Читать книгу Madame Beaumarie und die Melodie des Todes - Ingrid Walther - Страница 8

4

Оглавление

Punkt zehn Uhr saßen die etwa zwanzig Mitglieder des Orchestre pour la Musique Anthémique, kurz OhLaMusique, mit bereits gestimmten Instrumenten und nur gelegentlich miteinander flüsternd auf ihren Plätzen. In der ersten Reihe hatten neben Chantal noch einige andere Leute Platz genommen. Florence mutmaßte, dass es sich dabei um Bekannte der Orchestermitglieder oder um Musiker handelte, die erst später zum Einsatz kommen würden.

Der Meister ließ jedoch auf sich warten, was höchst ungewöhnlich war, war er doch für seine Pünktlichkeit bekannt. Es dauerte auch nicht lange, bis einige der Musikerinnen und Musiker unruhig wurden. Man wandte die Köpfe hin und her und auch Chantal drehte sich um und blickte stirnrunzelnd in Richtung Florence. Ehe jedoch dieses leise Lüftchen des Unmuts zu einem veritablen Sturm anschwellen konnte, flog eine Tür seitlich hinter dem Altar auf und der berühmte Dirigent Stephan Lemercier betrat den Raum. Ohne nach links und rechts zu blicken, strebte er dem Dirigentenpult zu, stieg die zwei Stufen hoch und blieb stumm und gesenkten Hauptes stehen. Auf der Stelle erstarben die Stimmen, die Instrumente wurden in Einsatzbereitschaft gebracht und alle Augen hefteten sich auf den Dirigenten. Hinter dem Altar schloss sich leise eine Tür und Florences Blick erhaschte gerade noch den Zipfel eines blau karierten Hemdes, das dem Pfarrer gehörte.

„Mesdames et Messieurs! Ich muss mich für meine Verspätung entschuldigen. Dies ist jetzt eine ganz wichtige Probe und soeben gab es noch einen unangenehmen Vorfall.“ Seine Stimme schwankte kurz, er hatte sich aber rasch wieder gefasst.

„Nein, nein! Das hat nichts mit Ihnen zu tun und braucht Sie nicht zu beschäftigen. Ich möchte Sie alle ganz herzlich begrüßen.“ Er wandte sich um und blickte in den Kirchenraum. Florence zog sich gänzlich hinter ihre Säule zurück. Sein Blick hatte aber nicht ihr, sondern den Zuhörern in der ersten Reihe gegolten.

„Die beiden Proben des heutigen Tages werden sich insofern etwas anders gestalten, als wir zusätzlich noch einige der anspruchsvollsten Stellen der Opernaufführung vom morgigen Tag mit unseren Substituten proben wollen. Ich danke Ihnen, dass Sie schon jetzt anwesend sind.“

Wieder dem Orchester zugewandt, erhob er den Taktstock: „Mesdames et Messieurs! Johann Sebastian Bach – Ouvertüre zur Orchestersuite!“

Sogleich folgte das gesamte Orchester dem Taktstock mit einer Präzision, die keinen Zweifel daran ließ, wer hier das Sagen hatte. Binnen Minuten war der Kirchenraum von Klängen reinster Magie erfüllt und Florence dachte sich, dass die Akustik vermutlich selbst im berühmten „Goldenen Saal“ der Stadt Wien nicht besser sein konnte.

Lemercier ließ die ganze Ouvertüre ohne Unterbrechung spielen und erhob dann erneut seine Stimme.

„Merci. Das war Gott sei Dank schon sehr schön. Die eine oder andere Stelle müssen wir uns noch genauer anschauen. Am Abend werde ich dann etwas schnellere Tempi geben. Wenn die Kirche voll mit Menschen ist, hallt es weniger und dann können wir uns das erlauben. Bitte noch einmal den Anfang ab dem Einsatz der Trompeten, jetzt aber die dritte Trompete bitte mit der richtigen Intonation!“

Fasziniert beobachtete Florence das Geschehen. Die Probe verging wie im Flug und sie konnte feststellen, dass der Meister mit dem Orchester äußerst zartfühlend und sogar recht humorvoll umging. Ein einziges Mal riss ihm jedoch der Geduldsfaden. Eine der Trompeten störte immer wieder die ansonsten ausnahmslos harmonischen Klänge.

„Luc, so geht das leider nicht!“, rief Lemercier schließlich in Richtung Trompeten. „Ich kann mich einfach nicht mehr darauf verlassen, dass du richtig spielst.“ Dann drehte er sich um und blickte fragend in Richtung erste Reihe.

„Haben wir hier noch eine Ersatztrompete?“

Sofort schnellte Chantals Hand in die Höhe.

