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Kapitel 8

Alte und neue Gesichter

Sameera schaute sich entzückt in der sonnendurchfluteten kleinen Wohnküche des Mitrata um. Hell gestrichene Wände, mehrere Grünpflanzen, zahlreiche gerahmte Fotografien mit Motiven aus Kashmir und Lonavala. Hinter ihr sagte Mohan, der auf Vikrams Arm saß, »Da!« und streckte die Hand nach dem Rüssel eines Ganesha aus, der in einem buntglitzernden kleinen Mandir thronte. Sein Vater trat bedachtsam einen Schritt zurück und brachte ihn damit außer Reichweite.

Sie drehte sich zu Raja um, der gespannt neben der Tür wartete.

»Das ist wunderschön, mera chenaar«, sagte sie. »Kein Wunder, dass Moussa sich hier so wohlgefühlt hat. Habt ihr das wirklich alles selbst gebaut?«

»Größtenteils«, antwortete Raja. »Und fast alle Taxifahrer, mit denen Vishal, Surya und ich gefahren sind, haben dabei mitgeholfen. Falls ihr in den nächsten Tagen mal auf eigene Faust irgendwo hinwollt, müsst ihr nur Bescheid sagen – wir haben das organisiert, einer von ihnen steht immer Gewehr bei Fuß.«

Sameera lächelte. »Langsam… wir sind doch erst seit einer halben Stunde hier! Und wann kommt Ylva jetzt genau?«

»Morgen Vormittag, mit der Maschine aus Delhi«, sagte Raja gut gelaunt. »Soham schiebt seit Wochen Überstunden an seinem Computer, damit er die nächsten Tage überhaupt nicht in die Firma muss; deswegen ist er jetzt auch nicht hier. Er ist so aufgeregt wie ein verliebter Teenager.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Sameera ließ sich mit einem erleichterten Seufzer auf dem Sofa nieder. Nach gleich zwei Flügen zwischen Srinagar und Pune war es eine Wohltat, die Beine ausstrecken zu können. Vikram trat neben sie und reichte ihr Mohan, der sich in ihre Arme kuschelte und gähnend die Wange gegen ihre Schulter sinken ließ.

»Ich glaube, der kleine Löwe braucht ein bisschen Sendepause«, sagte sie. »Der Flug war sehr aufregend für ihn.«

»Vielleicht möchte er ja etwas essen«, meinte Raja. »Verhungern muss bei uns im Moment niemand; wir alle bereiten seit Tagen Fingerfood, Currys und Süßigkeiten für Sohams Geburtstagsparty vor. Soll ich Mohan schnell was holen?«

»Das Letzte, was unser Junior braucht, ist noch mehr Futter«, versetzte Vikram. »Wenn wir ihm alles gegeben hätten, was die Stewardessen ihm zustecken wollten, hätte er sich bestimmt längst übergeben.«

»Ich zieh ihn um und leg ihn schlafen«, beschloss Sameera und stemmte sich wieder aus ihrer bequemen Sitzposition hoch. »Und dann leg ich mich gleich daneben, glaube ich. Bei dem schönen Wetter können wir ja vielleicht heute Abend im Garten zusammensitzen. Dabei wäre ich gern ein bisschen munterer, als ich es im Moment bin.«

Raja grinste. »Dann nehm ich deinen Mann mit rüber zu uns; ich bin sicher, Vishal wird sich freuen, ihn zu sehen.«

Sameera drückte ihren Sohn an sich; ihre Mundwinkel zuckten belustigt.

