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Vorspiel

Im Obstgarten

Der Oktober in Kashmir begann in diesem Jahr deutlich wärmer als sonst. In den Nächten sanken die Temperaturen zwar bis beinahe zum Nullpunkt, tagsüber jedoch stiegen sie bis auf fast dreißig Grad. In den Obstgärten von Alef Ali Zoraq waren die Ambri-Kashmiri-Äpfel bereit zur Ernte; ihre grüne Schale mit den tiefroten Streifen leuchtete durch das Laub der Bäume. Dazu waren die Maharaji drei Wochen früher reif als üblich, und plötzlich stellte Alef fest, dass es ihm an Hilfskräften fehlte. Da er allerdings schon seit geraumer Zeit einen Gutteil seines Ertrags an das Dar-as-Salam lieferte, das Waisenhaus von Vikram Sandeep in der Nähe von Srinagar, war nur ein Anruf nötig, um das Problem zu lösen.

So kam es, dass an einem sonnigen, wolkenlosen Samstag in der zweiten Oktoberwoche Sameera Sandeep auf einer Decke saß, die Leila, Alefs Frau, für sie auf der großen Obstwiese oberhalb ihres Hofes ausgebreitet hatte. Neben ihr lag ihr Sohn, der es seit neuestem fertigbrachte, sich auf die Seite zu drehen, und gerade neugierig eine Hand nach den Apfelspalten ausstreckte, die in einem Schälchen darauf warteten, gegessen zu werden. Mohan war jetzt fünf Monate alt, er konnte sich für kurze Zeit hochstemmen und alles in die Hand nehmen, was ihn interessierte – weswegen Sameera derzeit sicherheitshalber darauf verzichtete, ihre geliebten Creolen zu tragen, und weshalb ihr Mann Vikram jedes Mal rasch seine Lesebrille in Sicherheit brachte, wenn sein Sohn in der Nähe war.

Bei diesem Gedanken musste Sameera lächeln und schaute sich um. Am Horizont stiegen die Gipfel des Pir Panjal steil in den blauen Himmel; jede Felszinne war so deutlich zu sehen wie auf einem gestochen scharfen Foto. Dort, wo sich die Berghänge ins Tal hinabsenkten, boten sie ein atemberaubendes Farbenspiel aus dem tiefdunklen Grün der Zedern, den herbstlichen Flammenfarben der Buchen und Eichen und dem strahlenden Gold der Chenarbäume.

Gelächter und fröhliches Stimmengewirr wehten zu ihr herüber; abgesehen von Zeenath, die wenige Tage zuvor geheiratet hatte und jetzt in Gulmarg lebte, waren alle ihre Pflegekinder anwesend. Ahmad, Ibrahim und Yussuf hingen in den Baumkronen und pflückten; genau in dem Moment, als Sameera hinsah, zielte Yussuf mit einem Apfel auf Moussa, der etwas abseits Alefs und Leilas Kindern half, das frisch geerntete Obst nach Größen zu sortieren. Er traf ihn an der Schulter. Moussa blickte auf, lächelte und rief etwas, das sie nicht verstand. Maryam, Anjali und Firouzé luden volle Körbe auf die offene Ladefläche von Alefs robustem Lieferwagen, Zooni und Sameera beti sammelten die Früchte auf, die auf die Wiese gefallen waren. Und ganz unten am Ende der Obstwiese waren zwei Gestalten zu sehen, die an dem einfachen Holzzaun standen und miteinander redeten: Vikram und Azad, Sameera betis jüngerer Bruder.

