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ОглавлениеKapitel 5
Feuermeer
Sita Sharma klappte ihren Koffer zu und gab einen kleinen, wehmütigen Seufzer von sich; die Tage in Gulmarg waren viel zu schnell vorübergegangen. Nabil und Ayesha Qasib, die Schwiegereltern von Vikrams und Sameeras ältester Pflegetochter Zeenath, hatten ihre Gäste mit der legendären Gastfreundschaft der Kashmiris geradezu überschüttet; jetzt reihten sich die Tage in Sitas Erinnerung aneinander wie leuchtende Perlen an einer Schnur, erfüllt von gemeinsamen Ausflügen im Schnee, Musik, großartigen (und sehr ausgedehnten) Mahlzeiten und jeder Menge Gelächter.
Es war wunderschön gewesen, das junge Glück von Zeenath und Nadim vor Augen zu haben, und ebenso schön, mit anzusehen, wie Sameera sich entspannte. Ihr gemeinsamer Marktbummel in Srinagar nach Sameeras letztem Training war vielversprechend verlaufen: Erst nach gut zehn Minuten hatte Sameera Sita angerufen und zu sich gebeten; verglichen mit ihren früheren Panikattacken war das ohne Frage als Fortschritt zu betrachten. Und nun genoss sie ebenso wie ihr Mann Vikram ihre Auszeit in Gulmarg, während das Dar-as-Salam und die Kinder sich in den fähigen Händen verlässlicher Freunde und des neuen, tüchtigen Wachmanns Rizwan Padar befanden.
Aber auch die beste Auszeit hatte irgendwann ein Ende, und jetzt stand die Abreise unmittelbar bevor. Immerhin konnten sie jederzeit wieder nach Gulmarg kommen – gesetzt den Fall, dass der nach wie vor höchst fragile Friede im Tal hielt und nicht allzu schnell wieder zerbrach.
Man konnte nur das Beste hoffen.
Sita wuchtete den Koffer vom Bett herunter und richtete sich wieder auf. Dabei fiel ihr Blick auf ihren Mann, der in der Zimmertür erschienen war; seine braunen Augen funkelten unternehmungslustig.
»Kommst du?«, fragte er lächelnd. »Die Qasibs warten mit dem Frühstück auf uns.« –––
Gäste und Familie versammelten sich zu einer Abschiedsrunde im Haus von Nabil Qasib. Ayesha hatte aufgefahren, was ihre Küche an Köstlichkeiten hergab, und die Stimmung war so gut, dass man bereits anfing, Pläne für den kommenden Sommer zu schmieden.
»Bislang habt ihr Gulmarg nur im Herbst und Winter erlebt; es wird höchste Zeit, dass ihr auch mal in der warmen Zeit des Jahres hierherkommt«, meinte Nadim. »Und es freut uns so sehr, euch hier zu haben… nicht nur euch, sasur und saas«, und damit warf er seinen Schwiegereltern einen Blick tiefer Zuneigung zu, »sondern auch euch, Raja und Sita. Und eure Kinder sowieso, alle beide. Wenn ich mir Mohan und Rani anschaue, dann weiß ich wirklich nicht, ob ich mir einen Sohn oder eine Tochter wünschen soll, wenn Allah uns eines Tages Kinder schenkt.« Er zwinkerte seiner jungen Frau zu; Zeenath lief knallrot an und schlug die Augen nieder.
Sameera drückte Mohan an sich und hinderte ihn mit sanfter Gewalt daran, an dem Buddha-Anhänger zu ziehen, den sie um den Hals trug.
»Was immer ihr bekommt«, sagte sie, »seid weise und freut euch über beides.« Sie wandte sich Sita zu. »Übrigens, meri behn – du hast Zeenath gestern doch versprochen, noch einmal für sie zu singen, bevor wir abreisen. Du solltest allmählich damit anfangen; in weniger als einer Stunde ist Karim hier, um uns abzuholen.«
Zeenath richtete sich auf und faltete wie ein eifriges Kind die Hände. »Oh ja, bitte!«
Sita schaute sich um und sah sich mit lauter erwartungsvollen Augenpaaren konfrontiert. Sie lächelte.