»Das glaub ich dir sofort. Aber vielleicht solltet ihr die Bushmills-Flasche vorerst noch stehen lassen, sonst sind nachher nur noch Sita, Pooja und ich munter. Und außerdem«, sie küsste Mohan zärtlich auf die Nase, »möchte ich endlich auch mal wieder einen Schluck Bushmills trinken. Ich habe seit dem Ende des vorletzten Jahres keinen Tropfen Whiskey mehr angerührt.«

»Hat hier jemand ›Whiskey‹ gesagt?« Die Haustür des Mitrata öffnete sich, und Vishal steckte den Kopf herein. Beim Anblick der Besucher leuchteten seine Augen auf; er betrat den Raum, warf Sameera einen Handkuss zu und schloss Vikram herzlich in die Arme. »Willkommen, Kommandant! Na, alles klar?«

»Ich bin zufrieden.« Vikram erwiderte die Umarmung. »Und bhai – wenn es dir nichts ausmacht, dann leg ich mich auch eine Runde hin.« Er zwinkerte Raja zu. »Schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste.«

»Schon verstanden.« Raja zog eine komisch gekränkte Grimasse. »Was sind ein Bruder, ein Kampfgefährte und eine Flasche Lebenswasser gegen eine Frau, nicht wahr?«

»Gegen meine Frau«, korrigierte Vikram trocken. »Und gegen eine kleine Mütze voll Schlaf. Ihr zwei und die Flasche seid nachher ja auch noch da.«

»Dann komm, yaar«, sagte Raja zu Vishal und seufzte theatralisch. »Lass uns gehen. Wir können uns ja gegenseitig trösten.«

»Lasst das bloß nicht eure Frauen hören.« Sameera gab jedem der beiden einen Kuss auf die Wange. »Ab mit euch – wir sehen uns nachher.«

Und damit schob sie die beiden sanft zur Tür hinaus.

***

Vikram nahm ein warmes Samosa von der Platte, die Sita ihm hinhielt, und biss genussvoll hinein.

»Phantastisch«, sagte er, »und ich wundere mich, wie du die auch noch hingekriegt hast, bei dem großartigen Abendessen und dazu den ganzen Geburtstagsvorbereitungen. In euren Küchen sieht es aus, als wolltet ihr morgen halb Shivapur verköstigen.«

»Die Nachbarn kommen bestimmt vorbei«, meinte Pooja lachend. »Soham ist sehr beliebt; er gibt Nachhilfe in Mathe und hat vermutlich neunzig Prozent aller Computer im näheren Umkreis entweder eingerichtet oder zumindest schon mal repariert. Allerdings müssen die Mütter spätestens ab morgen ihren Traum begraben, ihn mit einer ihrer Töchter zu verkuppeln. Ich fürchte, der Zug ist abgefahren.«

Sie saßen im Garten des Vishwaas – Vishals Haus, in dessen oberer Etage Raja mit Sita und Rani lebte. Der Himmel war dunkel und sternenklar. Die Temperaturen hatten sich auf angenehme dreiundzwanzig Grad abgekühlt, bunte Lampions hingen in den Bäumen und auf dem Tisch flackerten Kerzen und Windlichter. Sita und Pooja hatten pikantes Fingerfood serviert; dazu gab es Lassi, eisgekühlten Weißwein und Wasser.

»Ich bin schrecklich gespannt auf Ylva«, sagte Sameera; ihre dunklen Augen funkelten. »Kann sie eigentlich Hindi?«

»Sie spricht in jedem Fall fließend Englisch«, antwortete Raja. »Aber sie büffelt seit Monaten auch Hindi. Soham sagt, sie hat einen Onlinekurs gefunden, und er hilft ihr über Skype. Die beiden meinen es offensichtlich richtig ernst miteinander.«

Vikram lehnte sich zurück. »Sag mal, bhai… war vorhin nicht die Rede von einem Whiskey? Nach diesem Abendessen könnte ich einen vertragen. Als Absacker, sozusagen.«

»Nur zur Verdauung, selbstverständlich«, bemerkte Sameera milde. »Dient alles der Gesundheit.« Sie wandte den Kopf, als Vishal aus dem Haus trat; er trug ein Tablett mit einer Flasche und Gläsern vor sich her. »Schaut mal, wer da kommt – wie aufs Stichwort!«

Alle sahen erwartungsvoll zu, wie Vishal das Tablett abstellte und mit der Feierlichkeit eines Zeremonienmeisters Bushmills auf die Gläser verteilte. Als Sita eines davon nahm, hob Sameera überrascht eine Augenbraue, und Raja grinste breit.

