Читать книгу Ein Lied in der Nacht - Ingrid Zellner - Страница 9

Оглавление

Kapitel 2

Unsterbliche Liebe

Raja Sharma liebte Lonavala. Genauer gesagt das Ferienhaus, das sein Freund Madhav Rao sich vor ein paar Jahren in diesem kleinen Ort im Deccan-Gebirge gekauft hatte, gut sechzig Kilometer entfernt von dem nahe Pune gelegenen Shivapur, wo Raja mit seiner Familie lebte. Seit Madhav aus beruflichen Gründen von Pune nach Goa gezogen war und Raja zuvor großzügig den Zweitschlüssel für sein Domizil zur Verfügung gestellt hatte, verging kaum ein Wochenende, an dem nicht entweder Raja selbst oder einer seiner Söhne den Wagen mit Familie und Lebensmitteln vollpackte und hierherkam, um in der erfrischenden Bergluft ein paar erholsame Tage zu verbringen.

Ein Lächeln umspielte Rajas Lippen, als er aus dem Fenster seines Schlafzimmers hinuntersah in den sonnenhellen, bunt blühenden Garten des Ferienhauses. Seine kleine Tochter Rani saß auf der steinernen Bank neben Sita und war offenbar gerade dabei, ihrer Mutter eifrig etwas in einem Buch zu erklären. Mittlerweile ging sie zur Schule und hatte es sich ganz eindeutig zur Aufgabe gemacht, ihre Eltern ausgiebig an all den spannenden Dingen teilhaben zu lassen, die man dort lernte.

Er selbst hatte bereits einen arbeitsreichen Vormittag hinter sich – er hatte sich um die Auffüllung des Brennholzvorrats für die allseits beliebte Feuerschale gekümmert. Nun sehnte er sich nach einer Dusche. Also ging er ins Bad und begann, sich zu entkleiden. Dabei streifte sein Blick den großen Badezimmerspiegel, und er hielt einen Moment inne und betrachtete nachdenklich sein Spiegelbild.

Wie Frankenstein nach dem Frühstück, hatte Vishal seinen Anblick vor kurzem in Shivapur trocken kommentiert. Zum Glück kannte Raja seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass diese Bemerkung humorvoll gemeint war… gut, wohl eher Galgenhumor, aber in jedem Fall nicht böse. Und es stimmt ja auch, dachte Raja, als er vorsichtig die langen, dunkelroten Narben auf seiner Brust betastete, wo vor gut sechs Monaten ein paar betrunkene, grölende Paramilitärs sich gegenseitig die Schärfe ihrer Messerklingen vorgeführt hatten. Auch die mehrschwänzige Peitsche ihres Anführers Djamal Kamil hatte deutliche Spuren auf ihm hinterlassen; unwillkürlich drehte Raja sich um und blickte über seine Schulter, um seinen völlig vernarbten Rücken im Spiegel zu begutachten. Wenigstens waren die Hämatome, die seine Haut am ganzen Körper abwechselnd blau, grün, gelblich und lila verfärbt hatten, mittlerweile verschwunden, und auch die vielen kleinen kreisrunden Stellen, wo seine Peiniger ihre Zigaretten auf ihm ausgedrückt hatten, verblassten allmählich. Dafür hatten die Silberfäden, die sein dunkelbraunes Haar durchzogen, sich zuletzt geradezu explosionsartig vermehrt. Seis drum. Das war definitiv das kleinste Übel.

Er atmete tief durch. Manchmal erschien es ihm immer noch wie ein Wunder, dass er die sieben Tage Gefangenschaft in Djamal Kamils Folterhölle vergleichsweise gut und ohne allzu gravierende Folgeschäden überstanden hatte. Dass er jetzt an der linken Hand nur noch vier Finger hatte (der kleine war nach einer Begegnung mit Kamils Schlachtermesser im Lager geblieben), damit kam er erfreulich gut zurecht. Und dass kaum eine Nacht ohne Albträume verging – daran war er zu seinem Leidwesen längst gewöhnt. Schließlich hatte er sein halbes Leben im Gefängnis verbracht und auch aus dieser Zeit Narben davongetragen – sichtbare wie unsichtbare.

Aber er hatte in dieser Zeit auch gelernt, sich von nichts brechen zu lassen. Das Leben ging stets weiter. Was sich nicht ändern ließ, damit musste man klarkommen, egal wie. Man musste nach jedem Fall und jedem Schicksalsschlag wieder aufstehen, um weiterzumachen, immer. Und aus jeder Prüfung, der man sich stellte, anstatt vor ihr davonzulaufen, ging man am Ende gestärkt hervor. Es waren oft sehr bittere Lektionen gewesen… aber nur dank ihnen lebte er noch.

Und manchmal bekamen selbst schlimmste Leiden am Ende sogar so etwas wie einen Sinn. In diesem Fall betraf das den unterdrückten Jungen namens Azad, den Raja in Kamils Lager kennengelernt hatte. Sie hatten sich angefreundet, einander in Stunden größter Not beigestanden, und Raja hatte ihm vom Dar-as-Salam erzählt – in der Hoffnung, dass dem Jungen eines Tages die Flucht gelingen und er dann bei Vikram ein neues Zuhause finden möge. Genau so war es schließlich gekommen… und als Krönung war Azad im Haus des Friedens auch noch mit seiner Schwester wiedervereint worden. Allein das war die ganzen Schmerzen und Demütigungen in dem Lager irgendwie wert gewesen.

Er bedachte sein Spiegelbild mit einem schiefen Lächeln, stellte sich unter die Dusche und drehte den Hahn auf. Schon bald lief angenehm warmes Wasser über seinen Körper, und er schloss die Augen, als er sein Gesicht in den kräftigen Strahl hielt. Sein Gesicht mit der großen, dunkelroten Narbe direkt unter dem Haaransatz rechts und der alten, tief eingekerbten Narbe auf der rechten Wange. Zum Glück hatte Rani sich sehr schnell an diesen Anblick gewöhnt; sie liebte es sogar, ihrem Papa Küsschen auf die Stirnnarbe zu geben. »Damit es dir nicht mehr so wehtut, da, wo diese gemeinen Männer dich gehauen haben.«

Natürlich hatten er und Sita Rani keine Einzelheiten über seine Zeit in dem Lager erzählt. Aber die Gelassenheit, mit der seine kleine Prinzessin seine Verunstaltung hinnahm, hatte Raja dazu ermutigt, noch einen Schritt weiter zu gehen. Sita war zunächst dagegen gewesen; ihrer Ansicht nach war es noch zu früh dafür. Aber schließlich hatte Raja sie überzeugt. Rani war jetzt sechs Jahre alt, sie ging zur Schule, und bevor sie dort unvorbereitet Kommentare von Mitschülern hörte wie »Dein Papa war doch mal im Knast, oder?«, war es mit Sicherheit besser, ihr vorher schon die Wahrheit zu sagen. Selbstverständlich ohne all die grauenhaften Details… aber eben das Wichtigste: Es gab mal eine Zeit, lange bevor du auf der Welt warst, mein Schatz, da war dein Papa im Gefängnis. Man hatte ihn dort eingesperrt, weil man dachte, er hätte einer Frau sehr wehgetan und sie umgebracht. Aber das stimmte nicht. Dein Papa war unschuldig. Leider hat man das erst nach fünfundzwanzig Jahren herausgefunden – aber nun ist dein Papa wieder frei, und er war nie ein Verbrecher.