Azad lebte erst seit wenigen Monaten bei ihnen im Haus des Friedens. Vor acht Jahren war er von seiner Schwester (die er immer liebevoll Ameera, Prinzessin, genannt hatte) getrennt worden, als man die Geschwister nach dem Tod ihrer Eltern in verschiedene Waisenhäuser gesteckt hatte. Die kleine Sameera war kurz darauf eines der ersten Kinder geworden, die der ehemalige Agent und Elitesoldat Vikram Sandeep zu sich nahm, als er mit fünfzig vorzeitig seinen Dienst bei der indischen Abwehr quittierte und in Kashmir ein Waisenhaus eröffnete. Er hätte gerne auch ihren Bruder Azad aufgenommen, doch der Junge war spurlos verschwunden; wie sie jetzt wussten, war er zuerst mehrfach in andere Waisenhäuser abgeschoben worden, dann Terroristen der Lashkar-i-Toiba in die Hände gefallen und von denen wiederum als Sklave und Spielzeug an eine Bande sadistischer Paramilitärs an der Grenze zu Pakistan verkauft worden. Dass ihm schließlich von dort die Flucht gelungen war und er das Dar-as-Salam mitsamt seiner Schwester gefunden hatte, war für Sameera noch immer nichts weniger als ein Wunder.

Aber der Preis für dieses Wunder war entsetzlich hoch gewesen. Sameera spürte, wie ihr ein Schauder den Rücken hinabrieselte; instinktiv nahm sie ihr Baby auf und wiegte es in den Armen. Mohans Körper war warm und tröstlich; die durchscheinenden lohbraunen Augen, die denen ihres Mannes so ähnlich waren, betrachteten sie neugierig, und er gab einen leisen, weichen Laut von sich.

»Schon gut, Schätzchen«, sagte sie sanft. »Deine irische Urgroßmutter hätte gesagt, jemand wäre gerade über mein Grab gelaufen. Ist schon vorbei.«

Wenn es nur so wäre, dachte sie, während sie ihren Sohn sanft an sich drückte. Es wird niemals vorbei sein – zumindest nicht die Erinnerung daran.

Die Erinnerung an den Tag Ende April, als sie, hochschwanger, Avan Gupta in die Hände fiel, dem ehemaligen Polizeichef von Srinagar… und an die Nacht, in der sie ihm in seinem Büro widerstandslos zu Willen sein musste, um sich selbst und ihr ungeborenes Kind zu retten – und dazu auch noch Raja Sharma, ihren besten Freund, den der korrupte Brigadier Gupta ebenfalls hatte festnehmen lassen und nun als Druckmittel in Geiselhaft hielt. Am Tag darauf hatte er Sameera zwar freigelassen, und eine Woche später war auch Raja wieder bei ihnen gewesen – doch was er und sie in ihrer Gefangenschaft erlebt hatten, das hatte tiefe Narben auf Körper und Seele hinterlassen.

Zum Glück hatte Sameera Menschen, die sie liebte und mit denen sie über ihr Trauma reden konnte – ihren Mann Vikram, der für sie die Welt bedeutete, und ihre beiden Freunde Raja und Sita Sharma aus Maharashtra. Obwohl sie sich erst seit gut zwei Jahren kannten, genoss Raja ihr absolutes Vertrauen (Vikram hatte ihn sogar zu seinem Bruder erklärt), und seine Frau Sita war sowohl für sie selbst als auch für Vikram zu einer innig geliebten Schwester und Ratgeberin geworden. Doch trotz aller Unterstützung durch diese wunderbaren Menschen an ihrer Seite blieb der Weg aus Guptas Schatten heraus noch weit, jeder einzelne Schritt klein und anstrengend. Denn dieser Schatten war so lang wie grausam.

Sie strich sich eine Strähne ihres dunklen, im Sonnenlicht kupferrot schimmernden Haares aus dem Gesicht. Wenigstens war Mohan am 19. Mai gesund zur Welt gekommen. Ein Hoffnungsschimmer, der seitdem ihr Leben wieder hell und schön machte. Trotz aller qualvollen Erinnerungen an die Tage der Finsternis im Frühjahr.

Sie hob den Kopf und sah Vikram über die Wiese auf sich zukommen. Die Sonne schien ihm auf den Rücken und ließ sein Haar aufleuchten; im vergangenen halben Jahr war es – ebenso wie der sauber gestutzte Vollbart – stark ergraut, aber nach wie vor dicht und kräftig. Die Mähne eines alten Löwen. Ein intensives Gefühl der Erleichterung überflutete sie, und sie atmete unwillkürlich auf.

Er setzte sich zu ihr, streichelte seinem Sohn über die Wange und nahm ihre Hand.