»Jawohl, du siehst richtig – meine chandni ist ins Lager der Lebenswasserfreunde übergelaufen. Ich hab sie in einem schwachen Moment mal einen Schluck bei mir probieren lassen, und seitdem steigt der Bushmills-Verbrauch in diesem Haus rapide in die Höhe. Das hab ich nun davon – aua!« Er rieb sich die Stelle, wo seine Frau ihn spielerisch gegen die Schulter geboxt hatte. Sameera lachte laut, hob ihr Glas und zwinkerte Sita vergnügt zu.

Raja wurde wieder ernst. Er stand auf, sein eigenes Glas in der Hand, und räusperte sich feierlich.

»Sameera und Vikram – ich bin froh, dass ihr hier seid. In den letzten Jahren habe ich erleben dürfen, wie meine Familie immer größer geworden ist – und eure spielt eine gewichtige Rolle dabei. Dank dem Dar-as-Salam habe ich mehr als ein Dutzend zusätzlicher Kinder, ich habe dich, meri sakhi«, er hob das Glas in Sameeras Richtung, »und dich, mera bada bhai. Und wenn ich Soham zuhöre und mir die Bilder anschaue, die er seit Monaten überall herumzeigt, dann habe ich aller Voraussicht nach ab morgen noch eine wunderschöne zusätzliche Tochter. Ich bin wahrhaftig reich gesegnet.«

Er lächelte.

»Also möchte ich mit euch das Glas auf diesen Besuch erheben. Ich wünsche uns allen wunderbare Tage. Sláinte!«

»Sláinte!« Vikram nickte ihm zu und nahm einen Schluck. Er sah Vishal, Sita und Sameera ebenfalls trinken und spürte, wie die liebevolle Atmosphäre der Sharma-Familie ihn erfasste und einhüllte.

»Diese wunderbaren Tage wünsche ich uns auch«, sagte er. »Wir haben uns sehr auf diesen Besuch gefreut. Danke, mere bhai, dass wir bei euch sein dürfen.«

***

Am nächsten Tag summte das gesamte Sharmivar wie ein Bienenstock. Die Vorbereitungen für Sohams Geburtstagsfeier und für die Ankunft von Ylva Sandström liefen auf Hochtouren. Sita war schon früh aufgestanden und hinübergegangen, um ihren Schwiegertöchtern beim Schmücken des Hauses zu helfen; Raja folgte ihr nach einem geruhsamen Frühstück, gemeinsam mit Rani und den Sandeeps.

Surya war zu diesem Zeitpunkt bereits mit Soham in Richtung Flughafen aufgebrochen; Ylva war in den frühen Morgenstunden in Delhi angekommen und von dort nach Pune weitergeflogen, wo sie am späten Vormittag eintreffen würde. Tara kicherte amüsiert vor sich hin, als sie Sameera in der Küche erzählte, wie Soham an diesem Morgen ziemlich verlegen zu ihr heruntergekommen war und sie um ein wenig Zucker gebeten hatte, weil er vor lauter Aufregung und Vorfreude erst seinen Chai versalzen und dann auch noch seine geöffnete Zuckerbüchse vom Tisch gefegt hatte.

»Der Arme!« Sameera lachte. »Wahrscheinlich wird er sich erst wieder beruhigen, wenn er sein Geburtstagsgeschenk sicher in den Armen hält.«

»Wenn überhaupt«, grinste Tara. »Ich hab den Mann noch nie so aufgedreht erlebt.«

»Wird Ylva in eurem Gästezimmer wohnen?«, fragte Sameera.