Rani hatte ihn mit großen Augen angeschaut, als er ihr das erzählte. Dann hatte sie ohne Zögern erklärt, dass ihr Papa der beste Papa der Welt sei und dass es voll gemein gewesen wäre, ihn so lange einzusperren. Und dass hoffentlich nie, nie, nie wieder jemand so fies zu ihrem Papa sein würde.

Raja lächelte bei dieser Erinnerung, während er sich nach Rosmarin duftendes Shampoo ins Haar massierte. Seine kleine Tochter war genauso ein Schatz wie seine Frau. Und da sie mittlerweile neben den Misshandlungsspuren in seinem Gesicht und dem Stumpf an seiner linken Hand auch schon die eine oder andere Narbe auf seinen Unterarmen und in seinem Hemdausschnitt kannte, hatte er es einige Zeit danach sogar gewagt, sie behutsam auf den Rest vorzubereiten – auch das aus ganz praktischen Überlegungen heraus; immerhin bestand in ihren eigenen vier Wänden jederzeit die Möglichkeit, dass Rani ihn irgendwann einmal zufällig mit entblößtem Rücken zu Gesicht bekam, und den Schock, den sie dann mit Sicherheit bekommen würde, wollte er ihr ersparen.

Also hatte er ihr erzählt, dass man im Gefängnis nicht immer gut zu ihm gewesen war, dass man ihn auch manchmal geschlagen hatte – und dass die Spuren davon immer noch zu sehen waren. Und dann hatte er seine Kurta abgestreift und ihr viel Zeit gegeben, ihn von allen Seiten zu betrachten und sich damit vertraut zu machen, dass diese vielen Narben zu ihrem Papa gehörten und dass das nichts war, wovor sie erschrecken musste. Er hatte sie seine Narben betasten lassen und ihr (wenn auch nicht völlig wahrheitsgemäß) versichert, dass das alles jetzt nicht mehr wehtat. Und dann hatte sie tröstend die Arme um seinen Hals geschlungen und sich liebevoll an ihn geschmiegt, während er sie mit einem Gefühl unendlicher Erleichterung an sich gedrückt hatte.

Er spülte sich die Schaumreste aus den Haaren. Dass er jetzt auch in diesem Punkt offen mit seiner Tochter umgehen konnte, machte ihm vieles leichter. Irgendwann, in ein paar Jahren, würde er ihr vielleicht noch mehr erzählen. Auch von seiner Gefangenschaft in dem Paramilitär-Lager… die er eigentlich gar nicht hätte überleben sollen; schließlich hatte Avan Gupta, ein alter und geschworener Feind Vikrams, ihn ein für alle Mal beseitigen wollen, weil Raja zufällig zum Zeugen und Mitwisser eines seiner zahllosen Verbrechen geworden war. Dass er trotzdem noch lebte, verdankte Raja zum einen dem Umstand, dass Gupta ihn noch als Geisel gebraucht hatte und Kamils Bande ihn deshalb nicht sofort genüsslich in seine Einzelteile hatte zerlegen dürfen. Und zum anderen natürlich dem Rettungsteam, das ihn in einer waghalsigen Aktion aus dem Lager befreit hatte – allen voran Vikram, sein geliebter Freund und Bruder, dazu dessen ehemaliger Armeegefährte Resul Hasrad, Rajas ältester Sohn Surya und Vishal, sein brother from another mother aus den alten Gefängniszeiten. Niemals würde er ihnen das vergessen.

Er drehte den Duschhahn zu, fuhr sich mit allen neun Fingern durch das nasse Haar und griff nach dem großen, flauschigen Badetuch, das auf der Ablage bereitlag. Während er sich trockenrieb, wanderten seine Gedanken zum Dar-as-Salam in Kashmir. Am Vorabend hatte er endlich mal wieder kurz mit Vikram dort telefonieren können. Das Netz bricht immer noch regelmäßig zusammen, hatte Vikram geseufzt, und wir müssen jederzeit mit neuen Ausgangssperren rechnen, die Leute haben sich noch lange nicht beruhigt. Ständig kracht es wieder irgendwo. Manchmal frag ich mich, ob das jemals aufhört. Wahrscheinlich nicht. Die Fronten sind zu verhärtet.

So weh ihm das auch tat, aber Raja musste ihm zustimmen. Seit er vor zweieinhalb Jahren zum ersten Mal nach Kashmir gekommen war, hatte er nicht nur die Schönheiten, sondern auch die Schattenseiten dieses Tals kennengelernt. Und das nach dem Tod von Burhan Wani ausgebrochene Chaos hatte er im Juli hautnah miterlebt. Ohne die Hilfe ihres gemeinsamen Freundes Nanda Singh, Colonel der indischen Abwehr, der ihm den Mitflug in einer Militärmaschine ermöglicht hatte, hätte er es wohl gar nicht erst nach Srinagar geschafft, zumindest nicht so schnell – und was Vikram in seiner Untersuchungshaft dann noch alles gedroht hätte, darüber mochte Raja gar nicht erst nachdenken. Wenn jemand wusste, wie es hinter Gefängnismauern zuging, dann er.

Auch deshalb hatte er damals, nachdem er von Vikrams Verhaftung erfahren hatte, umgehend die Operation Heermeister in die Wege geleitet. Die Idee, seinen Freund für die Tatnacht (die zugleich die Nacht seiner Befreiung aus dem Lager war) mit einem astreinen Alibi auszustatten, konnte natürlich nur funktionieren, wenn alle, die damals dabei waren, an einem Strang zogen und bereit waren, ein gewisses Risiko einzugehen. Zum Glück hatten Surya, Vishal und Resul keinerlei Skrupel gehabt, ebenso wie Raja eine faustdicke Falschaussage bei der Polizei zu machen und diese notfalls sogar vor Gericht und unter Eid zu wiederholen. Für unseren Kommandanten mach ich alles, hatte Vishal kurz und bündig erklärt, und Surya hatte hinzugefügt: Vikram hat dich aus dem Lager rausgeholt, da lassen wir ihn jetzt doch nicht hängen! Auf mich kannst du zählen, babuji.