„Haben Sie den Trompetenpart dieses Stückes schon studiert? Können Sie auch den Händel spielen, der nachher kommt?“

Chantal nickte heftig, brachte aber vor Aufregung keinen Ton heraus.

„Dann, Mademoiselle, bitte ich Sie, sofort den Platz mit unserem Trompeter hier zu tauschen. Tut mir wirklich leid, Luc, so geht das nicht. Das bin ich dem hervorragenden Ruf unserer Truppe schuldig.“

Während sich der Angesprochene betont langsam erhob und mit feuerrotem Kopf durch die Reihen seiner Kolleginnen und Kollegen ging, begannen diese leise miteinander zu tuscheln. Florence beobachtete, wie die Konzertmeisterin, eine ältere Frau mit einem akkurat geschnittenen schwarzen Pagenkopf, ihrem Dirigenten anerkennend zunickte und von diesem ein resigniertes Schulterzucken erntete.

Inzwischen war der Trompeter bis zum Dirigentenpult vorgedrungen. Es war offensichtlich, dass er sich nicht ohne Protest den Anweisungen seines Vorgesetzten fügen wollte. Mit halblauter Stimme, der die Wut anzuhören war, stieß er ein paar kurze Sätze hervor, die Florence trotz der großartigen Akustik des Raumes nicht verstehen konnte.

Die Worte von Monsieur Lemercier waren jedoch überdeutlich zu hören. „Dann mach, was du willst! Ich will dich in meinem Orchester nicht mehr sehen!“

Leise vor sich hin fluchend durchquerte der Gescholtene das Kirchenschiff in Richtung Hauptausgang. Kurz vor Verlassen der Kirche erhob er eine Faust gegen Lemercier und gleich darauf fiel die Tür mit lautem Knall ins Schloss.

Mittlerweile hatte Chantal den frei gewordenen Platz neben dem zweiten Trompeter eingenommen. Der Dirigent musste ab nun keine einzige Rüge mehr in Richtung Trompeten aussprechen. Für Florence war dies der Beweis, dass Chantal trotz ihres jugendlichen Alters bereits eine Musikerin von außergewöhnlichem Format war. Kurz vor dem Ende der Probe gab es noch eine weitere kleine Unterbrechung. Der Pfarrer schaute erneut bei der Tür des Altarraums herein und nickte dem Dirigenten bestätigend zu. Dieser wandte sich nun mit einer kleinen Rede an seine Musiker.

„Mesdames et Messieurs! Ich muss Ihnen jetzt noch eine Mitteilung machen, ersuche Sie aber schon im Vorhinein, Ruhe zu bewahren. Das, was ich zu sagen habe, wird unsere Zusammenarbeit und unser Festival in keinster Weise beeinträchtigen.“

Die Spannung, die sich nun in der Kirche ausbreitete, war mit der Hand zu greifen.

„Ich wollte Sie mit dieser Information nicht beunruhigen, aber ich habe nun keine Wahl mehr. Den meisten von Ihnen wird es nicht entgangen sein, dass unser Festival in dieser Stadt nicht nur Freunde hat. Einige haben mich auch darauf aufmerksam gemacht, dass unsere Plakate mit Theaterplakaten überklebt worden sind. Ich habe mich bemüht, dem keine große Bedeutung beizumessen. Seit heute Morgen gibt es jedoch neue und etwas anders geartete Vorfälle. Es sind feindselige Plakate aufgetaucht, die ich leider nicht mehr ignorieren kann. Sie sind gelb und handgeschrieben. Das erste wurde schon heute Morgen im Foyer meines Hotels entdeckt, das zweite von meinem Chauffeur an meinem Wagen. Auch das dritte hat er entdeckt, es wurde wohl erst kurz vor der Probe über unser Plakat an der Kirchentüre geklebt.“

Als auf diese Ansprache hin ein Sturm der Entrüstung loszubrechen drohte, hob er gebieterisch seine Hände.

„Bitte bewahren Sie Ruhe! Da Sie erfreulicherweise alle pünktlich zur Probe erschienen sind, hatte der Übeltäter leider das Glück, nicht auf frischer Tat ertappt zu werden. Meinem Chauffeur, Monsieur André, ist das Plakat aber sogleich aufgefallen und er hat mich und den Herrn Pfarrer umgehend informiert. Ich entschied mich daraufhin, die Polizei einzuschalten. Wie mir der Herr Pfarrer gerade zu verstehen gegeben hat, ist diese bereits eingetroffen. Ich gehe davon aus, dass die Beamten mir und eventuell auch einigen von Ihnen nach dem Ende der Probe ein paar Fragen stellen werden, und ersuche Sie, noch kurz hinten im Kreuzgang zu warten.“

„So sagen Sie uns doch bitte endlich, was auf den drei Plakaten steht!“, ertönte eine Stimme aus dem Orchester.