»Nein«, antwortete Tara. »Soham will sie bei sich in seinem Appartement haben; er überlässt ihr sein Bett und schläft während ihres Besuchs auf der Wohnzimmercouch. Behauptet er jedenfalls.« Sie zwinkerte Sameera zu und streckte den Arm nach ihrer kleinen Tochter aus, die auf einen Stuhl geklettert war: »Nein, Siju, Finger weg von der Mandelschüssel – wenn du mir alles wegnaschst, kann ich uns keinen Kheer kochen!«

»Kheer kochen!«, wiederholte die Zweijährige erfreut, und Tara nahm sie lächelnd auf den Arm.

»Ja, mein Schätzchen, das machen wir. Und Sameera, du kannst gern schon mal rübergehen zu den anderen und es dir gemütlich machen. Wobei… wenn du bei der Gelegenheit ein Auge auf unseren Nachwuchs haben könntest, dann wäre ich dir sehr verbunden; Sita ist drüben bei Kajri und macht Samosas, und bei Raja hege ich ständig den schweren Verdacht, dass er mit seinen Enkeln eher irgendwelchen Unfug veranstaltet, statt sie verantwortungsvoll zu überwachen.«

Sameera gluckste. »Willst du damit sagen, euer würdiges Familienoberhaupt ist ein Kindskopf?«

»Erzähle ich dir damit am Ende etwas Neues?«, gab Tara schmunzelnd zurück und füllte einen großen Topf mit Milch.

»Nein«, lachte Sameera. »Aber zum Glück ist er ein verantwortungsvoller Kindskopf. Ich hatte bislang jedenfalls noch nie Angst davor, ihn mit unseren Kindern allein zu lassen.«

»Soll ich dir was verraten?« Tara grinste spitzbübisch, während sie Reis und Zucker aus dem Schrank holte. »Ich auch nicht. Genau wie bei Vikram – ich schmelze jedes Mal dahin, wenn ich ihn mit eurem Sohn sehe. Er mag eine raue Schale haben, aber darunter ist er so liebevoll und fürsorglich… und unsere Kinder hängen an ihm ebenso wie an ihrem Raja daada.«

»Er ist ja auch ein zweiter daada für sie, seit dein Mann ihn als seinen dritten Vater adoptiert hat«, erinnerte Sameera sie und erhob sich. »Okay, dann schau ich mal nach, was unsere beiden daadas…«

Weiter kam sie nicht, denn im gleichen Moment kam ein Kugelblitz zur Küchentür hereingeschossen. Rajil.

»Mama! Mama! Sie sind da!«

»Schon?« Tara warf einen Blick auf die Uhr. »Hay Baghwan, wir haben total die Zeit vergessen! Gut, dann muss der Kheer jetzt eben warten – das hier geht vor!«

***

Es waren Raja und Sita, die ihren Gast aus Schweden vor der Haustür in Empfang nahmen. Der Rest der Familie hielt sich zurück, weil Raja fürchtete, der Ansturm der gesamten Sippe auf einmal könnte Sohams Freundin verschrecken. Und so spähten viele Augen aus den Fenstern und sahen zu, wie die schlanke junge Frau aus dem Auto stieg. Sie trug Jeans, ein einfaches buntbedrucktes T-Shirt und Sandalen, und ihr langes, weizenblondes Haar war offen. Sameera hörte, wie Rajas kleine Tochter neben ihr entzückt nach Luft schnappte.

»Schau mal«, flüsterte Rani. »Das sieht aus, als hätte sie die Sonne auf dem Kopf!«

Große blaue Augen in einem hübschen, klaren Gesicht musterten das Empfangskomitee, dann griff Ylva Sandström entschlossen nach Sohams Hand und straffte sich. Surya öffnete das Gartentor, und sie gingen den Kiespfad entlang auf das Haus zu.