Sie hatten die Version, die Raja bei der Polizei in Kashmir zu Protokoll geben würde, so lange gemeinsam nach Schwachstellen abgeklopft und in jeder noch so kleinen Einzelheit festgelegt, bis sie sich absolut sicher waren, dass es bei ihren Aussagen zu keinen Widersprüchen kommen würde. Dennoch war Raja selten so angespannt gewesen wie während seines Verhörs durch Staatsanwalt Kode und diesen Giftzwerg Narendra Nikam in Srinagar… ganz zu schweigen von den Tagen, die er danach in polizeilichem Hausarrest ausharren musste, bis auch die anderen drei Aussagen vorlagen. Er wusste: Beim geringsten Fehler drohte ihnen allen Gefängnishaft. Ein Risiko, das Vikram ihm zwar durchaus wert war (auch wenn er während des Verhörs wohlweislich das Gegenteil beteuert hatte) – aber es wäre doch ein verdammt unerfreuliches Ende seiner Operation Heermeister gewesen.

Sein Gesicht verzog sich zu einem grimmigen Lächeln. Bloß gut, dass er auch das seinerzeit im Knast gelernt hatte: Frechheit siegt.

Er schlüpfte in eine dunkelblaue Kombination aus Kurta und Churidars und hängte sich die Silberkette mit dem Ganesha-Anhänger um, die Sita ihm vor ein paar Wochen geschenkt hatte. Dann ging er über die große, geschwungene Treppe nach unten und in den Eingangsbereich des Hauses, wo Rani ihm von draußen entgegengerannt kam und trotz seiner Vollbremsung frontal mit ihm kollidierte.

»Hoppla!« Er lachte laut und nahm seine Tochter mit Schwung auf den Arm. »Bist du etwa auf der Flucht, mein Schatz?«

Sie quietschte vergnügt. »Nein – aber ich hab eine ganz tolle Idee für ein Bild, und das muss ich jetzt sofort malen!«

»Na, dann nichts wie los!« Raja setzte sie auf dem Boden ab. »Darf ich das Bild dann nachher sehen, wenn es fertig ist?«

»Klar«, strahlte Rani und flitzte nach oben. Raja hörte gerade noch, wie sie anfing, lauthals einen Filmschlager zu trällern, ehe sich die Tür zu ihrem Zimmer hinter ihr schloss. Er lächelte in sich hinein. Rani hatte ganz eindeutig die Musikalität ihrer Mutter geerbt, die großartig tanzen konnte und eine wunderschöne Singstimme hatte. Sein Bruder Vikram wusste schon, warum er Sita so gerne ›meri sangeetkar‹ nannte.

Er ging nach draußen auf die Veranda und wartete dort, als er sah, dass nun auch Sita über den gepflegten Rasen auf ihn zukam. Ein Salwar Kameez aus fließendem fliederfarbenem Stoff umschmeichelte ihre schlanke Figur, das lange dunkle Haar fiel ihr offen den Rücken hinab und ihre nussbraunen Augen leuchteten auf, als sie ihn sah.

»Puh!«, stöhnte sie lachend. »Wieder ein neues Märchen gelernt. Aber demnächst ist unsere lesehungrige Tochter durch mit diesem Buch, dann werden wir für Nachschub sorgen müssen.«

»Vielleicht solltest du deine didi mal dazu anregen, ihren reichen Schatz an selbsterfundenen Märchen aufzuschreiben«, schmunzelte Raja. »Ich hab gerade überlegt, ob ich uns einen Chai koche; möchtest du einen?«

»Gern«, antwortete Sita und küsste ihn auf die Wange. »Ich komm mit, dann kann ich gleich das Alu Gobhi für heute Abend vorbereiten.«

Sie gingen in die Küche. Während Raja Gewürze mörserte, leicht anröstete und mit Wasser ablöschte, beobachtete er immer wieder verstohlen Sita, wie sie routiniert Kartoffeln schälte und würfelte. In der ersten Zeit nach seiner Gefangenschaft in dem Lager hatte er unter einer regelrechten Messerphobie gelitten, und an ganz schlechten Tagen kreuzte er immer noch beim bloßen Gedanken an eine scharfe Klinge panisch die Arme vor der Brust mit den langen roten Narben. Immerhin gelang es ihm inzwischen wieder, ein Messer in die Hand zu nehmen und zumindest ein paar Stücke Obst oder Gemüse zu schneiden, bevor sich wieder alles in ihm zusammenzog und er aufhören musste. Nichtsdestotrotz betrachtete er jede Zwiebel und jede Kartoffel, die er kochfertig zerkleinerte, als einen Fortschritt, der ihn hoffnungsvoll stimmte – auch wenn er an einer Herausforderung nach wie vor scheiterte: Beim Zerteilen von rohem Fleisch konnte er nicht einmal zusehen. Allein die Vorstellung, wie die Klinge durch ein Stück Hühneroder Lammfleisch glitt, löste bei ihm Schweißausbrüche und würgende Übelkeit aus.

Er goss Milch in das simmernde Gewürzwasser, fügte Zucker und Teeblätter hinzu und ließ das Ganze kurz aufkochen. Dann nahm er den Topf vom Herd, damit der Chai ziehen konnte, stellte sich neben Sita und griff entschlossen nach dem Blumenkohl. Zum Glück verschonte Sita ihn mit besorgten oder überängstlichen Einwänden; sie überließ seinen Umgang mit diesem lästigen psychischen Folgeschaden seiner Lagerfolter ganz und gar ihm.

Unter Aufbietung seiner gesamten Willenskraft schaffte er es, den Blumenkohl komplett in kleine Röschen zu zerteilen, bevor er das Messer erleichtert beiseitelegte. Sita bedachte ihn mit einem anerkennenden Blick, als sie die Schüssel entgegennahm. Sie kippte den Inhalt zusammen mit ihren Kartoffelstücken und gehackten Chilischoten in einen Karahi, in dem bereits eine Menge kleiner Zwiebelwürfel und Kreuzkümmelsamen in heißem Ghee brutzelten. Während sie das Ganze unter Rühren anbraten ließ, fügte Raja mehrere Gewürze und geriebenen Ingwer hinzu. Schließlich hob Sita noch kleingehackte Tomaten, Salz und etwas Joghurt unter, goss eine Tasse Wasser dazu und legte den Deckel auf.

»Jetzt wäre ein Chai recht«, stellte sie fest. Raja nickte, füllte den Inhalt seines Topfes durch ein Sieb in die große Thermoskanne, schenkte zwei Gläser voll und reichte eines seiner Frau.

»Danyavaad – danke, Raja!«

Sie tranken ihren Chai in einträchtigem Schweigen, während das Alu Gobhi langsam vor sich hin köchelte. Abwechselnd rührten sie immer wieder darin um, bis das Gemüse weich war und sie das Werk mit etwas Limettensaft und Garam Masala vollendeten. Dann schalteten sie den Herd aus, nahmen den restlichen Chai mit nach draußen und ließen sich auf der steinernen Bank nieder. Sita gab einen glücklichen Seufzer von sich und lehnte sich an ihn.

