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Kapitel 3

Krieg und Frieden

Zeit, sagte sich Sameera Sandeep zwei Tage vor Weihnachten, war durchaus relativ. Bis zum gestrigen Tag war sie förmlich dahingerast, ausgefüllt mit den üblichen Vorbereitungen für das vertraute und geliebte Fest… und natürlich hatten die Kinder besonders gern bei allem mitgeholfen, weil sie wussten, dass in diesem Jahr Raja, Sita und Rani wieder dabei sein würden. Sameera lächelte, als sie sich an die gemeinsam gefeierten Weihnachtstage vor zwei Jahren erinnerte – und an Rani, die damals gerade erst vier gewesen war und sich restlos in den reichlich gefallenen Schnee verliebt hatte, in dem man so herrlich spielen konnte.

Jetzt war die Zeitspanne bis zu dem lang erwarteten Besuch auf weniger als eine Stunde zusammengeschrumpft, die sich auf fast unerträgliche Weise in die Länge zog. Vor wenigen Minuten hatte sie Yussuf der Küche verwiesen – nicht nur, damit er sich nicht ständig an den Leckereien vergriff, die nicht mehr in den Kühlschrank gepasst hatten, sondern vor allem, um ihn daran zu hindern, alle fünf Minuten nachzufragen, wo Vikram baba blieb und warum die Rückfahrt vom Flughafen in Srinagar denn so lange dauerte.

Sameera umrundete die Babydecke, die auf dem Boden ausgebreitet lag. Mohan saß darauf, von einer Sammlung bunter Bauklötzchen umgeben; sitzen konnte er seit knapp einem Monat. Während sie ans Fenster trat, registrierte sie aus den Augenwinkeln, dass er zuerst nach einem roten Klötzchen langte und sich dann nach vorn auf die Hände fallen ließ. Er wiegte sich einen kurzen Moment vor und zurück, dann plumpste er auf die Seite und gab ein ziemlich frustriertes Quäken von sich.

Sie bückte sich und nahm ihn auf den Arm. »Langsam, Herzblatt«, flüsterte sie in das seidig weiche Haar auf seinem Kopf hinein, »du musst dich nicht ärgern, dass du noch nicht richtig krabbeln kannst… das lernst du früh genug.« Sehr früh sogar, wie es aussah – wenn ihr Sohn in dem Tempo weitermachte, würden sie demnächst oben im ersten Stock ein Schutzgitter anbringen müssen, damit er bei seinen Erkundungstouren nicht irgendwann aus Versehen die Treppe hinunterfiel.

Mohan deutete aus dem Fenster. »Da!«, sagte er. Sameera schaute hinaus; bis jetzt war in diesem Jahr kaum Schnee gefallen, aber die Wettervorhersage machte ihr Hoffnung auf weiße Weihnachten. Sie hoffte, dass das zutraf… vor allem für Rani, die sich so sehr auf die kalte Pracht freute.

»Ammi? Wo soll ich die hinstellen?«

Moussa war hereingekommen. Er trug einen Korb mit Äpfeln vor sich her; Sameera hatte beschlossen, endlich wieder mal Bratäpfel zu machen. Mit einer Paste aus gerösteten, karamellisierten Mandeln, Butter, Vanille und Rosinen würden sie am Abend einen köstlichen Nachtisch abgeben.

Sie sah sich um und seufzte. »Da, wo du zwischen all den Schüsseln noch Platz findest«, sagte sie. »Und bevor du fragst: Nein, Vikram baba hat sich nicht gemeldet, und ich weiß auch nicht, ob der Flieger schon gelandet ist.«

Moussa lachte. »Ich wollte doch gar nicht fragen«, erwiderte er. »Ich hab Yussuf übrigens in den Schuppen geschickt, zu Ibrahim, zum Feuerholzspalten. So hat er was zu tun und lässt dich in Ruhe. Vielleicht hängt er sich auch an Rizwan und dreht seine nächste Wachrunde mit, das macht er ja öfter – auf jeden Fall ist er aus dem Weg.«

»Du bist ein Schatz, mein Sohn.« Sie warf ihm einen liebevollen Blick zu. »Sind die beiden Gästezimmer fertig?«

»Klar. Ameera hat vor einer halben Stunde die Gardinen wieder aufgehängt, und ich stell jetzt noch ein bisschen Obst auf.«

Er holte eine Schale aus dem Schrank, suchte ein paar besonders schöne Äpfel aus und legte sie hinein, bevor er mit seiner Ausbeute wieder aus der Küche verschwand.

