Читать книгу Madame Beaumarie und die Melodie des Todes - Ingrid Walther - Страница 6

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Florence hatte nicht von ungefähr Avignon als Ziel ihrer Reise gewählt. Innerhalb der Landesgrenzen wollte sie schon allein deshalb bleiben, weil sie einer anderen Sprache als Französisch bedauerlicherweise nicht mächtig war, und von einer Reise in den Süden hatte sie schon immer geträumt. Ausschlaggebend war schließlich, dass gerade in diesem Jahr in Avignon erstmals ein kleines, feines Festival stattfinden sollte, das der Barockmusik gewidmet war. Der Initiator dieses Festivals war der berühmte und gefeierte Dirigent Stephan Lemercier. Es war ausgerechnet Lemercier, der vor einigen Jahren mit der konzertanten Aufführung von Händels Oper Xerxes im Pariser Théâtre des Champs-Élysées Florences Leidenschaft für die barocken Klänge geweckt hatte. Lemercier schien sich jedoch mit seinem Konzept eines Barockmusik-Festivals in Avignon bedauerlicherweise nicht nur Freunde geschaffen zu haben, wie Florence den Zeitungen entnommen hatte. Vor allem die Verantwortlichen des bekannten Theaterfestivals, das zur selben Zeit stattfinden sollte, schienen Lemercier als störenden Konkurrenten um die Aufmerksamkeit des Publikums zu betrachten und hatten lange, aber zum Glück vergeblich versucht, das Musikfestival zu verhindern.

Ihre neue Reisebekanntschaft hatte bereits im Zugabteil darauf bestanden, sie zu ihrem Ferienquartier zu begleiten, und ihr davon abgeraten, mit dem Taxi zu fahren.

„Wir fahren zusammen mit dem Bus, Madame“, hatte sie vorgeschlagen, „und dann begleite ich Sie das letzte Stück. Der Fußweg ist nicht lang und beginnt an der Stadtmauer, aber die Taxifahrer kurven gerne durch die halbe Stadt, um möglichst viel Geld aus den Touristen herauszuholen.“

Als sie auf ihrem Weg an einer großen Plakatwand vorbeikamen, blieb Chantal Florentin, die ihren roten Instrumentenkoffer auf dem Rücken trug und einen großen schwarzen Reisekoffer hinter sich herzog, plötzlich stehen.

„Was sagen Sie dazu, Madame? Hier ist kein einziges Plakat vom Barockmusikfestival zu sehen. Das gibt es doch gar nicht!“

Das Festival war mittlerweile zu ihrer gemeinsamen Angelegenheit geworden, denn noch während der Zugfahrt hatte Florence erfahren, dass Chantal für die Aufführung von Marc-Antoine Charpentiers selten aufgeführter Oper Médée nach dem Ausfall einer Trompete als Substitutin verpflichtet worden war. Gemeinsam musterten sie die großen Theaterplakate und entdeckten, dass unter einem ein kleiner Zipfel Rot und Gold hervorlugte. Florence streckte ihre Hand aus und löste ein Stück vom Theaterplakat ab, bis darunter tatsächlich ein rot-goldenes Konzertplakat zum Vorschein kam.

„Was fällt Ihnen ein! Das ist Vandalismus!“

Erschrocken drehten sich die beiden Frauen um. Die strenge Miene des noch recht jungen Polizisten, der unbemerkt hinter ihnen aufgetaucht war, hellte sich beim Anblick der Elfe wieder auf.

„Oh, du bist es, Chantal! Wieder mal zurück in der alten Heimat?“

„Wie du siehst, Pierre.“ Sie setzte eine empörte Miene auf. „Kannst du mir bitte erklären, warum die Plakate für das Barockmusikfestival, bei dem auch ich mitspielen werde, mit diesen Theaterplakaten überklebt wurden?“

Der Polizist errötete und schaute schuldbewusst. Chantals hübsches Gesicht hatte einen verkniffenen und herausfordernden Ausdruck angenommen und ihr Gegenüber beeilte sich mit der Antwort:

„Mit diesem Barockfestival gibt es nur Ärger. Es ist auch so schon genug los in der Stadt wegen des Theaterfestivals, aber diesen Lemercier stört nicht nur der Autolärm, sondern sogar das Geläute der Kirchenglocken während einer Aufführung. Großräumig absperren sollen wir den Platz vor der Kirche, damit eine adäquate Kulisse für die Konzerte geschaffen wird! Er ist eine Nervensäge. Ständig taucht er bei uns auf dem Revier auf und bringt eine Beschwerde vor. Nichts scheint ihm zu passen. Wir hätten sein Event wirklich nicht gebraucht!“

Während Florence sich der Betrachtung der kleinen Szene hingab, die sich vor ihr entfaltete, trat Chantal zur Verteidigung ihres Festivals an.