»Ich liebe dieses kleine Paradies«, sagte sie. »Noch vor einem Jahr hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass ich mich hier jemals wieder so wohlfühlen könnte. Aber inzwischen denke ich komischerweise nur noch selten an Ismail Fateh Rehman, wenn ich hierherkomme. Die guten Erinnerungen haben eindeutig die Oberhand gewonnen.«

Raja nickte. Natürlich würde keiner von ihnen den Anschlag auf die Sandeeps, als sie im August des vergangenen Jahres zu Besuch hier waren, jemals vergessen. Aber letzten Endes war es wie mit seiner Lagerhaft im Frühjahr: Es war vorbei, man hatte überlebt, und nur das zählte. Das Leben ging stets weiter.

»Geht mir ebenso«, erwiderte er. »Und Vikram und Sameera hoffentlich auch.«

»Bestimmt«, lächelte Sita. »Schließlich haben sie außer dem Schrecken auch die wunderbarste Erinnerung von allen aus Lonavala mitgenommen. Die ist mittlerweile übrigens siebzig Zentimeter groß und wiegt stolze sieben Kilo – jedenfalls laut der Mail, die ich heute früh von Sameera bekommen habe.«

»Der chhota sher ist offenbar wild entschlossen, genauso groß und stark zu werden wie sein Vater«, stellte Raja fest. »Ich hoffe nur, dass wir zu Weihnachten problemlos nach Kashmir fliegen können; ich freu mich so sehr darauf, den Kleinen wiederzusehen – ihn und all die anderen Kinder. Es ist ein Gefühl… eine Vorfreude, als käme ich nach Hause.«

»In gewisser Hinsicht ist das ja auch so«, erwiderte Sita. »Sameera, Vikram und die Kinder gehören zu unserer Familie, und ihr Dar-as-Salam ist doch schon lange so etwas wie unser zweites Zuhause geworden.«

»Unser?« Überrascht sah Raja seine Frau an; dass er selber sich in dem Haus des Friedens daheim fühlte, war allgemein bekannte Tatsache, aber Sita hatte das noch nie so ausgesprochen.

»Natürlich.« Sie schmiegte sich an ihn. »Dort leben meine didi und mein bada sher und noch viele andere Menschen, die ich liebgewonnen habe. Kashmir ist schön. Abgesehen davon: Wo du zuhause bist, da bin auch ich zuhause.«

»Ich sehe schon«, schmunzelte Raja, »in unserem nächsten Leben müssen wir unbedingt als Kashmiris zur Welt kommen.«

Sie richtete sich auf und sah ihn an.

»Von mir aus gerne«, entgegnete sie. »Aber das ist für mich zweitrangig. Ob wir im nächsten Leben in Kashmir geboren werden oder in Shivapur oder am anderen Ende der Welt – das ist mir egal. Hauptsache, ich darf auch dann wieder deine Frau werden.«

Sie lächelte, und Rajas Herz machte einen freudigen Satz. Immer noch, dachte er. Auch nach mittlerweile fünfunddreißig Jahren. Gott, wie ich dieses wunderschöne Lächeln liebe!

»Was denkst du denn«, sagte er und zog sie liebevoll an sich. »Du wirst immer meine Frau und meine große Liebe sein, in diesem Leben, im nächsten Leben und egal wie oft wir uns noch wiederbegegnen werden. Und ich verspreche dir, ich werde dich nie wieder über fünfundzwanzig Jahre lang warten lassen.«

»Das ist ein Wort«, versetzte Sita. »Vor allem, wenn unsere Ehe auch dann so glücklich wird wie in den fünfeinhalb Jahren, die wir jetzt verheiratet sind.«

»Ist das so?«, fragte er leise. »Bist du glücklich, meri chandni?«

»Fragst du das im Ernst?« Verwundert sah sie zu ihm auf.

Er erwiderte ihren Blick, und plötzlich lächelte er.

»Nein. Nicht wirklich.«

Er neigte sich über sie, und ihre Lippen begegneten einander… erst sanft, dann immer leidenschaftlicher. Die Wärme, die ihn dabei durchflutete, kam nicht nur von den Strahlen der hell scheinenden Sonne, und der zarte Blumenduft, der ihn umfing, stammte nicht nur von den unzähligen farbenprächtigen Blüten in dieser friedlichen kleinen Oase.

Er liebte Lonavala. Noch mehr liebte er Kashmir.

Und am allermeisten liebte er Sita.

***

Mit einem leichten Ruck setzte die Maschine auf der Landebahn auf, rollte langsam aus und kam mit laut quietschenden Bremsen zum Stehen. Raja atmete durch; auch die zweite Etappe ihrer Anreise war geschafft. Frühmorgens in Pune gestartet, waren er und Sita am späten Vormittag in Delhi eingetroffen und hatten bis zu ihrem Weiterflug noch Zeit gehabt, sich auf einen Kaffee mit Colonel Nanda Singh zu treffen. Leider war dieses Wiedersehen sehr kurz ausgefallen, und Raja musste Nanda fest versprechen, es beim nächsten Mal so einzurichten, dass sie etwas länger in Delhi bleiben konnten. Zum Abschied hatte Nanda ihnen schließlich noch ein Päckchen in die Hand gedrückt: »Aber erst morgen aufmachen, ja?«

Natürlich hatten sie ihm sofort ihr Ehrenwort gegeben. Erst morgen würden sie den Inhalt des Päckchens inspizieren. Morgen – am 1. Dezember.

Dass sie ihren gemeinsamen Geburtstag diesmal nicht wie sonst zu Hause verbringen würden, lag an dem Geschenk, das ihre Familie sich in diesem Jahr für sie ausgedacht hatte. Ihre Söhne, Schwiegertöchter und engsten Freunde hatten alle zusammengelegt, und das Ergebnis war ein Umschlag mit Flugtickets und Hotelbuchungsbestätigung gewesen, den Surya seinen Eltern zwei Wochen zuvor nach ihrer Rückkehr aus Lonavala feierlich überreicht hatte. Angesichts des Inhalts waren ihnen beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen – aber seitdem hatten sie sich auf ihren Geburtstag gefreut wie kleine Kinder. Vishal und seine Frau Pooja, die zusammen mit ihnen im gleichen Haus lebten, hatten Rani für die drei Tage, die sie fortbleiben würden, zu sich genommen, und Rani hatte ihren Eltern mit einem schelmischen Lächeln erklärt: Dass sie diesen Ausflug ohne sie machen durften, sei ihr, Ranis, Geburtstagsgeschenk für sie beide.

Was sie jedoch nicht daran gehindert hatte, ihnen an diesem Morgen vor ihrer Abreise eine kleine Schachtel zuzustecken, die sie unbedingt noch mitnehmen sollten.