»Raja, Sita – das ist meine Ylva«, stellte Soham mit strahlender Miene vor. »Ylva – das ist Raja, der Mann, der mein zweiter Vater geworden ist. Und das ist Sita, seine Frau.«

Ylva faltete die Hände. »Namaste…« Sie schien nach Worten zu suchen und wechselte dann in die englische Sprache. »Soham meint, ich darf ruhig Raja sagen; stimmt das?«

»Du kannst ja mal versuchen, mich Sharma sahab zu nennen. Dann siehst du schon, was passiert.« Raja lächelte entwaffnend und hob ebenfalls die gefalteten Hände. »Namaste und herzlich willkommen, Ylva! Schön, dich kennenzulernen.«

Ylva erwiderte den traditionellen Gruß – und mit einem Mal verneigte sie sich bis zum Boden vor Raja. Er war so überrascht, dass er erst reagierte, als er bereits ihre Hand auf seinem Fuß spürte; verlegen murmelte er den Segensspruch, nahm die junge Frau bei den Schultern und richtete sie wieder auf.

»Und das musst du auch nicht machen – damit wir uns darüber gleich mal im Klaren sind.« Seine Augen blitzten in Richtung Soham und Surya. »Haben die beiden dir gesagt, dass du das tun sollst?«

»Unschuldig, Euer Ehren«, protestierte Surya sofort. »Keinen Ton haben wir darüber gesagt.«

»Nein, das haben sie wirklich nicht«, verteidigte ihn Ylva. »Aber ich habe zuhause ein paar Hindi-Filme gesehen, und da machen die das alle so, bei älteren Menschen und bei Vätern, und da dachte ich… ich…« Sie brach ab und drehte sich irritiert zu Surya um, der bei den »älteren Menschen« leise losgeprustet hatte und sich nun hörbar bemühte, nicht laut loszulachen. »Was ist, hab ich was Falsches gesagt?«

»Überhaupt nicht«, grinste Raja. »Mein Lümmel von einem Sohn amüsiert sich lediglich königlich über meine Einstufung als ›älterer Herr‹. Dabei stimmt es ja, immerhin bin ich bereits würdige Vierundfünfzig. Trotzdem, Ylva… ich meine, du hast natürlich recht, das Berühren der Füße ist in der Tat eine alte Tradition in diesem Land. Aber meine Frau und ich legen keinen gesteigerten Wert darauf, und wir verlangen das auch von unseren Kindern nicht.«

Er legte ihr sanft die Hände auf die Schultern.

»Ganz unter uns: Ich persönlich bevorzuge eher den jadoo ki jhappi, wenn es unbedingt filmi werden soll«, meinte er augenzwinkernd. »Weißt du, was das ist?«

Ylva legte die Stirn in Falten. »Umarmung des Zaubers…«, übersetzte sie nachdenklich; dann leuchtete ihr Gesicht auf. »Ach ja, ist das nicht aus diesem Film über den liebenswerten Gangster, der plötzlich Arzt werden will – Munnabhai?«

»Sehr gut«, lobte Raja anerkennend. »Du kennst dich ja schon richtig aus in unserer Filmkultur. Also – Lust auf einen magic hug, Ylva?«

»Da bin ich dabei«, strahlte Ylva; die erste Befangenheit war wie weggeblasen, und sie erwiderte ungeniert Rajas Umarmung, als der sie herzlich an sich drückte. Dann begrüßte sie Sita, die sie kurzerhand auf beide Wangen küsste.

»Schön, dass wir dich endlich kennenlernen«, sagte Sita lächelnd. »Die ganze Familie wartet schon gespannt auf dich. Bereit, dich der Meute zu stellen?«

»Kein Problem«, versicherte Ylva. »Ich habe zuhause zwei ältere Geschwister und auch schon einige Neffen und Nichten. Ich bin Trubel gewohnt.«

»Dann komm«, erwiderte Sita und wies einladend auf die Haustür, in der mittlerweile Tara mit einem Puja-Teller bereitstand, um ihre Schwägerin in spe mit dem traditionellen Segen willkommen zu heißen.

***

»Nüü-o-krr?«

Ylva lachte hell und amüsiert auf.