„Übertreib nicht, Pierre! Monsieur Lemercier ist ein supernetter Typ, aber in dieser Stadt werden ja jedem, der von außen kommt und der etwas anderes als das Gewohnte will, Prügel zwischen die Beine geworfen.“

„Von wegen Prügel, Chantal. Gestern hat mir meine Maman, die als Statistin im Theater arbeitet, erzählt, dass sich Gabriel Perou, der Regisseur, der gerade ein Bühnenstück für das Theaterfestival in der Opéra Grand Avignon vorbereitet, ständig über Lemercier beklagt. Beide proben gleichzeitig im Operntheater und müssen sich auf der Haupt- und Probebühne abwechseln. Dauernd gibt es Streit. Die Hauptschuld, sagt Maman, liegt aber bestimmt bei diesem Lemercier. Er bezeichnet die Arbeit von Perou als Mist und wirft ihm vor, dass er von wahrer Schönheit nichts verstehe.“

Florence lauschte dem Wortgefecht gespannt. Es dauerte jedoch nicht lange, bis der Polizeibeamte gegenüber der zunehmend erregteren Musikerin den Rückzug antrat.

„Nichts für ungut, Chantal. Ich finde es ganz toll, dass du bei der Oper spielen wirst. Vielleicht werde ich sie mir sogar ansehen. Du musst aber auch uns verstehen. Die Polizeistation von Avignon ist chronisch unterbesetzt und da können wir auf diese unnötigen Einsätze, die Lemercier verlangt, wirklich verzichten.“

„Schon gut, Pierre. Ich glaube trotzdem, dass ihr Monsieur Lemercier Unrecht tut! Seine Ansprüche bestehen sicher zu Recht und seine Aufführungen sind einfach große Klasse! Nicht wahr, Madame Florence?“

Mit ihrer offenen Hand zeigte sie auf den Polizisten.

„Darf ich Ihnen Pierre Caspari vorstellen, Madame? Er ist – wie man hört und sieht – ein aufrechter Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit. Wir sind miteinander in die Schule gegangen. Pierre, Madame Florence Beaumarie ist eine große Kunstkennerin aus Paris und extra wegen des Barockmusikfestivals angereist.“

„Dann sind Sie wohl so etwas wie eine Musikkritikerin, Madame! Es tut mir leid wegen vorhin. Ich wusste noch nichts von den überklebten Plakaten.“

„Wie herrlich!“, dachte Florence amüsiert. Drei Wochen nach ihrer Abschiedsfeier war sie in den Augen eines jungen Polizisten bereits zur Pariser Musikkritikerin avanciert. Ihre neue Lebensphase ließ sich interessant an.

„Nein, Monsieur, Musikkritikerin bin ich nicht. Ich bin aber sehr an Musik interessiert. Was Monsieur Lemercier betrifft, muss ich Mademoiselle unbedingt recht geben. Er ist einer der größten französischen Dirigenten und überdies ein inspirierender Regisseur des barocken Musikdramas. Ich könnte mir vorstellen, dass seine Beschwerden gerechtfertigt sind.“

Sie wandte sich an Chantal: „Kommen Sie, Chantal! Höchste Zeit, dass ich in meine Unterkunft komme. Wir dürfen den Arm des Gesetzes nicht weiter bei seiner Dienstausübung stören.“

Mit einem „au revoir“ trennte man sich, ohne dass eine polizeiliche Amtshandlung stattgefunden hätte.

Bald darauf standen Florence und Chantal vor dem blau gestrichenen Tor eines Hauses in der Rue des trois faucons, das als Teil einer Reihe alter Stadthäuser von außen weder als Hotel noch als Pension zu erkennen war.