All das ging Raja durch den Kopf, während er bei der Gepäckausgabe auf seine Reisetasche wartete und sich dann mit Sita zum Ausgang begab. Schnell fanden sie unter all den Wartenden den Mann mit dem SHARMA-Schild in den Händen, der sie abholen sollte, und nach einer kurzen Fahrt in einer klimatisierten Limousine hatten sie ihr Ziel des Tages erreicht: ein Fünf-Sterne-Hotel, wie es für sie sonst in ihren wildesten Träumen nicht in Frage gekommen wäre. Aber ihre Kinder waren offenbar der Ansicht gewesen, dass für ihre Eltern an deren Geburtstag nur das Beste gut genug war. Verrückte, geliebte Bande.

Ein livrierter Angestellter des Hotels übernahm ihr Gepäck, führte sie von der Rezeption durch die elegante Eingangshalle zu einem Aufzug und begleitete sie in ihre geschmackvoll eingerichtete Suite im obersten Stockwerk. Die Vorhänge vor dem großen Panoramafenster waren noch zugezogen, und während Raja den Angestellten mit einem Trinkgeld entlohnte, machte Sita sich daran, sie beiseitezuschieben.

»Raja!«, hauchte sie atemlos, als sich die Tür hinter dem Mann in Livree geschlossen hatte. »Raja, schau!«

Raja trat neben sie und holte tief Luft; dann legte er den Arm um ihre Schultern und küsste sie sanft auf den Scheitel, bevor auch er wortlos in dem Anblick versank, der Sita so überwältigt hatte: Hinter dem Dächermeer Agras, das sich vor ihnen erstreckte, erhob sich, wie zum Greifen nah, der weißschimmernde Prachtbau des Taj Mahal.

***

Um halb sechs Uhr am nächsten Morgen klopfte es an ihrer Zimmertür. Die freundliche Dame unten an der Rezeption hatte ihnen am Vorabend geraten, sich schon möglichst früh abholen zu lassen – dann sei die Schlange vor dem Südlichen Tor noch nicht ganz so lang und sie könnten das wunderbare Grabmal auch schon im Morgenlicht bewundern. Also hatte Raja ihren lokalen Guide für sechs Uhr bestellt, und der Hotelservice hatte bereitwillig seinen und Sitas Wunsch notiert, eine halbe Stunde vorher ein Tablett mit Chai und Parathas in ihre Suite geliefert zu bekommen.

Bevor sie später zu Bett gegangen waren, hatten sie noch einen kleinen Geburtstagstisch aufgebaut: Ranis Schachtel, Nandas Päckchen, das Paket aus Srinagar, das einen Tag vor ihrer Abreise eingetroffen und sofort in ihr Reisegepäck gewandert war, und dazu noch ihre eigenen Geschenke. Dann waren sie zusammen in das stilvoll gestaltete Badezimmer mit den goldschimmernden Armaturen gegangen und hatten sich nackt und glücklich aneinandergeschmiegt, während das warme Wasser aus der großen Regenwalddusche an ihnen hinabfloss. Wieder und wieder küssten sie sich und flüsterten einander Zärtlichkeiten ins Ohr. Und sie hörten damit auch nicht auf, als sie schließlich eng umschlungen in das riesige Doppelbett sanken und sich liebten – bis in ihren Geburtstag hinein.

»Janamdin mubarak ho, meri chandni. Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich, Raja. Mubarak ho.«

Raja lächelte leise bei dieser Erinnerung, als er nun dem livrierten Angestellten mit dem Frühstückstablett öffnete. Der Mann wünschte freundlich einen guten Morgen und servierte an dem runden Tisch in ihrer Suite eine Platte mit duftenden Parathas, ein Schälchen mit cremig gerührtem Joghurt und eine silberglänzende Kanne mit Chai, aus der er sofort in zwei schön geschwungene Porzellantassen einschenkte. Ein angenehmes Aroma aus Tee, Zimt und Kardamom verbreitete sich in dem Raum, als Raja den Mann mit einem kleinen Rupienschein verabschiedete. Im gleichen Moment, als die Tür sich hinter ihm schloss, kam Sita aus dem Badezimmer, und ihre Augen leuchteten auf, als sie Raja erblickte. Sie hatte ihn dringend gebeten, ihr Geschenk an ihn schon vorab zu öffnen, bevor er sich anzog, und als er das Päckchen geöffnet hatte, wusste er auch, warum: Sita hatte eine neue, smaragdgrüne Kurta mit dazu passenden Churidars für ihn genäht; von der Brust aus rankten goldglitzernde Applikationen wie sanft züngelnde Flammen zu beiden Seiten des Ausschnitts empor und verbreiteten sich von dort über die Schultern und die halben Ärmel hinab.

»Steht dir gut«, stellte sie zufrieden fest. »Gefällt sie dir?«

»Fast so gut wie du, meri chandni«, erwiderte er. »Du siehst bezaubernd aus.« Er bewunderte ihren Sari in genau der gleichen Farbe wie seine neue Kurta, die wunderbar mit ihrem Mangalsutra harmonierte – einer Goldkette mit einem dreieckigen Anhänger, der mit fünfundzwanzig kleinen Smaragden und Rubinen besetzt war. Fünfundzwanzig Jahre der Hoffnung und der Liebe, in denen sie durch mehr als nur Kerkermauern getrennt gewesen waren.

Er küsste sie liebevoll, dann legte er den Kopf leicht schräg, und sein Blick wurde kritisch. »Nur die Ohrringe passen nicht so recht, finde ich.«

»Ach ja?« Sita richtete sich kerzengerade auf, und ihre Augen blitzten; sie kannte ihren Mann viel zu gut, um nicht genau zu wissen, was jetzt kommen würde.

»Na komm, ich bitte dich«, entgegnete er in wegwerfendem Tonfall. »Diese Jhumkas sind ja ganz hübsch… aber vielleicht versuchst du es heute doch besser hiermit.«

Er lächelte, als er ihr sein Geschenkpäckchen überreichte, und das Lächeln wurde noch breiter, als sie es gespannt öffnete – und sich angesichts des Inhalts erst einmal setzen musste.

»Mein Gott – Raja

Sie hielt einen der beiden Ohrringe hoch und betrachtete ihn atemlos. Von einem fein ziselierten goldenen Bogen hingen fünf schmale, biegsame Goldbänder herab, die wie das Mangalsutra mit winzigen Smaragden und Rubinen besetzt waren.

»Fünfundzwanzig pro Ohrring«, erläuterte Raja mit großer Wärme. »Also insgesamt fünfzig – für die jüngste, schönste und beste fünfzigjährige Ehefrau aller Zeiten.«

»Du… du bist verrückt!«

»Ja«, bestätigte Raja. »Verrückt nach dir.«

Sie bedankte sich mit einem langen, leidenschaftlichen Kuss. Dann ließen sie sich an dem Frühstückstisch nieder, und während sie ihre erste Tasse Chai genossen, ersetzte Sita mit einer geübten, anmutigen Geste ihre schlichten Goldohrringe durch die neuen Schmuckstücke. Liebevoll sah Raja ihr dabei zu. Eigentlich brauchst du ja gar keinen Schmuck, um für mich die schönste und begehrenswerteste Frau der Welt zu sein, dachte er. Aber ich gönne dir diese Freude von Herzen, meri chandni.