Sameera trug Mohan hinaus und nach oben. Sie setzte ihn auf dem weichen Wollteppich in seinem Kinderzimmer ab und trat wieder ans Fenster. Von hier aus hatte man einen guten Ausblick auf das andere Ende des kleinen Tales und auf die Hauptstraße… und plötzlich entdeckte sie den Kleinbus des Dar-as-Salam, der knappe zweihundert Meter entfernt in die holperige Einfahrt abbog und sich langsam näherte. Ihr Herz machte einen freudigen Satz. Sie waren fast da.

Sie hob ihren Sohn wieder auf, setzte ihn sich auf die Hüfte und ging rasch hinunter. Von draußen hörte sie Yussufs erfreute Stimme: »Da sind sie! Schau, Ibrahim – da sind sie!«, und auf dem Weg zur Haustür wurde sie von ihrer gesamten Kinderschar überholt, die laut jubelnd ins Freie stürmte.

Sie trat auf die Veranda hinaus. Die Luft hatte einen frostigen Biss, der Himmel war grau – aber als der Bus anhielt, drang die Sonne durch die Wolken und tauchte das bejahrte Vehikel in strahlend helles Licht. Die seitliche Tür wurde geöffnet, und es war Raja, der als Erster ausstieg und zum Haus hinüberschaute. Bevor sie ihm auch nur zuwinken, geschweige denn etwas sagen konnte, schoss Yussuf bereits auf ihn zu und flog ihm in die gerade noch rechtzeitig ausgebreiteten Arme. Auf der anderen Seite kletterte Rani aus dem Bus und rannte über die winterkahle Wiese schnurstracks auf die Veranda zu, wo Moussa neben Sameera stand.

»Moussa!« Sie fiel ihrem Lieblingsbruder enthusiastisch um den Hals. »Ich hab mich so auf euch gefreut – aber wo ist denn der ganze Schnee geblieben?«

»Wir hatten noch keinen, Schätzchen«, erklärte Sameera, als Rani Moussa endlich losließ und zu ihr kam. »Aber es soll welchen geben. Ein bisschen Geduld, und du wirst sehen: Weihnachten ist alles weiß.«

Endlich stieg auch Sita aus dem Bus und war ebenso wie ihr Mann schnell von Kindern umringt, die sich über das Wiedersehen mit ihrer Maha-Sita freuten (den Namen hatte Yussuf ihr verpasst, in der Zeit, als die Kinder vorübergehend bei den Sharmas in Shivapur gewohnt hatten und Raja für sie zum Maha-Raja aufgestiegen war). Sameera wartete geduldig, bis der erste Begrüßungsjubel sich gelegt hatte und sie ihren Sohn an Ameera weitergeben konnte; dann ging sie auf ihre behn zu, die ihr mit einem strahlenden Lächeln entgegenkam.

Sie hatten wochenlang gewartet, aber nun waren die Sharmas zurückgekehrt in ihr zweites Zuhause. Jetzt konnte es Weihnachten werden.

***

Am Morgen darauf erwachte Raja Sharma wie immer bereits sehr früh. Draußen war es noch dunkel, Sita neben ihm schlief tief und fest, und auch aus dem Nebenzimmer, wo Rani ihr Domizil im Dar-as-Salam hatte, war noch kein Laut zu hören. Er machte bereits Anstalten, leise aufzustehen, um in der Küche einen ersten Chai zuzubereiten, als ihm plötzlich einfiel, dass Heiligabend war – und an diesem Tag würden sie bis Mitternacht aufbleiben, um mit Sameeras Kerzenzeremonie in das Weihnachtsfest hineinzufeiern. Vielleicht schadete es gar nicht, sich dafür noch ein wenig auf Vorrat auszuruhen. Kurzerhand kuschelte er sich wieder unter seiner Bettdecke zusammen und rief sich den Tag vor zwei Jahren ins Gedächtnis, als er zum ersten Mal Weihnachten in diesem Haus mitgefeiert hatte. Für Sameera, die als Tochter eines irischen Vaters und einer aus dem nordindischen Leh stammenden Mutter in Dublin geboren worden war und dem christlichen Glauben angehörte, hatte dieses Fest natürlich eine besondere Bedeutung, und allein schon um ihretwillen war es für die Kinder im Dar-as-Salam ein heißgeliebter Höhepunkt des Kalenderjahres.