„Sind Sie sicher, Madame, dass das die richtige Adresse ist? Gerade diese Ecke von Avignon ist in der Nacht etwas unsicher!“

„Keine Sorge. Ich habe mir das Haus bereits im Internet angesehen und erkenne dieses Tor. Ich kann schon auf mich aufpassen. Schauen Sie, was für ein schöner alter Türrahmen das ist!“

Florence beugte sich vor und inspizierte die drei kleinen Messingschilder neben den Klingelknöpfen.

„Ach – und hier steht es ja: B&B Ciel Bleu. Ich bin genau richtig! Sie können mich jetzt wirklich allein lassen, liebe Chantal. Ich sehe Sie ja übermorgen bei der Aufführung der Médée. Ich habe eine Karte in der dritten Reihe und werde Ihnen zuzwinkern.“

„Nein, Madame, nicht nur zwinkern. Treffen wir uns doch in der Pause vor dem Bühnenaufgang!“

„Aber gerne, Chantal. Das wird ja dann ein ganz besonderes Erlebnis für mich. Jetzt aber los. Sie haben schon viel zu viel Zeit für mich geopfert. Ihr Herr Papa wird sich Sorgen machen. Au revoir und bis bald!“

Mit einer Zuneigung, die sie selbst überraschte, blickte sie der fragil wirkenden Gestalt nach, die in einer engen Straße verschwand. Es hätte ihr gefallen, eine solche Tochter zu haben! Chantal hatte ihr erzählt, dass sie hier in Avignon bei ihrem Vater wohnen würde. Sie war sein einziges Kind. Ihre Mutter hatte sich schon vor vielen Jahren mit einem anderen Mann in Richtung Paris verabschiedet und Chantal war bei ihrem Vater geblieben.

Florence drückte den blauen Klingelknopf. Sofort ertönte von innen ein lautes Bellen. Sie zuckte zusammen. Hunde konnte sie nicht leiden. Eine Narbe auf ihrem Kinn zeugte bis heute von einem schrecklichen Erlebnis in ihrer Kindheit. Der Hund, der sie damals gebissen hatte, gehörte der Concierge in ihrem Wohnhaus und trotz der Beschwerde ihrer Maman hatte sie den Hund behalten dürfen – und die kleine Florence hatte sich noch jahrelang vor ihm gefürchtet.

Als sich das blaue Tor öffnete, trat Florence vorsichtshalber drei Schritte zurück. Eine kleine, weißhaarige Dame in einem geblümten Kleid und ein riesiger schwarzer Köter, der glücklicherweise an einer kurzen Leine gehalten wurde, standen vor ihr.

„Madame müssen Florence Beaumarie sein. Bitte haben Sie keine Angst, der Hund tut keinem etwas zuleide. Er ist wie ein Lamm. Ich weiß, alle Hundebesitzer behaupten das von ihrem eigenen Hund, aber bei meinem ist es wirklich so. Sie werden ihn mögen und Ihr Zimmer auch. Es hat ein großes Fenster in den blauen Himmel hinauf. Deshalb heißt mein Bed-and-Breakfast Ciel bleu. Sie wohnen im fünften Stock und es gibt sogar einen Lift. Ich wohne im Erdgeschoss und bin sozusagen die Concierge. Wenn Sie mögen, kann ich Ihnen das Frühstück hier im Hof servieren. Der Hund ist im Hof immer an der Leine. Ja, und ich bin natürlich Madame Robert. Kommen Sie doch herein! Es wird Ihnen hier gefallen.“

Florence hatte den Hund schon fast vergessen. Fasziniert blickte sie die kleine Dame an. Die Worte waren wie ein flinkes Bächlein aus ihrem Mund hervorgesprudelt und Florence ahnte, dass die Quelle dahinter unversiegbar war. Überwältigt reichte sie ihrer Vermieterin die Hand. Sie betraten einen kühlen Flur, Madame Robert schubste den Hund durch eine Tür mit der Aufschrift „Concierge“ und gleich darauf schwebten sie in einem winzigen Lift nach oben.