Als nächstes öffneten sie Ranis Schachtel; sie enthielt Laddoos, die, wie sie der beiliegenden Karte entnehmen konnten, Rani zusammen mit Pooja für ihre Eltern gemacht hatte. Sofort steckten sie sich gegenseitig feierlich je eine der sündhaft süßen Kugeln in den Mund und beschlossen, dafür nachher noch nach einem extra schönen Souvenir für ihre Tochter zu suchen. Nanda Singh hatte ihnen den Kriminalroman Der Pate von Bombay von Vikram Chandra geschenkt; Raja erinnerte sich, dass sie einmal über diesen Autoren gesprochen hatten und er dabei hatte zugeben müssen, dass er die Geschichte um den Sikh-Kommissar Sartaj Singh noch nicht gelesen hatte. Offenbar betrachtete Nanda, der ja ebenfalls Sikh war, dies als eine Wissenslücke, die es unbedingt zu schließen galt.

Zuletzt war nur noch das Paket aus Srinagar übrig.

»Wollen wir das für später aufheben, wenn wir zurückkommen?«, schlug Sita vor. »Es ist viertel vor sechs, die Parathas werden kalt, und wir sollten uns schon noch ein wenig stärken, bevor wir demnächst stundenlang auf den Beinen sind. Das Paket läuft uns ja nicht weg.«

»Wo du recht hast, hast du recht«, stimmte Raja ihr zu. »Darf ich dir noch etwas Chai einschenken?«

»Gern, danke«, erwiderte sie und hielt ihm ihre Tasse entgegen.

***

Erstaunlich pünktlich erwartete sie an der Rezeption ihr Guide, der sich ihnen als Ashish vorstellte. Das Hotel stellte den Wagen und den Fahrer, der sie zu dem weltberühmten Mausoleum fuhr. Das letzte Stück von dem Ticket-Gebäude bis zu dem Eingang in der hohen Außenmauer, der zum Südlichen Tor führte, legten sie mit einem batteriebetriebenen Kleinbus zurück. »Andere Fahrzeuge sind im näheren Umkreis des Taj Mahal nicht mehr gestattet, weil die Abgase dem Marmor schaden«, erklärte Ashish.

Trotz der frühen Morgenstunde hatte sich schon eine mittlere Menschenschlange eingefunden, die in das Innere der Anlage gelangen wollte. Raja und Sita störte das nicht im Geringsten; zu groß war ihre Vorfreude. Und schließlich hatten sie den ganzen Tag Zeit für diesen Traum, den ihre Kinder und Freunde ihnen ermöglicht hatten.

Stück für Stück arbeiteten sie sich vorwärts, bis sich schließlich vor ihnen das aus rotem Sandstein errichtete Südliche Tor erhob, das für sich allein schon ein Prachtbau war mit seinen kostbaren Intarsienarbeiten, die Tor- und Nischenbögen einrahmten: Kunstvoll in weißen Marmor eingearbeitete Halbedelsteine bildeten farbige Ranken aus Blättern und Blüten und kalligraphische arabische Schriftzüge aus dem Koran.

Und dann war es so weit: Hand in Hand traten Raja und Sita durch den großen Torbogen in den Innenbereich. Hatten sie zuvor noch leichtes Bedauern über den Nebel empfunden, der ganz Agra an diesem Morgen einhüllte und die Sonne verdeckte, so war das in diesem Augenblick vergessen, als das Taj Mahal vor ihnen auftauchte – wie eine Erscheinung, ein Mysterium aus einer anderen, geheimnisvollen Welt jenseits der silbrigzarten Nebelschwaden.

Minutenlang standen sie einfach nur wie verzaubert da, um den Anblick in sich aufzunehmen und zu bewahren. Ashish ließ ihnen alle Zeit der Welt. Erst als sie sich nach ihm umsahen, war er wieder zur Stelle und führte sie durch die gesamte Anlage, verwies auf die seitlich gelegenen Gästehäuser und die Moschee und erzählte ihnen die Geschichte des Großmoguls Shah Jahan, der Mitte des 17. Jahrhunderts dieses einzigartige Grabmal für seine Lieblingsfrau, die persische Prinzessin Mumtaz Mahal hatte erbauen lassen, die bei der Geburt ihres vierzehnten Kindes gestorben war. Mindestens siebzehn Jahre lang, so erläuterte Ashish, wurde an dem Mausoleum gearbeitet; aus ganz Asien wurde das Material mit Elefanten an den Jamuna-Fluss gebracht, und gut zwanzigtausend Arbeiter errichteten aus schimmernd weißem Marmor das Symbol von Shah Jahans unsterblicher Liebe.

Nachdem sie noch das Innere des Grabmals mit den Sarkophagen von Mumtaz Mahal und Shah Jahan besichtigt hatten, verneigte Ashish sich leicht vor ihnen.

»Ich lasse Sie jetzt allein. Nehmen Sie sich so viel Zeit, sich umzusehen und das Taj Mahal zu genießen, wie Sie möchten. Dort hinten bei den Bäumen sind Bänke, dort werden Sie mich finden, wenn Sie Fragen haben oder zurück ins Hotel wollen. Ich wünsche Ihnen beiden noch einen wunderschönen Tag.«

Raja nickte zustimmend, und Ashish ging mit schnellen Schritten in die Richtung des Südlichen Tores davon. Der Nebel hatte sich mittlerweile etwas gelichtet; erste Sonnenstrahlen drangen durch die Silberschwaden und ließen die Wasserspiele in der Gartenanlage vor dem Grabmal aufglitzern.

»Möchtest du eine Pause machen, meri chandni?«, fragte Raja.

»Nein.« Energisch schüttelte Sita den Kopf. »Ich möchte mir diese wunderbaren Reliefs und Intarsienarbeiten noch etwas genauer ansehen.«

Langsam umrundeten sie den zentralen Kuppelbau des Taj Mahal, dessen weiße Marmorwände fast überall in irgendeiner Form verziert waren. An manchen Stellen wuchsen als plastisches Relief gestaltete blühende Sträucher aus dem Marmor heraus, anderswo zart gemusterte schmale Säulen, und überall waren – ähnlich wie im Südlichen Tor, nur noch unendlich reicher und kostbarer – farbige Steine zu kunstvollen Intarsienarbeiten in den Marmor eingearbeitet worden. Ashish hatte ihnen erzählt, dass dafür achtundzwanzig verschiedene Edel- und Halbedelsteinsorten verwendet worden waren, darunter Jade, Saphire, Lapislazuli und sogar Diamanten.