„Es sind nur drei Worte und ein Rufzeichen“, antwortete der Dirigent mit nahezu emotionsloser Stimme, „und diese sind in großen roten Buchstaben geschrieben. Auf den Plakaten steht: ‚Stille kann töten!‘ Die Bedeutung dieser Nachricht entzieht sich meiner Kenntnis und jetzt bitte ich Sie, sich um dreizehn Uhr, wie vereinbart, zu einer weiteren Probe einzufinden. Wir werden dann noch einige wichtige Passagen aus unserer Oper ohne Sänger und mit unseren Substituten proben.“

Als alle Musiker die Kirche in Richtung Kreuzgang verlassen hatten, blieb Florence alleine unter dem imposanten Gewölbe zurück. Chantal hatte sich den anderen Musikern angeschlossen und würde vermutlich nun, da sich die Umstände geändert hatten, nicht so schnell wie verabredet zum Eingang kommen können.

Die Worte des Dirigenten hatten Florence beunruhigt. Ihr Traum von gestern fiel ihr wieder ein. Ein unheilschwangeres Vorzeichen? Nun ja, sie wollte jetzt nicht ausgerechnet im Hause Gottes den Teufel an die Wand malen! Besser, sie ging von einer harmlosen Fehde unter Künstlerkollegen oder einem Dummejungenstreich aus. Langsam erhob sie sich und ging Richtung Ausgang.

Draußen stand die Sonne hoch am Himmel, die wenigen Geschäfte hatten ihre Rollläden hochgezogen, ein paar kleinere Kinder waren mit Rollern und Fahrrädern unterwegs und eine Gruppe älterer Leute stand plaudernd vor einem kleinen, offenen Pavillon. Einige der hohen Platanen waren von Sitzbänken umsäumt. Florence schlenderte über den Platz, betrachtete das nicht besonders spannende Geschehen, und als Chantal nach zehn Minuten nicht erschienen war, fragte sie sich, ob diese überhaupt noch kommen würde. Jetzt, wo sie für den hinausgeworfenen Trompeter eingesprungen war, hatte sie möglicherweise andere Pläne. Florence hätte jetzt einfach alleine losmarschieren können, aber stattdessen trieb sie ihre Neugierde erneut nach hinten zum Kreuzgang, dessen Türe offenstand und der sich inzwischen in einen summenden Bienenstock verwandelt hatte. Die Musikerinnen und Musiker hatten ihre Pullover und Jacken abgelegt und standen sommerlich gekleidet in kleinen Gruppen zusammen, unter ihnen auch zwei Polizisten. Einer davon unterhielt sich gerade mit Chantal und Florence erkannte in ihm den jungen Beamten, der sie gestern angesprochen hatte.

„Wer ist denn nun eigentlich Ihre Schülerin, wegen der Sie extra aus Paris angereist sind?“ Florence hatte gar nicht bemerkt, dass der Pfarrer an ihre Seite getreten war. Sie merkte, dass sie errötete. Jetzt war es wohl Zeit, Farbe zu bekennen. Man konnte einem Mann Gottes nicht ungestraft eine Lüge auftischen. Noch dazu, wo Chantal sie ebenfalls schon entdeckt hatte und auf sie zusteuerte, natürlich in Begleitung des jungen Polizisten.

„Madame Florence“, Chantal strahlte sie an, „ich wollte gerade zu Ihnen. Ich habe nämlich eine große Bitte an Sie.“

Bevor Florence reagieren konnte, kam ihr der Pfarrer zuvor.

„Ah, dann sind Sie wohl die Schülerin dieser Dame aus Paris?“

„Wieso Schülerin?“ Chantals Reaktion kam schnell, aber auch Florence hatte bereits zum Sprechen angesetzt.

„Herr Pfarrer, Chantal! Ich muss Ihnen beiden gestehen, dass ich mich mit einer kleinen Notlüge hier eingeschlichen habe. Eigentlich wollte ich heute Morgen nur diese Kirche besichtigen, aber dann habe ich von Ihnen, Herr Pfarrer, erfahren, dass in Kürze eine Probe mit dem von mir verehrten Meister Lemercier stattfinden wird, und diese Gelegenheit wollte ich mir einfach nicht entgehen lassen. Deshalb habe ich erklärt, dass ich von einer meiner Musikschülerinnen hierher eingeladen worden bin. Ohne Zweifel hat mich die Bekanntschaft mit Ihnen dazu inspiriert, Chantal. Es tut mir leid.“

„Dann sind Sie also keine Musikprofessorin aus Paris!“, bemerkte der Pfarrer nun doch etwas ungehalten.