»Fühlst du dich wohl, meri jaan?«, fragte er. »Du hast eben ein bisschen blass ausgesehen.«

»Mir geht’s gut.« Sie drückte für einen Moment ihre Wange gegen seinen Handrücken. »In den nächsten Tagen wird das ganze Dar-as-Salam nach Äpfeln duften. Ich will Saft machen, und Apfelmus. Damit kommt Mohan besser zurecht, solange er noch keine Zähne hat… halt, mein kleiner Löwe, das gibst du mal besser mir!« Sie nahm dem Baby eine Apfelspalte aus der Hand und ignorierte seinen empörten Protest. »Worüber hast du denn mit Azad geredet?«

»Über seine Albträume.« Vikram blickte über die Wiese hinweg zu Azad; inzwischen war Yussuf (zweifellos nach einem freundlichen »Anpfiff« von Alef) dazu übergegangen, mit Laub zu werfen anstatt mit Obst, und Sameera beti – beziehungsweise Ameera, wie inzwischen fast alle sie nannten – klaubte ihrem Bruder lachend ein paar Blätter aus den Haaren. »Er sagt, sie kommen jetzt nicht mehr ganz so häufig, und er sieht auch so aus, als ob er besser schläft als anfangs. Er vertraut mir; zum Glück habe ich mittlerweile einen ziemlich guten Draht zu ihm.«

»Wundert dich das?« Sameera betrachtete ihn. »Er fühlt sich sicher bei dir. Und er liebt dich – zwei Dinge, die ich absolut nachvollziehen kann. Mir geht es nämlich genauso.«

Vikram beugte sich rasch vor und küsste sie. »Vielen Dank. Übrigens – morgen kommt der Mann, der in Zukunft für die Sicherheit des Dar-as-Salam

sorgen soll.«

Sameera seufzte. Die Ereignisse des Frühjahrs hatten ihnen schmerzlich vor Augen geführt, wie verwundbar das Waisenhaus mitsamt seinen Bewohnern war, zumal wenn Vikram sich gerade nicht in Kashmir aufhielt (wie an jenem verhängnisvollen Tag ihrer Entführung durch Guptas Schergen). Najiha Kamaal, eine hochrangige Politikerin und gute Freundin der Sandeeps, hatte damals spontan ihren Leibwächter Janveer abgestellt, damit er in dieser Krisenzeit über das Dar-as-Salam wachte. Aber natürlich konnte das keine Dauerlösung sein, denn Najiha hatte mindestens ebenso viele Feinde wie Vikram und konnte nicht für immer auf den eigenen Schutz verzichten.

Sameera verstand das voll und ganz; dennoch war sie traurig, denn sie hatte Janveer sehr gern, und die Kinder mochten ihn ebenfalls, was angesichts der Tatsache, dass er sich wochenlang fast ständig im Heim aufgehalten hatte, ausgesprochen wichtig war. Wie der Neuankömmling mit ihren Schützlingen auskam, würde man erst noch sehen müssen. Und wie Vikram und sie mit ihm zurechtkamen, ebenfalls.

Sie griff nach Vikrams Hand.

»Es ist vieles so ganz anders gelaufen, als wir es geplant hatten«, sagte sie. »Denk nur an Zeenaths Hochzeit!«

Ihre älteste Pflegetochter hatte eigentlich schon vor zwei Monaten heiraten wollen. Nadim, der Sohn eines Hoteliers in Gulmarg, hatte sich im vergangenen Jahr zu Zeenaths freudiger Verwunderung Hals über Kopf in sie verliebt, während sie mit seinem Vater verhandelte, der ihre wunderschönen Stickereien in der Boutique seines Hotels verkaufte. Dass die beiden heiraten würden, war rasch beschlossene Sache gewesen, und das große Fest war für August geplant worden.