»Unfassbar schön«, flüsterte Sita. »Wenn man Fotos sieht, stellt man sich immer einen Bau aus schlichten, glatten Marmorwänden vor. Und dann steht man plötzlich vor so einer Pracht. Es ist einfach überwältigend.«

Sie sah Raja an, und ihre Hand fand die seine.

»Ich bin so glücklich, dass ich das zusammen mit dir erleben darf.«

»Ich auch, meri chandni«, erwiderte Raja mit einem sanften Lächeln. »Ich auch.«

Sie entfernten sich einige Meter von dem Kuppelbau und ließen sich auf den Stufen nieder, die zu einem der Seitengebäude führten. Fasziniert betrachteten sie das vor ihnen hoch aufragende Grabmal, das nun, da die Nebelschwaden sich endgültig aufgelöst hatten, im Licht der Sonne strahlend hell schimmerte und sie beinahe blendete. Dennoch konnten sie ihren Blick nicht abwenden; Raja hatte den Arm um Sita gelegt, und beide gaben sich ganz dem Zauber dieses Augenblicks hin.

»Es ist so schön, Raja… so schön…«

Ihre Stimme klang belegt, und Raja sah, dass ihre Augen verdächtig glänzten.

»Ich liebe dich, Raja.«

»Ich liebe dich, meri chandni. Shah Jahan kann seine Mumtaz Mahal nicht mehr geliebt haben als ich dich.«

Sie lächelte unter Tränen und schmiegte sich an ihn.

»Und Mumtaz Mahal kann mit ihm kaum glücklicher gewesen sein als ich mit dir.«

Liebevoll küsste Raja sie auf den Scheitel, bevor er sie noch enger an sich zog und wieder in den Anblick des weißschimmernden Taj Mahals versank. Das Symbol einer Liebe, die selbst der Tod nicht besiegen konnte, dachte er. So wie er auch unsere nicht besiegen wird. Niemals.

***

Erst Stunden später, nachdem sie noch einmal in aller Ruhe durch den sonnenüberfluteten Garten spaziert waren, suchten sie schließlich Ashish, der wie vereinbart in einer Ecke der Anlage auf sie gewartet hatte. Spontan drückte Raja ihm sein iPhone in die Hand mit der Bitte, ein Foto von ihm und Sita vor dem Taj Mahal zu machen; es war an sich zwar überhaupt nicht seine Art, sich vor irgendwelchen Sehenswürdigkeiten ablichten zu lassen, aber dieses Bild wollte er unbedingt haben.

Draußen vor der Mauer baten sie Ashish noch um ein wenig Geduld und durchstöberten die Andenkenläden. Schnell fanden sie, was sie suchten: ein zauberhaftes, aus weißem Marmor gefertigtes kleines Modell des Taj Mahal für Rani und dazu einen ganzen Stapel Seidentücher, Taschen und Kissenbezüge mit dem Taj-Mahal-Motiv, mit denen sie ihre Familie und Freunde sowohl in Shivapur als auch in Srinagar würden beglücken können.

Danach ließen sie sich zurück ins Hotel fahren, entlohnten Ashish mit einem großzügigen Trinkgeld und begaben sich in ihre Suite. Erst als sie dort die Taschen mit ihren Einkäufen abstellten und ihre Schuhe abstreiften, merkten sie, wie müde sie waren.

»Ich muss mich unbedingt noch einmal hinlegen, bevor wir nachher zum Essen gehen«, erklärte Sita und ließ sich seufzend in einen der beiden Sessel am Fenster sinken. »Ich hab das Gefühl, mir fallen die Füße ab.«

»Das heißt, wir inspizieren das Paket aus Srinagar erst nachher, ja?«, erwiderte Raja augenzwinkernd.

»So kaputt bin ich nun auch wieder nicht.« Sitas Augen blitzten. »Machst du’s schon mal auf, bitte?«

»Aye-aye, Ma’am!«

Er setzte sich ihr gegenüber und öffnete das Paket. Zum Vorschein kamen ein Päckchen mit seinem Namen darauf und ein an Sita adressierter Umschlag, der an einem großen Samtbeutel befestigt war. Mit vielsagend hochgezogenen Augenbrauen überreichte er seiner Frau ihr Geschenk; neugierig wog sie den Beutel in der Hand – und legte ihn dann zu Rajas Überraschung auf dem kleinen Beistelltisch zwischen ihnen ab.

»Du zuerst«, forderte sie ihn auf und lehnte sich demonstrativ zurück.

Raja grinste breit und schälte aus mehreren schützenden Schichten aus zartem Seidenpapier einen großen, rechteckigen Kasten mit Deckel heraus. Papiermaché, wusste er sofort, als er das leichte Material mit den etwas unebenen Oberflächen befühlte; er kannte dieses traditionelle Kunsthandwerk, das in Kashmir sehr verbreitet war, und hatte dort schon oft die allüberall angebotenen Dosen, Kerzenständer, Räucherstäbchenhalter und Armreifen mit ihren farbenfrohen und phantasievollen Dekors bewundert. Die Kassette, die man für ihn ausgesucht hatte, war mit Goldfarbe grundiert und dann mit zarten schwarzen Zweigen bemalt worden, in denen zahlreiche bunte Vögel saßen.

»Mein Mann, der Baum.« Sita war aufgestanden und legte nun von hinten liebevoll die Arme um ihn. »Das ist entzückend. Mach mal auf, ob was drin ist.«

»Neugierig bist du gar nicht, ja?«, gab Raja amüsiert zurück und wickelte eine ihrer dunkelbraunen Haarsträhnen um seinen Finger.

»Pffft!«, machte sie mit würdevoller Empörung. »Von wegen neugierig – ich hab mein Geschenk noch nicht ausgepackt, im Gegensatz zu dir.«

»Ich bin zutiefst beeindruckt.« Raja führte die Hand an seine Brust und verneigte sich. »Und zur Belohnung warte ich mit dem Aufmachen, bis du den Inhalt deines Samtbeutels zutage befördert hast – denn erzähl mir nicht, dass es dir nicht in sämtlichen Fingern danach kribbelt, meine kleine Elster!«

Sita lachte hell auf, küsste Raja auf die Wange und schnappte sich den Beutel. Wie von beiden vermutet, enthielt er ein Schmuckstück… und dennoch weiteten sich Sitas Augen vor Überraschung, als sie es nun langsam und vorsichtig herauszog. Es war eine Halskette, aus elf runden Medaillons gefertigt, die jeweils von zwei silbernen, flach gehämmerten Kettengliedern getrennt wurden, zwischen denen eine leuchtend blaue Lapislazuliperle saß. Die Medaillons mit einem Durchmesser von etwa zwei Zentimetern waren in schlichtes Silber gefasst und zeigten verschiedene, in Emaille gegossene bunte Bildmotive.