»Gerne. Was möchtet ihr denn hören?«
Zeenath wünschte sich als Erstes das Wiegenlied So Ja Chanda aus dem Film Mission Kashmir (»damit ich es eines Tages meinen eigenen Kindern vorsingen kann«). Sita erfüllte ihr diesen Wunsch und ging dann zu den kashmirischen Volksliedern über, die Ayesha ihr in den vergangenen Tagen beigebracht und die sie problemlos im Ohr behalten hatte; sie hatte ein sicheres Gedächtnis für Texte und Melodien. Als sie Bumbro anstimmte, das heitere Lied von der Hummel, sangen sämtliche Qasibs schon den ersten Refrain aus voller Kehle mit und schlugen mit den Händen den Takt dazu, und die Stimmung stieg noch mehr bei dem raschen, fröhlichen Rind Posh Maal.
Die Runde endete mit dem lyrisch sanften Janani Saal Saalai – beziehungsweise sie hätte es getan, wenn Sitas Zuhörer nicht so energisch wie erfolgreich eine Zugabe gefordert hätten. Also sang sie noch einmal Rind Posh Maal, und jetzt standen Ayesha und Zeenath auf, nahmen sie bei der Hand und zogen sie in einen wiegenden Rundtanz mitten in dem großen Wohnzimmer hinein. Sita, der das Tanzen ebenso leichtfiel wie das Singen, passte sich den Schritten mühelos an und warf Sameera einen Blick zu, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Sameera reichte Mohan an Vikram weiter, erhob sich mit einem Seufzer und fügte sich in ihr Schicksal. Jetzt sangen und tanzten die Frauen zu viert (zu fünft, wenn man Rani mitrechnete, die den einfachen Reigen ebenso schnell begriff wie ihre Mutter); die Männer klatschten den Rhythmus dazu, und die improvisierte Vorstellung wäre sicher noch eine ganze Weile so weitergegangen, wenn nicht um kurz nach eins draußen vor dem Haus der große Viano vorgefahren wäre, den Najiha Kamaal ihren Freunden mitsamt ihrem Fahrer Karim für diesen Abstecher nach Gulmarg zur Verfügung gestellt hatte.
Also gingen Tanz und Gesang in eine herzliche Verabschiedung über. Vikram und Raja bedankten sich noch einmal bei Zeenath für ihre Sherwanis, die Gastfreundschaft der Qasibs wurde in den leuchtendsten Farben gepriesen und die Einladung für den Sommer (und den darauffolgenden Winter ebenfalls) gleich mehrfach erneut ausgesprochen. Danach traten Familie und Gäste hinaus in die weiße Landschaft unter einem strahlend blauen Himmel und machten sich auf den Weg zum Wagen.
Zu ihrer Verwunderung stellte Sita fest, dass Karim ganz gegen seine Gewohnheit den Kofferraum noch nicht geöffnet hatte. Dann sah sie, dass er an der Motorhaube seines Wagens lehnte und auf sein Smartphone starrte. Auf dem Hinweg hatte sie ihn das mehrfach tun sehen; so war er sichergegangen, dass es nirgendwo auf der Strecke Ärger gab und er nicht unversehens in Straßensperren hineinfuhr. Jetzt runzelte er die Stirn, und sein Gesicht war merkwürdig blass.
Sie trat auf ihn zu. »Alles in Ordnung, Karim?«, erkundigte sie sich besorgt.
Er sah sie an und presste die Lippen zusammen. »Das weiß ich nicht sicher, Sharma sahiba«, sagte er knapp. Dann entdeckte er Vikram, der gerade einen Koffer in Richtung Auto trug. »Sandeep sir? Kommen Sie mal her, bitte?«
Vikram hob beim Klang seiner Stimme ruckartig den Kopf und war mit wenigen raschen Schritten bei ihm. Jetzt neigten sich zwei Gesichter über das Handydisplay, und beide schauten gleichermaßen bestürzt drein. Sita spürte, wie Raja neben sie trat; er hielt Rani an der Hand.