Aber dann war Anfang Juli der junge Widerstandskämpfer Burhan Wani bei einem Encounter mit Polizei und Militär ums Leben gekommen. Als Resultat war die Unruhe, die in Kashmir ständig unter der Oberfläche schwelte, jäh aufgeflammt und hatte sich binnen weniger Tage wie ein Flächenbrand ausgebreitet. Die Bevölkerung war auf die Straße gegangen, das Militär hatte auf die Demonstranten geschossen und das wunderschöne Tal war über Wochen in einem Strudel der Gewalt versunken. Ausgangssperren wurden verhängt, Flugverbindungen zwischen Kashmir und den restlichen Provinzen Indiens fast komplett eingestellt. In diesem Chaos war an eine große Feier mit vielen Gästen nicht mehr zu denken gewesen… ganz zu schweigen davon, dass die Sharmas aus Maharashtra anreisten, um mitzufeiern.

»Ich bin ja immer noch verblüfft darüber, wie schnell es dann am Ende doch gegangen ist«, sagte Vikram. »Nadims Familie muss wirklich sämtliche Pläne fertig in der Schublade gehabt haben, um nach der Aufhebung der allgemeinen Ausgangssperre sofort loslegen zu können. Innerhalb von nur einer Woche so ein Fest mitsamt einem ausgewachsenen Wazwan auf die Beine zu stellen, das muss man erst mal hinkriegen.«

»Und das Allerbeste daran war«, sagte Sameera leise, »dass du dabei warst und die Hochzeit mitfeiern konntest, mera jaan

Sie sah, wie ein Schatten sein Gesicht verdüsterte; er wusste ohne Zweifel ganz genau, woran sie in diesem Moment dachte. Am 2. Mai war ihr Peiniger Avan Gupta in einem ausgebrannten Flugzeughangar mit zerschmettertem Schädel aufgefunden worden. Wochenlang hatten die Behörden vergeblich nach dem Täter gesucht, bis die Aussage eines Mannes aus der Schreibstube der Polizeidirektion (der ironischerweise nie die Absicht gehabt hatte, Sameeras Mann zu belasten) Vikram ins Visier der Ermittler gerückt hatte. Man hatte ihn umgehend festgenommen und in Untersuchungshaft gesteckt, und wäre es nach Guptas Nachfolger Narendra Nikam gegangen, dann hätte er das Zentralgefängnis von Srinagar nie wieder verlassen – außer vielleicht mit den Füßen voraus.

Angesichts dieser üblen Aussichten hatte Raja Sharma alle Vorsicht in den Wind geschlagen und war noch während der schlimmsten Unruhen nach Kashmir gereist, um seinen Freund und Bruder zu entlasten. Zwar wusste er (ebenso wie Sameera selbst) verdammt gut, dass es tatsächlich Vikram gewesen war, der in jenem Hangar Rache an Gupta genommen hatte – aber angesichts dessen, was der Brigadier ihm und Sameera angetan hatte, war Raja mit diesem Akt der Selbstjustiz von Anfang an absolut einverstanden gewesen. Und dass Vikram deswegen jetzt im Gefängnis verrotten sollte, kam für ihn schon zweimal nicht in Frage. Also hatte er kurzerhand ein wasserdichtes Alibi für Vikram konstruiert und dieses vor der Staatsanwaltschaft zu Protokoll gegeben. Und da es dank Vikrams Umsichtigkeit keine stichhaltigen Beweise gegen ihn gab, war er schließlich vorerst gegen Kaution freigelassen worden. Seitdem musste er sich einmal pro Woche bei der Polizei melden und wartete ebenso wie Sameera sehnsüchtig auf den Tag, an dem die Ermittlungen gegen ihn endlich offiziell eingestellt wurden und er keine Kautionsauflagen mehr zu beachten brauchte.

Bei der Erinnerung an die Tage des Bangens, während der Mann, den sie mehr liebte als sich selbst, in einer Gefängniszelle saß, begann Sameera unwillkürlich zu zittern.

»Wenn ich mir vorstelle, sie hätten dich mir für immer weggenommen…«

»Keine Angst.« Vikrams Stimme war tief und beruhigend, und der zärtliche Druck seiner Finger schien sie zu erden. »Ich werde dich nie verlassen, meri jaan

Sie beugte sich vor, bis ihre Stirn seine Brust berührte. Mohan war zwischen ihnen eingenickt; sein rundes Babygesicht war ein Abbild seligen Friedens.

»Das hoffe ich«, flüsterte sie und schloss die Augen.

Ein Lied in der Nacht

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