»Großer Gott!«, hauchte Sita. »Haben sie das etwa…«

Ahnungsvoll hängte sie sich die Kette über ihren Unterarm, griff nach dem Brief und öffnete ihn.

Meine geliebte behn,

herzlich willkommen im erlesenen Club der Fünfziger, und alles Liebe für dich aus dem Dar-as-Salam! Dein Geschenk ist eine Idee unserer Kinder. Wir haben ihnen gesagt, dass du fünfzig wirst, so wie ich – und da haben sie vorgeschlagen, dass wir alle zusammenlegen, damit du diesmal etwas besonders Schönes von uns bekommen kannst. Seit sie im Frühjahr so lange bei euch in Shivapur zu Gast waren, haben sie dich mindestens ebenso lieb wie Raja.

Zooni und Maryam meinten, du freust dich bestimmt am meisten über ein schönes Schmuckstück. Also haben sie diese Kette entworfen, jedes der Kinder hat ein Motiv für dich gezeichnet, und Ismail Kabuli (der dich übrigens herzlich grüßen lässt) hat die Emaille-Medaillons gegossen und die Kette angefertigt.

Ich schreib dir schnell noch auf, was von wem ist, da wir ja an eurem großen Tag leider nicht bei euch sein können, um es dir zu sagen. Zum Teil errätst du es sicher leicht von selbst; die Garnspule und die Nadel mit dem Faden hat natürlich Zeenath beigesteuert, die dampfende Schüssel unser Meisterkoch Ahmad, die Note Firouzé und die kleine Steinschleuder Yussuf (wer sonst!). Die Rosenblüte ist von Zooni, die Sonnenblume von Maryam und das Herz von Ameera, der dicke, verzweigte Ast ist von Ibrahim und das goldene Chenarblatt von Moussa.

Bei Azads Zeichnung habe ich einen Moment lang schwer schlucken müssen, als er sie mir brachte – von ihm sind die drei dicken Kettenglieder, von denen das mittlere zerbrochen ist. Und die Hand ist von Anjali; sie meint, es sei eine liebevolle Hand, die schützt und tröstet. Ich weiß nicht, ob sie dir das jemals erzählt hat… aber sie ist seinerzeit von den Behörden in ein Heim gesteckt worden, weil sie von ihrer Mutter schwer misshandelt worden ist. Und über ihre Zeit bei euch in Shivapur hat sie mir erzählt, dass das nach dem Dar-as-Salam nun schon das zweite Mal war, dass sie sich in einer Familie geborgen gefühlt hat. Ich dachte, das solltest du wissen, damit du ihre Zeichnung verstehst.

Wir alle wünschen dir und Raja Glück und Segen zu eurem Doppelgeburtstag (ich liebe den Gedanken, dass ihr beide am gleichen Tag geboren seid). Und wenn ihr an Weihnachten wieder herkommt, dann musst du mir ganz genau erzählen, wie es war im Taj Mahal! Habt eine wunderschöne Zeit dort!

Alles Liebe, meri pyaari behn!

Deine Sameera

Sita hatte während der Lektüre immer wieder die Kette durch ihre Finger gleiten lassen und nach den jeweiligen Motiven gesucht; nun drückte sie Raja den Brief in die Hand und studierte, während er ihn las, noch einmal jedes Detail dieses außergewöhnlichen Schmuckstücks.

»Ist das nicht unglaublich?«, fragte sie, als er den Brief sinken ließ. »So etwas Wunderschönes… für mich!«

»Sie haben dich eben ins Herz geschlossen, du Mutter der Kompanie«, entgegnete Raja mit einem warmherzigen Lächeln und griff nach seinem Kasten. »Und jetzt…«

Er öffnete den Deckel und fand darin, wie er bereits geahnt hatte, einen Stapel Bilder und handgeschriebener Briefe.

»Na, dann hast du ja jetzt etwas, womit du dich beschäftigen kannst, während ich meinen Schönheitsschlaf halte«, lachte Sita und ließ ihre Kette zurück in den Samtbeutel gleiten. »Weckst du mich rechtzeitig, damit ich noch duschen kann, bevor wir essen gehen?«

»Selbstverständlich.«

Sie küsste ihn zärtlich und ließ sich mit einem müden, glücklichen Seufzer der Länge nach auf das Bett sinken, während Raja begann, die liebevollen Glückwünsche der Kinder zu lesen. Auch Vikram und Sameera hatten einige Zeilen an ihn geschrieben, und zu seiner freudigen Überraschung fand er sogar einen Brief von Zeenath und Nadim aus Gulmarg. Sofort wanderten seine Erinnerungen zu der nach dem Ende der allgemeinen Ausgangssperre so eilends arrangierten Hochzeitsfeier Anfang Oktober. Aufgrund der damals nach wie vor schwelenden Unruhen in Kashmir hatte nicht, wie ursprünglich vorgesehen, der gesamte Sharma-Klan zu dem Fest anreisen können, so dass die Abordnung aus Shivapur leider nur aus ihm selbst, Sita und Rani bestanden hatte. Dafür hatte er eine wichtige Aufgabe übernehmen dürfen: Als der Bräutigam mit seinen Verwandten kam, um seine Braut abzuholen, da war er es gewesen, der Zeenath in die prächtige Sänfte gesetzt hatte. Traditionellerweise macht das ein Onkel aus der Familie der Brauteltern, hatte Vikram ihm im Vorfeld erklärt. Nur hat Zeenath leider keinen Onkel. Aber wir haben an dich gedacht, Raja. Würdest du das machen?

Darum hatte man ihn nicht zweimal bitten müssen. Und zum Glück waren die Verletzungen aus dem Lager zu diesem Zeitpunkt schon so gut verheilt gewesen, dass er die glückliche Braut tatsächlich mühelos ihrem Bräutigam hatte entgegentragen können. Für ihn war das rückblickend der persönliche Höhepunkt dieser unvergesslichen Tage voller Musik und Tanz, gutem Essen, Geschichten und Gelächter im Kreis fröhlicher Menschen, die Zeenath mitsamt ihrer Pflegefamilie freudig in ihrem Kreis willkommen hießen. Kashmiryat reinsten Wassers, dachte er. Kein Zank, kein Streit, keine Aversionen zwischen Nadims muslimischen Angehörigen und Vertretern anderer Religionen wie Vikram, Sameera, Sita und ihm – einfach nur ein harmonisches Miteinander in Frieden und Freundschaft. Warum um alles in der Welt konnte das nicht immer und überall so funktionieren wie hier? War es denn wirklich so schwer?

Mit einem Mal verspürte er eine unendliche Traurigkeit. Er faltete Zeenaths Brief zusammen, drückte den gesamten Stapel kurz an seine Lippen, legte ihn wieder zurück in den goldfarbenen Kasten mit den bunten Vögeln und schloss den Deckel.

Ein Lied in der Nacht

Подняться наверх