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Madame Robert hatte den Frühstückstisch im Innenhof gedeckt. Am Morgen war es dort noch einigermaßen kühl, eine hohe Platane spendete Schatten und das niedrige Holzpodest, auf dem die Tische standen, wurde von mehreren mit Lavendel und Rosen bepflanzten Blumenkästen gesäumt. Schon beim Aufstehen hatte Florence sich vorgenommen, die sprudelnde Quelle von Madame Roberts Wortreichtum durch ihre eigene morgendliche Schweigsamkeit einzudämmen. Es stellte sich jedoch heraus, dass Madame ohnedies mit den Frühstücksvorbereitungen beschäftigt war, die sie – wie es aussah – ohne zusätzliche Hilfe bewältigte. Florence war jedenfalls der erste Gast und durfte sich einen Platz aussuchen. Sie konnte es sich dennoch nicht verkneifen, ihrer quirligen und freundlichen Gastgeberin, die sie am Vorabend nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte, eine Frage zu stellen.

„Wie viele Zimmer vermieten Sie denn eigentlich, Madame?“

„Gute Frage! Das hängt davon ab, ob gerade einer meiner fünf Söhne zu Besuch ist und von mir verwöhnt werden will. Wenn alle fünf da sind, kann ich natürlich nichts vermieten, aber meine Söhne wissen, dass sie mir das früh genug ankündigen müssen. Gleich nach Ihrer Abreise kommt Pascal, mein Jüngster, und dann ist Ihr schönes Dachzimmer schon mal weg. Sie müssen wissen, Madame, dass dieses Zimmer einmal ein Teil unserer großen Maisonnette war. Nach dem Tod meines Mannes habe ich alles umbauen lassen und bin in die Wohnung hinuntergezogen, in der es früher eine Concierge gab. Gott sei Dank hat mein Alain – Gott hab ihn selig – gut verdient und ich habe als pensionierte Lehrerin auch eine Rente. Ich habe schon immer von einem kleinen Hotel geträumt und diesen Traum habe ich mir mit meinem B&B erfüllt. Es ist doch schön geworden, nicht wahr?“

Florence beeilte sich, ihr zuzustimmen. Nun wollte sie wirklich in Ruhe ihren Kaffee trinken. Madame Robert, an diesem Morgen mit rüschenbesetzter Schürze, verschwand in Richtung Küche, war aber bald darauf wieder da. Sie schob einen Servierwagen vor sich her, der mit Köstlichkeiten geradezu überladen war. Als Erstes stellte sie ein Tablett auf den Tisch, auf dem sich eine ganze Kompanie kleiner Gläser mit Konfitüren versammelt hatte, die mit handgeschriebenen Etiketten versehen waren. Es folgten eine große Kanne Kaffee, ein Krug Milch, Brot, Butter, Schinken, Käse, frische Feigen und Aprikosen und schließlich ein großer Korb mit verführerisch duftendem Brot und Brötchen. All das wurde von einem weiteren Wortschwall Madames begleitet, die jede einzelne Marmelade und deren Herkunft erklärte. Einer ihrer Söhne besaß nämlich ein Landhaus in der Nähe von Lourmarin, und die Schwiegertochter, die in ihren Augen sonst nur über wenige Talente verfügte, hatte alles selbst hergestellt.

Glücklicherweise musste sie ihre Erklärungen abrupt abbrechen, weil ein weiteres Gästepaar erschienen war, das an einem der Nebentische Platz nahm.

Florence atmete auf. Sie war froh, dass sie den Tisch für sich alleine hatte, und widmete sich dem Studium der ihr dargebotenen Delikatessen. Dieses Frühstück unterschied sich deutlich von dem, was sie sonst gewohnt war. Die Croissants, die sie in Paris alltäglich am Weg zur Arbeit im Café Deux Artistes samt einem Café au lait zu sich nahm, fehlten hier gänzlich. Das Frühstück war jedenfalls eine gute Gelegenheit, auch diesbezüglich etwas Neues auszuprobieren, denn schließlich hatte sie sich für ihr neues Dasein die größtmögliche persönliche Flexibilität verordnet.