»Was ist denn, meri chandni?«, fragte er leise. »Schwierigkeiten?«
Noch ehe Sita antworten konnte, war Vikram bereits wieder an ihnen vorbeigehastet. Er blieb vor Nabil Qasib stehen.
»Ich muss dich um einen Gefallen bitten, mera dost«, sagte er. »Dürfen wir mal dein Fernsehgerät benutzen?«
Nabil musterte ihn, und seine eben noch so gut gelaunte Miene wurde schlagartig ernst.
»Selbstverständlich«, entgegnete er.
Er verschwand im Haus, Vikram dicht auf den Fersen. Karim eilte hinterher, und nach kurzem Zögern gingen auch Ayesha, Zeenath und Nadim wieder hinein. Raja, der die gesamte Szene sehr aufmerksam verfolgt hatte, beugte sich zu seiner Tochter hinunter und gab ihr einen leichten Kuss auf die Wange.
»Bleibst du kurz bei Mama?«, sagte er sanft. »Papa muss schnell was nachsehen.« Er warf Sita einen sprechenden Blick zu, und die nickte unmerklich. Was immer da im Argen lag, es war sicherlich nicht gut, wenn Rani es mitbekam.
Es dauerte lange Minuten, bis Vikram und die anderen wieder ins Freie traten. Sita sah, wie Vikram zu Sameera ging, die mit Mohan auf dem Arm auf ihn wartete; dann kam Raja zu ihr. Wieder bückte er sich und lächelte Rani an, allerdings merkte Sita deutlich, dass es ihm äußerst schwerfiel.
»Setz dich doch schon mal in den Wagen, Schatz«, sagte er. »Wir kommen sofort, und dann geht’s gleich los, ja?«
Rani nickte und kletterte widerspruchslos in den Van. Sita war mehr als dankbar dafür, denn jetzt konnte sie ihren Mann endlich fragen, was eigentlich passiert war.
»In Srinagar hat es eine schwere Explosion gegeben«, erklärte er leise. »Den Nachrichten zufolge ist das halbe Büro von Gulmohar in die Luft geflogen, und die andere Hälfte ist vollkommen ausgebrannt. Man weiß bisher nicht, ob es Tote gegeben hat. Die Glut der Ruine strahlt eine solche Hitze aus, dass die Feuerwehrleute noch warten müssen, bis sie mit der Suche anfangen können.«
»Gulmohar?« Sita schnappte entsetzt nach Luft. »Aber das ist doch Najihas Partei!«
»Stimmt.« Jetzt stand auch Vikram neben ihnen. »Das Problem ist, dass wir Najiha nicht erreichen können. Sie meldet sich genauso wenig wie Janveer. Karim hat bislang lediglich Amal erreicht, ihren Sekretär. Der hat vor einem Monat geheiratet und sich Urlaub genommen, um mit seiner Frau einen Ausflug zu machen. Nach seiner Aussage wollte Najiha heute den ganzen Tag im Parteibüro zubringen, weil sie sich auf eine schwierige Sitzung nächste Woche vorbereiten muss.«
»Und weil sie uns morgen besuchen wollte, um dich und Raja zu sehen.« Das war Sameera. Ihre Stimme war leise und sehr ruhig, aber die bodenlose Furcht in ihren Augen wirkte wie ein mühsam unterdrückter Schrei.