„Nein, das bin ich bedauerlicherweise nicht. Aus Paris komme ich jedoch schon. Mein Name ist Florence Beaumarie und genau genommen bin ich seit zwei Wochen in Rente. Zuvor war ich in Paris bei der Polizei und habe über vierzig Jahre lang im Kommissariat des 4. Arrondissements gearbeitet. Wenn Sie möchten, Herr Kollege“ – sie wandte sich an den Polizisten – „können Sie sich davon gerne mit einem kurzen Anruf bei meinen dortigen Kollegen überzeugen.“

Chantal lachte laut los. „Madame! Ich habe gestern im Zug auf den ersten Blick gesehen, dass Sie eine hochinteressante Person sind. Ich hatte aber bis jetzt keine Ahnung von Ihrem Beruf und auf eine Polizistin hätte ich bestimmt nicht getippt. Na sowas, eine Kollegin von dir, Pierre. Hättest du das gedacht?“

„Oder eine Schwindlerin.“ Chantals Freund fand das gar nicht amüsant. „Wer einmal lügt …“

„Also gut“, Florence kramte in ihrer Handtasche. „Ich habe ohnedies vergessen, meinen alten Dienstausweis zu entsorgen. Hier ist er, Monsieur! Reicht Ihnen das?“

Sie überreichte dem jungen Mann ihren Ausweis und der studierte ihn verblüfft.

„Verzeihung“, murmelte er. „Scheint zu stimmen. Madame Beaumarie. – Beaumarie?“ Sein Kopf schnellte hoch. „Wow! Dann sind Sie jene Beaumarie, die den Fall Marie Fontaine, die im Centre Pompidou ermordet wurde, aufgeklärt hat?“

Sein Mund blieb offenstehen und Florence nickte ergeben.

In diesem Augenblick wurde er von seinem Kollegen gerufen. Er entschuldigte sich, schlug tatsächlich die Hacken zusammen, salutierte, gab ihr den Ausweis zurück und war auch schon verschwunden.

„Na dann.“ Der Pfarrer schien sich schon wieder zu amüsieren. „Das hätten Sie mir aber auch gleich sagen können, Madame Beaumarie!“

„Wahrscheinlich. Bekomme ich Ihre Absolution?“ Er nickte und Florence beschloss das Thema zu wechseln. Sie wandte sich an Chantal.

„Sie haben mich sehr beeindruckt, Chantal. Sie waren so souverän, als Sie den Part Ihres Kollegen übernommen haben.“

„Merci, Madame. Mit dem Bach hatte ich keine große Mühe. Ich habe ihn bereits im Konservatorium im Orchester gespielt, aber bei dem Händel, der anschließend gespielt wurde, bin ich ganz schön ins Schwitzen gekommen.“ Sie richtete ihre grünen Augen gegen den Himmel. „Da habe ich mir einiges eingebrockt.“

„Monsieur Lemercier war aber sichtlich zufrieden mit Ihnen.“

„Ja, der war gnädig zu mir. Jedenfalls muss ich jetzt in der Mittagspause den Händel gleich noch einmal üben!“

„Tun Sie, was Sie tun müssen, Chantal! Aber hatten Sie nicht eine Bitte an mich?“

„Ja, und das hängt genau damit zusammen, dass ich noch üben muss. Ich habe nämlich mit meinem Papa vereinbart, mit ihm im Café Mistral auf der Place de l’Horloge zu Mittag zu essen. Falls Sie zufällig in diese Richtung unterwegs sind, würde ich Sie bitten, ihn zu benachrichtigen. Mein Handy habe ich nämlich heute Morgen zu Hause vergessen – ausgerechnet!“

„Das mache ich natürlich gerne.“ Florence hatte sich schon erhoben. „Sie müssen mir nur noch sagen, wie ich den Herrn Papa erkenne. Dass die Place de l’Horloge ganz in der Nähe des Papstpalastes liegt, ist mir bereits bekannt.“

„Tausend Dank, Madame! Meinen Papa werden Sie schon erkennen. Ein älterer Herr in heller Leinenhose, mit Schnurrbärtchen, dunkelroter Brille und schon ziemlich weißem Haar. Keine Glatze. Sein Gesicht wird aber gewiss hinter der Le Monde versteckt sein, die pflegt er sich um diese Zeit immer zu Gemüte zu führen. Sollten Sie ihn dennoch nicht finden, fragen Sie bitte im Café Mistral nach Monsieur Charles Florentin. Man kennt ihn dort.“

Madame Beaumarie und die Melodie des Todes

Подняться наверх