Stadt war endgültig erwacht und summte und brummte vor Tatendrang und Lebenslust. Die Menschen in ihrer leichten Sommerkleidung schienen alle bester Laune. Ausgerechnet angesichts dieses heiteren Anblicks überkam Florence auf einmal eine melancholische Stimmung. „Und der arme Monsieur Lemercier liegt tot in einem engen, dunklen Kasten und alle Musik ist auf ewig für ihn verstummt“, musste sie denken. Es war doch etwas anderes, wenn man in einem Fall ermittelte, zu dessen Beteiligten man keinerlei persönliche Beziehung hatte, oder ob es sich bei dem Mordopfer um eine geschätzte Persönlichkeit handelte. Dennoch, an diesem Vormittag hatte sie sich schon genug mit diesem Thema beschäftigt. Sie wollte nicht ins Grübeln kommen. Etwas Ablenkung würde ihr guttun. Also noch immer nicht zurück in ihr Zimmer. Sie konnte schließlich tun und lassen, was sie wollte. Sie würde jetzt noch einen Abstecher zur Buchhandlung von Monsieur Florentin machen, immerhin hatte er sie dazu eingeladen. Es konnte nicht allzu weit bis dorthin sein. Alles, was sich im inneren Kreis dieser Stadt befand, schien in relativ kurzer Zeit erreichbar zu sein. Dennoch musste sie eine Weile suchen, bis sie das schöne schwarze Geschäftsportal in einer der Gassen fand, die zum Place Pie führten.

Also, wenn das kein Paradies für Bücherfreunde war! Florence war in eine kühle, aber gut ausgeleuchtete Höhle eingetaucht. Die wandhohen Regale zogen sich durch mehrere Räume eines alten Stadthauses. Der erste Raum war der größte. In dessen Mitte prangte ein großer, schwerer Tisch, auf dem in wohlgeordneten Reihen antiquarische Bücher zusammen mit Neuerscheinungen aufgelegt waren. Ein kleineres Tischchen, das offensichtlich als Kasse diente, befand sich diskret im Hintergrund. Eine Dame in den besten Jahren – schwarze, hoch aufgetürmte Haare, eine elegante türkisfarbene Seidenbluse, sehr große türkisfarbene Brille – saß dahinter und blickte in Florences Richtung. „Der entgeht wohl nichts.“ Florence fühlte sich beobachtet und wandte sich dem Anschlagbrett in der Nähe des Eingangs zu. Dort hing auch ein Plakat, das den heutigen Opernabend ankündigte.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Die Stimme der Dame hinter der Kasse klang ein wenig schrill, aber nicht unfreundlich.

„Im Augenblick nicht, ich sehe mich nur ein wenig um.“

Florence machte einen kurzen Rundgang durch die Buchhandlung und trat dann an den Büchertisch im vorderen Raum. Dort gab es auch Bücher über Barockmusik und Barocktheater, einige antiquarisch, die meisten aber ganz neu. Sie setzte sich auf einen mit brüchigem Leder bezogenen Stuhl und entdeckte eine Biografie über Lemercier. Beim Durchblättern tauchten eine Reihe von Fotos auf. Eines war vor drei Jahren aufgenommen worden und zeigte einige ihr mittlerweile bekannte Personen. „Monsieur Stephan Lemercier samt Ehefrau, Töchtern und deren Familien“ lautete die Unterschrift unter diesem Bild. Neben einer der Töchter stand ein Mann, der seinen Arm auf die Schulter von Madame Lemercier gelegt hatte. Ohne Zweifel war das der hinausgeworfene Trompeter. Steckte etwa ein Familiendrama hinter diesem schrecklichen Mordfall? Vermutlich wusste die Polizei noch gar nichts von der Verbindung des Trompeters zur Familie des Mordopfers. Eine Beobachtung, die Florence demnächst dem Kommissar oder seiner Stellvertreterin mitteilen würde.

Sie nahm das Buch und ging damit zu der Dame an der Kasse. Sollte sie diese nach Monsieur Florentin fragen? Bisher hatte sie ihn noch nirgends entdecken können.

„Ich möchte das gerne kaufen!“ Die zuvor strenge Miene der Verkäuferin hellte sich auf. „Eine gute Wahl, Madame! Warten Sie bitte einen Augenblick, ich zeige Ihnen noch ein anderes reizendes Büchlein über den Leiter des Musikfestivals.“ Konnte es sein, dass sie noch nichts von seinem Tod wusste? Das würde bedeuten, dass Monsieur Florentin heute noch gar nicht im Geschäft gewesen war, denn ansonsten hätte er doch bestimmt von den gestrigen Ereignissen berichtet. Schon war die Dame nach hinten verschwunden und beinahe gleichzeitig öffnete sich die Eingangstür und Monsieur Florentin betrat das Geschäft.