Seine Erinnerungen glitten zurück zu dem Vortag, an dem sie nachmittags mit den Sandeeps für letzte Weihnachtseinkäufe nach Srinagar gefahren und mit einer ganzen Wagenladung Lebensmittel zurückgekehrt waren. Sita und Sameera hatten sich dabei zwischendurch selbstständig gemacht, und Raja hätte sofort zehn zu eins gewettet, dass sie zu Ismail Kabuli gehen wollten, dem »Juwelier ihres Vertrauens« mit dem uralten kleinen Laden in der Altstadt, in dem er wundervolle handgefertigte Silberschmuckstücke verkaufte. Dass er diese Wette gewonnen hätte, wusste Raja spätestens, als Sita nach ihrer Heimkehr mit Unschuldsmiene ein mit dunklem Samt eingeschlagenes Päckchen aus ihrer Tasche zog. Er fragte sich, wie viel von seiner Barschaft dafür wohl in Kabulis altmodische Registrierkasse gewandert war, zumal da Sita dieses Thema wohlweislich gar nicht erst zur Sprache brachte. Aber er gönnte seiner kleinen Elster ihre Weihnachtsfreude und verkniff sich jeden Kommentar.

Später hatte er in der Küche mit Ahmad über die ideale Zubereitung von Malai Kofta debattiert, danach mit Ibrahim, Maryam und Azad eine Runde Backgammon gespielt und sich schließlich von Firouzé dazu überreden lassen, mit ihr zusammen vor der versammelten Belegschaft Yeh Ladka Hai Deewana aufzuführen. Noch bis spät in die Nacht hinein war aus sämtlichen Zimmern die gepfiffene Anfangszeile des Filmsongs zu hören gewesen, und Raja beschlich das Gefühl, dass sein spontaner Auftritt als Shahrukh Khan an der Seite von Firouzé-Kajol das Zeug dazu hatte, in die eher heiteren Legenden des Dar-as-Salam einzugehen.

Er schmunzelte und schloss die Augen. Ein Erfolg vom Vorabend war in jedem Fall unbestreitbar: Er hatte mit den Kindern fast durchgehend Kashmiri gesprochen. Mittlerweile fiel es ihm kaum noch schwer, auch sein Wortschatz wurde immer größer… und Anjali und Ameera hatten spontan zwei ihrer Lieblingsbücher auf Kashmiri angeschleppt und sie ihm geliehen, damit er sich weiterbilden konnte.

Er beschloss, ein wenig darin zu schmökern, und stand auf. Die Sonne musste sich mittlerweile ein gutes Stück zum Horizont vorgearbeitet haben; das Dunkel vor dem Fenster hatte sich in ein silbriges Grau verwandelt. Er warf einen Blick hinaus in die Richtung des schönen alten Chenarbaums und der Feuerstelle. Und dann stutzte er – und lächelte breit.

Er legte das Buch, das er bereits in die Hand genommen hatte, wieder hin und betrat leise das Kämmerchen nebenan, in dem seine Tochter in ihrem Bett lag und offensichtlich noch selig träumte.

»Rani«, flüsterte er und wuschelte ihr sanft durch das Haar. »Wach auf, mein Schatz!«

Sie gab einen Laut von sich, der wie ein ungnädiges Maulen klang, und drehte ihm den Rücken zu.

»Rani!«, wiederholte Raja etwas lauter. »Aufstehen!«

»… hab doch schulfrei…«, kam es undeutlich aus den Falten ihrer Bettdecke.

»Stimmt«, sagte Raja in friedfertigem Ton. »Na gut, schlaf weiter, dann geh ich die Schneeflocken eben allein begrüßen.«

Er grinste in sich hinein, schlenderte gemütlich zum Fenster und begann in seinem Inneren zu zählen. Er kam nicht mal bis drei.

»Schnee??«

Er drehte sich um. Rani hatte sich in ihrem Bett aufgesetzt, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und blinzelte, verschlafen und unbeschreiblich süß in ihrem blauen Schlafanzug mit goldenen Sternchen.