»Nyåker«, korrigierte sie Surya. »Ein kleiner, wunderschöner Flecken in der nordschwedischen Provinz Västerbotten, nicht weit weg von Umeå. Und wenn ich klein sage, dann meine ich klein – dort leben gerade mal hundertfünfzig Menschen. Unter anderem wir Sandströms.«

»Und von dort kommen auch diese köstlichen… wie nanntest du sie, päparkakur?«, fragte Sita und betrachtete den dünnen braunen Keks in ihrer Hand, der verführerisch nach Zimt, Gewürznelken und ganz leicht auch nach Ingwer duftete.

»Ja«, bestätigte Ylva. »In Nyåker steht eine der ältesten Pfefferkuchenbäckereien des Landes. Wir Schweden lieben pepparkakor – besonders zu Weihnachten, aber wir essen sie auch gerne das ganze Jahr über.«

»Kann ich sehr gut verstehen«, sagte Raja und bediente sich aus der großen, runden Blechdose, die Ylva auf den Tisch gestellt hatte. Die ganze Familie saß bei Chai, Wasser und kleinen Snacks zusammen; Soham hatte Ylva zwar vorsichtshalber gefragt, ob sie sich nach der langen Reise erst mal ausruhen wollte, aber die junge Schwedin hatte energisch den Kopf geschüttelt. »Schlafen kann ich später immer noch«, hatte sie erklärt. »Jetzt bin ich viel zu gespannt auf deine Familie.« Dann hatte sie die rote, mit bunten Ornamenten geschmückte Dose aus ihrem Handgepäck hervorgekramt und war mit Soham und den anderen hinüber zu Sumair und Kajri gegangen, deren Wohnzimmer größer war als das von Surya und Tara, weshalb es traditionell bevorzugt für Familienversammlungen benutzt wurde.

»Und wie hat es dich aus diesem nordschwedischen ›Flecken‹ nach Norwegen verschlagen, wo du dann Soham begegnet bist?«, erkundigte sich Sameera interessiert.

»Ich bin da nur vorübergehend gewesen«, antwortete Ylva. »Eine Freundin von mir hat vor zwei Jahren Urlaub in Norwegen gemacht und ist in Tromsø hängengeblieben; sie hat sich dort in den Besitzer eines Cafés verliebt. Im vorigen Mai haben die beiden endlich geheiratet, und natürlich bin ich hingefahren, um mitzufeiern. Dabei habe ich mitbekommen, dass Einar – der Mann meiner Freundin – noch ein paar Hilfskräfte in seinem Café für die Sommermonate gesucht hat. Ich war damals gerade arbeitslos und dachte: Komm, Ylva, du hast eh nichts Besseres zu tun, mach’s – Einar freut sich, Gunilla freut sich auch, du verdienst ein paar Mäuse und kannst obendrein wochenlang die Mitternachtssonne genießen. Bei uns in Nyåker ist es im Sommer zwar auch lange hell, aber Västerbotten liegt eben doch noch südlich des Polarkreises. In Tromsø dagegen geht die Sonne von Ende Mai bis Ende Juli nicht mehr unter.«

»Das hat mich damals fast am meisten fasziniert«, warf Soham ein. »Anfangs hab ich jegliches Zeitgefühl verloren und kaum noch geschlafen, weil es ständig taghell war.«

»Wie ein echter Nordländer!«, lachte Ylva und stupste ihn neckend. »In den hellen Sommermonaten ist Schlaf für uns pure Zeitverschwendung. Wir verfallen lieber später in den Winterschlaf, wenn sich die Sonne im Dezember ein paar Wochen lang kaum noch oder überhaupt nicht mehr blicken lässt.«

»Was ich mir ebenso wenig vorstellen kann wie die Mitternachtssonne«, meinte Surya nachdenklich. »Ich sehe schon, ich muss das unbedingt irgendwann einmal vor Ort erforschen.«

»Tu das«, erwiderte Ylva lächelnd. »Ich zeige dir dann meine sämtlichen smultronställen in Västerbotten.«

»Smultronställen?«, entgegnete Surya verwirrt.