Nach dem Frühstück machte sie sich unverzüglich auf den Weg in die Stadt. Es war noch früh und in den verwinkelten Gassen ging es ruhig zu. Die beiden berühmtesten Sehenswürdigkeiten von Avignon – den Papstpalast und die Brücke – ließ sie vorerst links liegen und strebte stattdessen dem Ort zu, an dem das erste ihrer Konzerte stattfinden sollte. Wie auch sonst in ihrem Leben musste sie sich zu allem und jedem ihren höchst persönlichen Zugang verschaffen. „Dieses Kind hat seinen ganz eigenen Kopf“, hatte die Lehrerin schon nach dem zweiten Schultag zu Florences Mutter gesagt – und das war nicht wirklich freundlich gemeint gewesen. Sie war nur die Erste einer Reihe von Erziehungspersonen, die versucht hatten, den Kopf des ungewöhnlichen Kindes nach eigenen Vorstellungen zurechtzurücken. Erfolglos, wie sich herausstellte.

Dieser Kopf trug heute eine weiße Schirmkappe über widerspenstigen, rötlichbraunen Locken. Es war Juli und Florence musste sich vor der Sonne schützen. Schon gestern Abend hatte sie sich dazu das fliederfarbene Leinenkleid herausgesucht, das in einem gewissen Gegensatz zu der sportlichen Kopfbedeckung und ihren robusten Sandalen stand. Florence liebte Gegensätze, sie hatten etwas Erfrischendes und Anregendes.

Ausgerüstet mit einem guten Orientierungssinn und einem Stadtplan marschierte sie beschwingt in Richtung ihres ersten Zieles und schon nach fünfzehn angenehmen Gehminuten trat sie aus einer der kühlen und schattigen Gassen auf einen Platz, den das Sonnenlicht gerade frisch erobert hatte. Was für ein Anblick! Das musste das berühmte Licht des Südens sein! Es sah aus, als seien die Häuserfassaden, die Bäume und die Kirche mit einem Gespinst von allerfeinstem, leuchtendem Himmelsstaub überzogen.

Sie gab sich der Betrachtung dieser göttlichen Inszenierung hin und entdeckte bald ein rot-goldenes Plakat, das an der Kirchentür prangte. Hier hatte sich niemand getraut, es zu überkleben, denn hier sollte heute Abend das Eröffnungskonzert stattfinden. Ob man jetzt schon in die Kirche hineinkonnte? Nein, das Tor ließ sich nicht öffnen. Gerade als sie sich wieder abgewandt hatte, drehte sich knarrend ein Schlüssel. Neugierig wandte sie sich um. Die Tür war offen und vor ihr stand ein mittelgroßer Mann in einem kurzärmeligen, blauweiß-karierten Hemd und langen hellen Baumwollhosen. Ein dichter Haarkranz umgab eine kleine Glatze und auf seiner Nase saß eine sehr blaue und sehr modische Brille, durch die er Florence überrascht, aber freundlich anblickte.

„Bonjour, Madame! Kommen Sie schon zur Probe? Sind Sie ein Mitglied des Orchesters?“

Florence überlegte rasch. Die Gelegenheit, ihrem Lieblingsdirigenten beim Proben zuzuschauen, durfte sie sich nicht entgehen lassen. Als Orchester- oder Chormitglied konnte sie sich nicht ausgeben, aber ob sie als eine ganz gewöhnliche Besucherin zugelassen würde? Chantal fiel ihr ein und blitzartig entschloss sie sich zu einer Notlüge.

„Ich bin wohl ein wenig zu früh dran. Nein, Orchestermitglied bin ich nicht. Ich komme aus Paris und treffe hier eine meiner Musikschülerinnen. Sie spielt zum ersten Mal in diesem Orchester mit und hat mich zur Probe eingeladen.“

Erst jetzt bemerkte Florence ein kleines Kreuz an der Brusttasche ihres Gegenübers. Dann gehörte er wohl nicht zu den Leuten vom Festival, sondern war ein Vertreter der Kirche.