Endlich allein, ließ Florence sich ermattet in einen blauen Ohrensessel fallen, der einladend mitten in ihrem Zimmer stand. Sie dachte sich, dass sie in den letzten Stunden eigentlich gar nicht viel gesprochen, aber sehr viel erfahren hatte. Waren die Leute hier im Süden gesprächiger als in Paris? Dort dauerte es oft lange, bis man mehr von den Menschen erfuhr, die einem täglich über den Weg liefen. Ihr war es immer recht so gewesen. Im Berufsalltag war dies ohnehin anders und am Abend hatte sie die Stille ihrer in einem idyllischen Hinterhof gelegenen Wohnung zu schätzen gewusst. Je älter sie wurde, desto mehr hatte es sie nach dem abendlichen Alleinsein verlangt. Das allerdings hätte im Kommissariat niemand von ihr gedacht, denn dort galt sie als Kommunikationsgenie. Eine Fähigkeit, die auch ihren Preis hatte. Je mehr sie sich während der Arbeit auf ihr jeweiliges Gegenüber einließ, desto mehr brauchte sie später ihre Ruhe. Außer mit ihrer Maman und mit ihrem Sohn Michel, der längst über alle Berge war, hatte sie nie mit jemand anderem zusammengelebt.

Mit ihrem Ferienquartier war sie jedenfalls zufrieden. Der Raum war groß und wunderbar altmodisch eingerichtet. Eine große Kommode mit fünf Laden, ein Schreibtisch samt einem mit Leder gepolsterten Sessel sowie zwei Lehnstühle, einer davon mit Fußschemel. Vom ciel bleu, der dem kleinen Hotel seinen Namen gab, war momentan allerdings nichts zu sehen. Die ebenfalls blauen Jalousien ließen nur wenig Licht herein. „Bitte lassen Sie die um diese Tageszeit unbedingt geschlossen“, hatte Madame Robert gesagt, „sonst wird es furchtbar heiß im Zimmer.“

Apropos Tageszeit! Wie spät mochte es eigentlich sein? Florence hatte normalerweise einen untrüglichen Zeitsinn und trug keine Uhr, aber auf dieser für sie ungewohnt langen Reise war ihr Zeitgefühl komplett durcheinandergeraten. Sie holte ihr Mobiltelefon aus der Umhängetasche. Schon fünf Uhr nachmittags! Kein Wunder, dass sie langsam wieder hungrig wurde. Einen Moment lang wusste sie nicht, was sie tun sollte: essen, duschen, Koffer auspacken oder schlafen? Sie musste ihre Gedanken ordnen. „Essen, duschen, essen, schlafen, essen, duschen“, schwirrte es durch ihren Kopf. Es dauerte nicht lange und sie war in ihrem Lehnsessel eingeschlafen.

Als ihr Kopf von der Lehne rutschte und nach vorne fiel, schreckte sie hoch. Durch ihren Schlaf waren gerade noch unzählige Konzertplakate gewirbelt, die immer bedrohlichere Formen angenommen und sich wie eine riesige dunkle Wolke auf ihr niedergelassen hatten. Obwohl sie nicht abergläubisch war, konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie hier in dieser Stadt nicht nur Gutes erwartete. Wie versteinert blieb sie sitzen und schaffte es nicht, sich zu bewegen. Nach diesem Traum fühlte sie sich niedergeschlagen und lustlos.

„Ach was“, sagte sie sich schließlich. „Du hast nur zu lange geschlafen.“ Endlich erhob sie sich und ging zum Fenster. Auf Knopfdruck fuhren die schmalen Lamellen der Jalousie nach oben und gaben ein Stück blauen Himmels frei. Florences Aussichtspunkt lag über den Dächern. Auf dem Platz unter ihr entdeckte sie ein Lokal, vor dem einige Leute an kleinen Tischen saßen. Vielleicht konnte man da etwas essen. Sie schlüpfte in ein frisches T-Shirt und machte sich auf den Weg nach unten. Zu ihrer Erleichterung begegneten ihr am Weg hinaus weder der Hund noch seine Besitzerin. Das Lokal am Platz entpuppte sich als eine Bar, in der es nichts zu essen gab. In einer Seitenstraße entdeckte sie jedoch ein winziges marokkanisches Restaurant, in dem man ihr die beste Lamm-Tagine servierte, die sie jemals verspeist hatte. Als sie eineinhalb Stunden später beglückt von dieser wunderbaren Mahlzeit ihr Quartier betrat, war ihre Welt wieder in Ordnung.

Madame Beaumarie und die Melodie des Todes

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