»So nennen wir auf Schwedisch unsere Lieblingsplätze«, erklärte Ylva. »Vor allem solche, die man nicht jedem verrät. Weißt du, smultron sind kleine Walderdbeeren, die schmecken himmlisch… und wenn man da mal gute Stellen entdeckt, wo jede Menge davon wachsen, dann behält man die am besten für sich und sagt sie nicht weiter. Oder eben höchstens ganz lieben Menschen, mit denen man diese Köstlichkeiten gerne teilt.«

»Und so ein ›ganz lieber Mensch‹ bin ich?«, fragte Surya mit einem schelmischen Blitzen in den Augen.

»Das seid ihr doch alle«, gab Ylva zurück. »Ganz im Ernst. Kann ich noch ein Glas von diesem Chai haben?«

»Aber sicher.« Kajri schenkte ihr nach. »Soham hat also in Tromsø dieses Café besucht, in dem du gearbeitet hast?«

Ylva lachte. »Oh ja – meine Kolleginnen haben sich hinterher vor Begeisterung gar nicht mehr eingekriegt über diesen ›großen, gutaussehenden Typen mit den tollen grünen Augen‹. Und ich hätte ihn um ein Haar sogar verpasst, weil ich da gerade ziemlich lange mit ein paar Gästen aus Schweden geplaudert habe. Dann hab ich ihnen noch den Weg zur Eismeerkathedrale erklärt, sie haben sich verabschiedet, in dem Moment wollte auch er gehen – und ich dreh mich um und pralle frontal mit ihm zusammen.«

»Autsch!«, kommentierte Surya grinsend.

»Na komm«, schmunzelte Tara. »Du bist auch nicht viel besser; du hast unsere erste Begegnung seinerzeit damit eingeläutet, dass du mir beim Tanzen rücklings auf die Zehen gestiegen bist.«

»Stimmt«, räumte Surya sofort ein. »Aber geschadet hat uns das ebenso wenig wie dieser Zusammenrempler den beiden da. Bei der Erfolgsquote sollten wir die Methode glatt unseren Kindern beibringen.«

»Und bei euch hat’s dann ebenso schnell gefunkt wie damals bei uns?«, wandte Tara sich an Soham.

»Noch schneller«, antwortete Soham und bedachte Ylva mit einem feurigen Blick. »Ich hab in diese blauen Augen geschaut und musste den Mund zumachen, damit mir das Herz nicht raushopste. Als sie mich dann auch noch angelächelt hat, hatte sie mich am Haken. Bevor ich wusste, wie mir geschah, hab ich mich ihr vorgestellt und sie gefragt, ob ich ihr auf den Schrecken hin etwas spendieren darf.«

»Und sein Name hat mich erst mal total verwirrt«, grinste Ylva. »Seinen englischen Akzent konnte ich schon nicht einordnen, und dann auch noch Soham Valera… ich meine, Valera klang irgendwie südeuropäisch, aber wo sollte ich Soham hintun? Als er mir dann gesagt hat, er sei Inder, war ich völlig perplex. Aber gleichzeitig auch total neugierig. Also bin ich nach Feierabend mit ihm essen gegangen. Der Rest ist Geschichte.« Sie lächelte Soham an, und er drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Und inzwischen lebst du wieder zuhause in… in Nyåker?«, fragte Sameera, der es tatsächlich gelang, den Ortsnamen einigermaßen korrekt auszusprechen.