„Aha! Sie wissen aber schon, dass Sie um einiges zu früh dran sind? Die Probe beginnt ja erst um zehn. Da haben Sie noch mehr als eine Stunde Zeit!“

„Ja, das weiß ich. Ich kenne mich in Avignon nicht aus, daher wollte ich erst meinen Weg hierher finden und dann noch in der Nähe einen Kaffee trinken, mein Frühstückskaffee war mehr als schwach. Könnten Sie mir vielleicht ein Lokal empfehlen?“

„In unmittelbarer Nähe leider nicht. Einen akzeptablen Kaffee bekommen Sie bei Patrick und der ist etwa zehn Gehminuten von hier entfernt. Sie können aber gerne auch in unserem kleinen Pfarrsaal einen trinken. Bei uns bekommen Sie einen ausgezeichneten Kaffee. Sie haben Glück: Ich bin nicht nur der Pfarrer dieser kleinen Gemeinde, ich bin auch Kaffeeliebhaber und als solcher habe ich eine Espressomaschine angeschafft. Ich lade Sie ein.“

Florence hatte ein strategisches Problem. Dass sie dem Pfarrer eine Lüge aufgetischt hatte, war ihr bereits unangenehm. Wenn sie seine Einladung annahm, musste sie ihn weiterhin anlügen. Wenn sie aber jetzt wegging, würde sie womöglich nicht mehr zur Probe in die Kirche eingelassen werden. Nach einem kurzen Stoßgebet akzeptierte sie die Einladung des Pfarrers. Während sie an seiner Seite das prächtige Bauwerk umrundete, begann sie ein Gespräch, denn sie wollte ihn von weiteren Fragen zu ihrer Person abhalten.

„Die Kirche ist wunderschön“, sagte sie, „und auch der Platz davor – so still und friedlich.“

„Das ist er aber nur heute“, antwortete der Pfarrer. „Monsieur Lemercier hat nämlich darauf bestanden, dass die ganze Umgebung für den Autoverkehr gesperrt wird. Wie er das bei der Stadtverwaltung durchgesetzt hat, ist mir ein Rätsel. Die Anrainer haben jedenfalls keine Freude, wenn sie nicht zufahren können. Der Platz ist allerdings viel schöner ohne Autos. Na ja, solange neben dem Chauffeur des Dirigenten auch noch mir und meinem alten Saab die Zufahrt gestattet ist, soll es mir recht sein. Ich bin nämlich ein Saab-Fan, müssen Sie wissen.“

Er deutete auf das türkisfarbene Prachtexemplar eines schon in die Jahre gekommenen Autos, das neben einem grauen Mercedes schräg gegenüber der Kirche geparkt war.

Florence schaute ihn verwundert an: „Eine recht ungewöhnliche Leidenschaft für einen geistlichen Herrn, wenn ich so sagen darf!“

„Da haben Sie schon recht, Madame. Ich habe den Wagen wirklich sehr günstig von meinem Bruder kaufen können. Der hat die Autowerkstatt unseres Herrn Papa geerbt. Der Chauffeur von Lemercier war von diesem Modell auch ganz angetan.“

Florence nickte. „Das kann ich mir vorstellen. So einen bildschönen Wagen sieht man heute nur noch selten.“

Sie waren kurz stehen geblieben und betrachteten das Auto. Als sie weitergingen, kam Florence wieder auf den Dirigenten zu sprechen. „In einem Interview hat Lemercier einmal gesagt, dass er nicht nur die Musik, sondern auch die Stille sehr schätzt. Wahrscheinlich hat er sich deshalb eine autofreie Zone um die Kirche herum gewünscht. Bei ihm darf ja auch erst am Ende eines Konzertes und nicht zwischen den Stücken geklatscht werden. Ich habe schon einmal erlebt, dass er einen hustenden Mann im Publikum beschimpft hat.“

„Das würde zu ihm passen.“ Der Pfarrer nickte zustimmend. „Von mir hat er verlangt, dass ich ihm für die Dauer der Konzerte die Sakristei samt Schlüssel zur Verfügung stelle, damit er sich in aller Stille auf jede Aufführung vorbereiten kann. Ich habe für die Zeit der Proben und der Aufführungen alle Messen in die Taufkapelle verlegen müssen. Ach ja, und die Burschen, die vor der Kirche gerne mit ihren Skateboards auf- und abfahren, hat er auch erfolgreich in die Flucht geschlagen.“