„Ah, Madame Florence, was für eine schöne Überraschung! Ich habe heute schon mit Chantal gefrühstückt. Ich musste doch wissen, ob meine Tochter die gestrigen Aufregungen gut überstanden hat. Die heutige Opernaufführung soll jedenfalls nach wie vor am Abend stattfinden.“

„Wie schön für Chantal! Dieses Engagement ist doch wichtig für sie.“

„Da haben Sie recht, Madame. Haben Sie schon gehört, dass Bruno Amontero, der bekannte Pianist, als Tatverdächtiger festgenommen wurde?“

„Ja, das habe ich.“ Sie überlegte, ob sie ihm von dem Gespräch mit Lambert berichten sollte, aber die Verkäuferin war schon wieder mit einem kleinen Buch in der Hand zurück.

„Schauen Sie, Madame! Hier hat ein Mitglied des Orchesters all die Anweisungen, Hinweise und Erklärungen aufgeschrieben, die Monsieur Lemercier seinen Musikern während der Probenarbeiten gibt. Er hat eine sehr originelle und bildgewaltige Ausdrucksweise. Ich selbst fand dieses Buch sehr interessant und amüsant.“

Monsieur Florentin mischte sich auf der Stelle ein. „Darf ich vorstellen, Madame Florence. Das ist Monique, meine Schwester, nicht nur eine Bücherenthusiastin, sondern auch eine begabte Malerin.“

„Ja“, lächelte diese, „und sehr stolz auf ihre Nichte Chantal, denn sie ist die erste Musikerin in der Familie.“

„Enchantée!“ Florence deutete auf die Bücherwände ringsherum. „Dann sind Sie hier als Bücherfreundin ja mitten im Paradies.“

In diesem Augenblick läutete bei Florence das Telefon. Sie blickte auf die Nummer und entschuldigte sich kurz. „Oh. Aha. Ja, ich komme, in einer halben Stunde kann ich es schaffen.“

Das Gespräch, das sie mit leiser Stimme führte, dauerte keine zwei Minuten. Monsieur Florentin und seine Schwester hatten sich ebenfalls flüsternd unterhalten.

„Es tut mir sehr leid. Ich hätte mich gerne noch länger in Ihrem wunderbaren Geschäft hier umgesehen, Monsieur Florentin, aber ich muss zur Polizeistation!“

Als Florence seinen erschrockenen Gesichtsausdruck sah, fügte sie hinzu: „Nein, nein, ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Aus irgendeinem Grund braucht man mich als Zeugin.“

Das war zwar nur die halbe Wahrheit, aber Florence hielt sich an das ihr von Lambert auferlegte Schweigegebot.

„Da enttäuschen Sie mich, Madame. Ich freute mich so über Ihren Besuch und hätte gehofft, noch ein wenig länger Ihre Anwesenheit genießen zu können.“ Die Stimme von Monsieur Florentin war derart erfüllt von tiefstem Bedauern, dass ihn seine Schwester neugierig und amüsiert anblickte.

„Ich habe eine Idee!“ Er gab noch nicht auf. „Ich fahre Sie mit meinem Peugeot Mini ins Kommissariat. Das ist mein Stadtauto für kleine Lieferungen. Das schlängelt sich recht brav durch unsere schmalen Straßen und wir sind in fünf Minuten dort. Zu Fuß gehen Sie von hier aus an die zwanzig Minuten und das ist bei der Hitze nicht ratsam.“

Florence war an diesem Morgen schon genug herummarschiert und nahm das Angebot dankend an. Während ihr Kavalier noch ein paar dringende geschäftliche Fragen mit seiner Schwester zu besprechen hatte, zog sie sich mit den beiden Büchern an den großen Tisch zurück und begann sich in die Persönlichkeit des verstorbenen Dirigenten zu vertiefen. Diese schien recht widersprüchliche Züge aufzuweisen.

Eine Viertelstunde später saß sie in einem kleinen roten Peugeot Cabriolet neben Monsieur Florentin und ließ sich auf Wegen, die nur einem Einheimischen zugänglich waren, zum Polizeikommissariat führen. Einmal musste er sogar aussteigen und vorübergehend einen Poller in die Straße versenken, der die Autos am Weiterfahren hindern sollte. Als Florence sich von Florentin verabschiedete, versprach sie, vor der Opernaufführung am Abend mit ihm essen zu gehen.

Madame Beaumarie und die Melodie des Todes

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