»Ja«, nickte Ylva und musterte Sameera nachdenklich. »Und du stammst aus Irland, ja? Da hab ich vor ein paar Jahren mal zusammen mit Freunden Urlaub gemacht. Es war wunderschön.«

»Glaub ich dir sofort«, lächelte Sameera. »Aber da, wo ich jetzt lebe, ist es auch wunderschön. Kommt ihr auch noch nach Kashmir, während du hier bist, Soham und du?«

»Diesmal noch nicht«, bedauerte Ylva. »Ich bleibe nur zwei Wochen, und da will ich erst mal hier die nähere Umgebung kennenlernen. Aber wenn alles so läuft, wie wir uns das vorstellen, dann komme ich im August wieder. Dann nimmt Soham seinen Urlaub, und wir fahren nach Kashmir und nach Shimla.«

»Aha!« Surya grinste vielsagend. »Verwandtschaftsbesuche, was?«

»So ist es«, gab Soham in aller Gemütsruhe zurück. »Muss ja alles seine Ordnung haben. Und zumindest mit Sharad chacha und natürlich mit Resul und Divvya möchte ich Ylva schon gerne bekanntmachen.«

»Aber dann nehmt ihr euch auch noch ein, zwei Tage Zeit und schaut bei uns im Dar-as-Salam vorbei, ja?«, warf Vikram ein. »Schließlich gehören wir auch zur Familie!« Er wechselte einen schnellen Blick mit Raja, der ihn voller Zuneigung ansah und den Daumen hob.

»Wo du recht hast, hast du recht«, erwiderte Soham lächelnd. »Danke für die Einladung. Ich freue mich jetzt schon darauf, Ylva die herrliche Bergwelt da oben zu zeigen.«

»Und bis dahin stehe ich mit eurer Sprache hoffentlich nicht mehr ganz so sehr auf Kriegsfuß«, seufzte Ylva. Sie hatte während des Gespräches zwar immer wieder mal einige Sätze auf Hindi riskiert, war aber überwiegend doch beim Englischen geblieben, weil sie zu oft nach Worten hatte suchen müssen und ihre Erzählungen dadurch ins Stocken geraten waren.

»Keine Sorge«, meinte Tara gelassen. »Wenn du erst mal hier bist, geht das ganz schnell. Und wenn man bedenkt, dass du die Sprache erst seit einem halben Jahr lernst, kannst du schon richtig viel.«

»Tara hat recht«, stimmte Sita ihr zu. »Trau dich ruhig öfter, Hindi zu sprechen, Ylva. Wir helfen dir dann schon, wenn es irgendwo hakt oder dir ein Wort fehlt.«

»Gut zu wissen«, begann Ylva – dann hob sie plötzlich die Hand vor den Mund und verbarg dahinter ein herzhaftes Gähnen. »Oh herrejävlar, jetzt spüre ich doch allmählich die ganzen Flugstunden in den Knochen. Kann ich mich noch eine Runde hinlegen, bevor die Party so richtig losgeht?«

»Natürlich!« Soham erhob sich sofort. »Ich bring dich rauf, und du kannst dich ausruhen, solange du willst.«

»Nahin!«, entgegnete Ylva energisch. »Spätestens wenn’s hier anfängt, rund zu gehen, weckst du mich auf, sötnos! Ist das klar?«

»Vollkommen, sweetheart.« Soham salutierte flott.

»Thiik hai.« Ylva grinste, stand auf und blickte in die Runde. »Dann bis später. Danke für den Chai!«

»Schlaf gut, Ylva«, antwortete Raja. »Keine Sorge, du wirst nichts verpassen. Wir läuten die große Fete erst heute Nachmittag ein.«

Ylva nickte dankbar; Soham legte den Arm um sie, und gemeinsam verließen sie den Raum. Als die Tür sich hinter den beiden geschlossen hatte, war Vikram der Erste, der sich wieder zu Wort meldete.

»Donnerwetter«, sagte er, und um seine Mundwinkel zuckte es. »Du hast gestern Abend mit der wunderschönen Tochter absolut recht gehabt, bhai

»Ganz offensichtlich«, erwiderte Raja; ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Respekt, Soham – mubarak ho! Die Frau behalten wir.«

Ein Lied in der Nacht

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