Der Pfarrsaal befand sich hinter der Kirche. Der Zugang führte durch einen imposanten Innenhof samt Kreuzgang aus dem 14. Jahrhundert, der jetzt aber seltsam aus der Achse geraten wirkte. Wie der Pfarrer erklärte, habe einer seiner Vorgänger unmittelbar nach dem Zweiten Vatikanum diesen schönen Ort durch einige Zubauten, die dem Gemeindeleben nützlich waren, verschandelt. Monsieur Lemercier, ein Ästhet von echtem Schrot und Korn, habe ihn seit seiner Ankunft hier schon mehrmals aufgefordert, diese Bausünden wieder rückgängig zu machen. Er renne da bei ihm prinzipiell offene Türen ein, habe aber keine Ahnung, wie kostenintensiv und schwierig ein solches Unternehmen wäre.

All das erzählte der Pfarrer Florence, während er für sie an einer großen, sehr professionell wirkenden Espressomaschine ein Tässchen Kaffee zubereitete. Allein dessen Geruch ließ die Kaffeeliebhaberin in Verzückung geraten. Zuvor hatte der Pfarrer ihr gezeigt, welche von den beiden weiteren Türen vom Kreuzgang aus ins Kircheninnere und welche in die Sakristei führte. Der Dirigent, der sich schon seit einer Viertelstunde in der Sakristei aufhielte, dürfe dort keinesfalls gestört werden.

Florence trank in Ruhe ihren Kaffee und genoss die Situation. Alles hatte sie erwartet, nur nicht, dass sie gleich zu Beginn ihrer Reise Bekanntschaft mit einer Musikerin machen und dann vom Pfarrer der Kirche, in der das Eröffnungskonzert stattfinden sollte, mit Kaffee bewirtet werden würde.

Eine halbe Stunde später saß sie in Erwartung der Orchesterprobe in der Kirche. Sie hatte sich durch die vom Pfarrer bezeichnete Tür hineingeschlichen, sich hinter eine dicke Säule gesetzt und hoffte, dass man sie dort vom Altarraum aus nicht sehen würde. Bis zum Beginn der Probe waren es noch zehn Minuten und vor dem Altar, wo bereits alles für das Orchester bereitstand, begann ein geschäftiges Treiben. Lichter wurden ein- und ausgeschaltet, Instrumente ausgepackt, Notenpulte und Sessel hin- und hergerückt.

„Nein“, überlegte Florence, „hier wird mich schon niemand bemerken. Hier sind alle viel zu sehr beschäftigt.“

Kaum hatte sie das gedacht, hörte sie hinter sich eine ihr nun schon vertraute Stimme.

„Ich hatte erwartet, Madame, dass Sie heute als Allererstes unseren berühmten Papstpalast besichtigen würden – und nun treffe ich Sie hier in diesen heiligen Hallen an.“

„Pssst“, Florence drehte sich zu Chantal um, die unbemerkt und elfengleich hinter ihr aufgetaucht war. „Es ist wohl besser, wenn ich hier niemandem auffalle.“

„Ach, die sind ohnedies alle mit sich selbst beschäftigt. Ich bin ja bei dieser Probe hauptsächlich auch nur Zuhörerin und werde mich in die erste Reihe setzen. Kommen Sie doch auch mit nach vorne!“

„Vielen Dank! Mir gefällt es hier sehr gut. Von hier aus habe ich einen schönen Überblick. Ich muss nicht unbedingt auffallen.“

„Alles klar! Wir könnten uns aber nach der Probe vor dem Eingang der Kirche treffen und vielleicht zusammen ins Zentrum spazieren?“

„Wunderbar!“ Florence freute sich über die Anhänglichkeit der jungen Frau und sah ihr zu, wie sie mit ihrem Instrumentenkoffer am Rücken der vordersten Reihe zustrebte.

Madame Beaumarie und die Melodie des Todes

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