»Also, wenn deine Mama und Sameera nicht gerade ihre ganzen Mehl- und Zuckervorräte aus dem Fenster kippen – ich würde das Weiße da draußen durchaus für Schnee halten.«

Ranis Augen wurden riesengroß, und im nächsten Moment sprang sie aus dem Bett und lief zu ihm. Raja hob sie mit Schwung hoch und küsste sie liebevoll auf die Wange. »Guten Morgen, mein Schatz!«

»Es schneit!«, jauchzte Rani begeistert und zeigte zum Fenster. »Es schneit wirklich!«

Sie zappelte wie wild, so dass Raja sie wieder auf dem Boden absetzte, und stürmte zur Tür.

»Halt!« Mit langen Schritten setzte Raja ihr nach und hielt sie fest. »Du willst doch nicht etwa barfuß und im Schlafanzug ins Freie, junge Dame? Komm…« Er holte rasch ein paar Kleidungsstücke aus ihrer Kommode. »Zieh dich an, ich werf mir auch schnell was über, und dann gehen wir raus in den Schnee, okay?«

In Rekordtempo war Rani angezogen; gleich darauf stiegen beide in ihre warmen Winterstiefel und Anoraks, und Raja öffnete die Haustür. Große dicke Flocken fielen vom Himmel herab, und die gesamte Umgebung des Dar-as-Salam lag bereits unter einer reinen, weichen Schneedecke. Die friedliche Stille endete jäh, als Rani mit einem entzückten Jubelschrei ins Freie rannte, sich mit ausgebreiteten Armen mehrfach um die eigene Achse drehte und begann, mit den Schneeflocken zu tanzen.

»Papa!«, schrie sie. »Papa, komm, wo bleibst du?«

Lächelnd ging Raja die Verandatreppe hinunter, hielt sein Gesicht für einen Moment mit geschlossenen Augen den Schneeflocken entgegen und atmete tief und glücklich die frische, kalte Luft ein. Dann schnappte er sich seine Tochter und schwenkte sie ein paarmal im Kreis herum, bevor er sich mit ihr der Länge nach in den Schnee sinken ließ. Sie prustete laut, raffte mit beiden Händen Schnee zusammen und ließ ihn ihrem Vater ins Gesicht rieseln.

»Siehst du? Ammi hat recht gehabt!« Die blaue Tür stand plötzlich wieder weit offen, und Yussuf sprang mit einem langen Satz auf den schneebedeckten Rasen. Raja konnte sich gerade noch rechtzeitig aufsetzen, bevor die nächste Ladung Schnee auf ihn niederging. Der nächste, der auftauchte, war Ahmad, und dann stand Moussa auf der Veranda – breit lächelnd, mit einer Strickmütze auf dem Kopf und in eine dicke Daunenjacke eingemummelt. Raja machte sich bereits auf eine Schneeballschlacht gefasst, als Vikram auf der Schwelle erschien.

»Guten Morgen zusammen!«, sagte er. »Yussuf, wenn du Rani Schnee ins Gesicht reibst, darfst du eine Woche lang den Hühnerstall ausmisten. Ahmad, hol dir einen Schal… ach was, ich bring dir schnell einen, bevor du uns den ganzen Schnee ins Haus trägst. Und danach mach ich mal einen Chai, würde ich sagen.«

»Bhaiyya!«, fiepte Raja in einem Tonfall abgrundtiefster Verzweiflung. »Du willst mich doch jetzt nicht mit dieser blindwütigen Horde hier alleinlassen?«

»Ach, sei still!« Vikram grinste breit. »Wegen genau dieser blindwütigen Horde bist du doch hier. Ich bin bloß die Dreingabe, mere bhai.«

Worauf er im Haus verschwand, mit einem dicken Wollschal in der Hand noch einmal kurz auftauchte und danach die Tür wieder fest hinter sich schloss. Moussa reichte Ahmad den Schal – und duckte sich geistesgegenwärtig, so dass der Schneeball, den Yussuf auf ihn gezielt hatte, mit einem deutlichen Knall an der Hauswand explodierte.

Ahmad kam kaum dazu, sich den Schal um den Hals zu wickeln, bevor Yussuf bereits den ersten listigen Versuch machte, ihm eine Ladung Schnee von hinten in den Kragen zu stopfen. Gleichzeitig öffnete sich die Tür des Dar-as-Salam erneut, und Verstärkung nahte in Form von Ameera, Azad und Firouzé. Sie hielten sich wohlweislich von Yussuf fern und rannten stattdessen in Richtung Auffahrt, wo es bereits die ersten Verwehungen gab, in denen sich Schneeengel machen ließen. Die restlichen Kinder folgten auf dem Fuße, und nach kurzer Beratung wurde beschlossen, Rani zuliebe erst einmal einen Schneemann zu bauen. Der hatte nach einer knappen halben Stunde Form angenommen und bekam gerade einen Kopf aufgesetzt, als Vikram zurück ins Freie trat. Vor sich balancierte er ein Tablett mit zwei riesigen Thermoskannen und mehreren Stapeln Plastikbecher. Er überblickte das Bild vor sich mit unverkennbarer Zufriedenheit, stellte das Tablett auf einem kleinen Tisch ab und goss etwas Chai in einen der Becher.

»Wer möchte etwas Heißes?«, fragte er… und dann traf ihn ein Schneeball von Raja mitten ins Gesicht.

Einen Moment stand er ganz still. Er wischte sich die Reste des Geschosses aus dem Bart und fixierte Raja, der sich vor Lachen bog; seine Augen schossen Blitze.

»Das gibt Rache!« Er kam mit langen Schritten die Verandastufen herunter. »Mein Heer - zu mir!«

Ahmad, Yussuf und Ibrahim waren sofort neben ihm. Moussa zögerte kurz im Niemandsland zwischen den beiden legendären Generälen, die Miene unentschlossen. Dann ging er langsam zu Raja und blieb an seiner Seite stehen, gefolgt von Azad, der sich tapfer auf Rajas anderer Seite aufpflanzte.

»Verräter!«, dröhnte Vikrams Stimme. »Dafür sollt ihr fürchterlich büßen!«

Und damit begann die zweite epische Schneeballschlacht im Dar-as-Salam, die die erste vor zwei Jahren an Dramatik noch weit übertraf. Sie dauerte etwa eine Viertelstunde und war noch in vollem Gange, als Sameera nach draußen kam und die beiden (inzwischen mit Schnee bedeckten und redlich erschöpften) Armeen in aller Ruhe ins Auge fasste.

»Soldaten!« Ihre Stimme war kräftig genug, um das Kriegsgeschrei zu übertönen. »Ich plädiere für einen sofortigen Waffenstillstand – und außerdem dafür, die Friedensverhandlungen im Haus zu führen. Das Frühstück ist fertig.«

Vikram wischte sich den Schnee aus den Augen und pflückte Rani, die sich auf ihn gestürzt hatte, um ihren Vater zu verteidigen, behutsam von seinem Rücken.

»Ich akzeptiere«, knurrte er. »Allerdings keine Niederlage – nur, dass das klar ist.«

»Selbstverständlich«, erwiderte seine Frau mit einer feierlichen Verbeugung. »Im Felde unbesiegt, wie immer. Und jetzt kommt rein, ja?«

Raja rappelte sich aus einer Schneewehe auf, gestützt von seinen getreuen Vasallen Moussa und Azad.

»Für einen Chai und einen Pfannkuchen unterzeichne ich jeden Friedensvertrag, der mir angeboten wird«, verkündete er und drückte die beiden Jungen herzlich an sich. »Und ich danke euch für eure Treue, Männer – ich bin überrascht und zutiefst gerührt.«

Sameera betrachtete ihn augenzwinkernd. »Ich bin auch gerührt«, sagte sie lächelnd. »Aber überrascht bin ich nicht. Kein bisschen.«

Und damit verschwand sie nach drinnen.

***

Mit letzten Vorbereitungen in der Küche und den Kinderzimmern, mit Spielen, einem langen Film und einem köstlichen Abendessen verging der Tag wie im Flug. Als es Mitternacht wurde, versammelten sich alle im Aufenthaltsraum um die zusammengeschobenen Tische, wo Sameera ihren irischen Glaskranz mit den zwölf kleinen Löchern und dazu eine Schale mit Wasser und sieben Schwimmkerzen aufstellte. Sie begann ihre weihnachtliche Kerzenzeremonie mit dem Entzünden der Schwimmkerzen.

»Für Hamid und Zobeida, und für Rizwan«, sagte sie leise, hob den Kopf und lächelte erst das Paar und dann den ehemaligen Elitesoldaten an, der die Einladung zur Weihnachtsfeier überrascht und erfreut angenommen hatte. »Für Mohan.« Sie betrachtete ihren Sohn, der auf dem Schoß seines Vaters saß und mit großen Augen die goldenen Lichter bestaunte. »Für Raja, für Sita und Rani.« Ihr Blick und der ihrer behn begegneten sich und hielten einander fest. Sita trug einen von Zeenath bestickten königsblauen Salwar Kameez und die Medaillonkette, die die Kinder des Dar-as-Salam ihr zum Geburtstag geschenkt hatten. Wie schön du bist, dachte Sameera, und wie froh ich bin, dass ich dich kenne. Sie hob die Schale hoch und stellte sie in das Zentrum des Glaskranzes.

»Und jetzt«, sagte sie, »kommen die anderen Lichter. Es gefällt mir, dass wir euch sozusagen in unsere Mitte nehmen.«

Sie steckte kleine, schmale Kerzen in den Kranz und entzündete sie, eine nach der anderen, sie sprach dabei die vertrauten Namen der Kinder und ihres Mannes aus und schaute in die geliebten Gesichter. Nach ihrem weihnachtlichen Segenswunsch setzte sie sich und spürte, wie Vikram ihre Hand nahm. Eine Weile blieb es still, dann erhob sich Raja.

»Es ist schön, in eurer Mitte zu sein«, sagte er. »Und auch wir möchten unseren Beitrag leisten zu dem Licht, das in dieser besonderen Nacht das Dunkel erhellt. Im vorigen Jahr hat meine liebe Sita ein eigenes kleines Kerzenritual kreiert, in Erinnerung an deine Zeremonie, Sameera – und das wollen wir nun auch hierher in das Haus des Friedens bringen.«

Sita griff nach dem Karton voller Diyas, den sie zuvor schon in dem Raum deponiert hatte. »Wer will, kann mir gerne helfen«, sagte sie lächelnd.

Dank unzähliger williger und flinker Hände war der Karton bald leer, und die glitzernden, wachsgefüllten Tonschälchen bildeten, nebeneinander auf dem Fußboden arrangiert, das Wort Salaam.

»Es sind genauso viele Diyas wie Menschen, für die wir sie nun anzünden«, erläuterte Sita weiter. »Für unsere Familie und Freunde in Shivapur und für jeden einzelnen von euch hier. Wir machen da keinen Unterschied mehr. Ihr alle seid unsere Familie.«

Sie drückte Raja, Sameera und Vikram je eine Zündholzschachtel in die Hand.

»Lasst sie uns gemeinsam entzünden.«

Immer goldener wurde nun das Licht in dem Raum, als eine Diya nach der anderen zu flackern begann. Schließlich brachte Raja das letzte Lämpchen zum Brennen und stellte es auf den Boden zurück.

»Da fehlt aber noch was«, meinte Ibrahim plötzlich und wies mit kritischem Blick auf den leuchtenden Schriftzug. »Das m ist nicht vollständig.«

»Da hast du völlig recht, Ibrahim«, sagte Sita. »Deshalb zünden wir jetzt zum Abschluss noch zwei weitere Diyas an.«

Sie sah Raja an, der unmerklich nickte und ein Streichholz zur Hand nahm.

»Die vorletzte Diya soll für alle die brennen, die wir lieben und die nicht mehr bei uns sind«, sagte er. »Aber in unseren Herzen sind sie so lebendig wie dieses Licht hier.«

»Und die letzte«, fuhr Sita fort, »haben wir im vorigen Jahr für alle die aufgestellt, die noch zu uns finden würden. Rückblickend kann man also sagen: für unser kleines Wunder Mohan, für unseren Enkel Soram – und für unseren wunderbaren Freund Azad.«

Azads Augen strahlten auf, und er schmiegte sich glücklich an seine große Schwester.

»Deshalb zünden wir auch in diesem Jahr ein Licht für neue Freunde und Familienmitglieder an – und sind gespannt, wen es zu uns bringen wird.«

Ein letztes Streichholz flammte auf, und dann war das golden flackernde Salaam vollständig.

»Möge der Frieden stets mit dem Dar-as-Salam und allen seinen Bewohnern und Freunden sein«, sagte Raja leise. »Salaam und Krismas mubarak!«

Ein Lied in der Nacht

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