Sita spürte, wie ihr übel wurde, aber sie nahm sich zusammen. »Dann müssen wir so rasch wie möglich zurück«, erwiderte sie, »um herauszufinden, was passiert ist. Vielleicht ist Najiha ja auch einfach irgendwo, wo es keinen Handyempfang gibt. Das wäre eine Erklärung dafür, dass man sie nicht erreichen kann, und dass sie sich nicht meldet.«
»Bloß, dass sie normalerweise jeden Schritt, den sie tut, mit Amal abstimmt. Und mit Karim ebenfalls.« Vikrams Gesicht war grimmig. »Aber du hast recht. Wir müssen zurück, so rasch wie möglich.«
***
Wenige Stunden später hielt der Viano vor dem Dar-as-Salam. Vikram hatte von unterwegs aus dort angerufen, Zobeida und Hamid über die Situation in Kenntnis gesetzt und Rizwan Padar gebeten, seinen Dienst an diesem Tag zu verlängern und sicherheitshalber bis zum nächsten Morgen zu bleiben. Nun brachten sie in aller Eile ihr Gepäck ins Haus; Mohan wurde rasch gefüttert und zu einem Schläfchen hingelegt.
Sita fiel auf, dass keines der Kinder über die Explosion in Srinagar sprach; offenbar hatten Zobeida und Hamid sich an Vikrams Anweisung gehalten und ihnen vorerst nichts davon erzählt. Die Größeren schienen zwar zu ahnen, dass etwas nicht stimmte, aber sie reagierten mit der Selbstverständlichkeit von Kindern, die an die Gefahr in Kashmir mehr als gewöhnt waren; sie verließen sich darauf, dass ammi und baba sie informieren würden, wenn es an der Zeit war, und hielten sich bis dahin »aus der Schusslinie«. Zooni und Maryam luden Rani ein, mit ihnen ein Bild zu malen, und so fand sich Sita wenig später bei den anderen Erwachsenen im Aufenthaltsraum ein, wo hinter verschlossenen Türen der Fernseher lief.
»… von dem Bürogebäude nur noch verkohlte Trümmer übrig«, sagte ein Reporter gerade in die Kamera. Er stand in der Gasse vor der Ruine des Parteibüros, aus der es immer noch rauchte. »Vor wenigen Minuten hat die Feuerwehr an der Stelle, wo sich vor dem Brand das Büro der Parteivorsitzenden Najiha Kamaal befunden hat, eine bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leiche gefunden – den Kleidungsresten zufolge vermutlich die einer Frau. Da Najiha Kamaal nirgendwo auffindbar ist, muss man davon ausgehen, dass sie bei diesem Unglück – das höchstwahrscheinlich ein Attentat war – ums Leben gekommen ist.«
Reflexartig drückte Vikram auf die Ton-aus-Taste der Fernbedienung. Totenstille senkte sich über das Zimmer. Sita sah, dass Sameera sich auf die Lippen biss. Sie war kreidebleich.
»Nicht Najiha«, flüsterte sie. »Nicht auch noch Najiha. Bitte.«
»Ich glaube es nicht«, sagte Vikram fest. Er trat neben seine Frau und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Nicht, ehe ich stichhaltige Beweise habe.«
»Und normalerweise müsste sich doch ihr Leibwächter ganz in der Nähe aufhalten«, fügte Raja hinzu. »Bisher hat man aber offenbar nur diese eine Leiche gefunden, sonst niemanden. Wenn also Janveer nicht dort war, warum soll es sich bei dieser Toten zwangsläufig um Najiha handeln?«
»Gebe Allah, dass Sie recht haben, Sharma sahab.« Karim rieb sich mit der Hand über das Gesicht; er sah angespannt und erschöpft aus. »Ich fahre jetzt nach Srinagar; ob ich durchkomme, weiß der Himmel – nach einer solchen Sache sperrt das Militär gerne mal tagelang die ganze Stadt ab. Und nein…« Er hob abwehrend die Hand. »Es reicht, wenn ich fahre. Sollte der Kamaal sahiba tatsächlich etwas zugestoßen sein, was Allah verhüten möge, dann rotten sich die Wölfe zusammen. So etwas geht hier im Tal verflucht schnell. Und dann braucht dieses Haus Augen, die scharf Ausschau halten können, und Hände, die es schützen. Jedenfalls mehr als nur die von Rizwan Padar allein.«
Er ging mit raschen Schritten hinaus. Gleich darauf sprang draußen der Motor des Vans an und das Geräusch entfernte sich, bis wieder Stille einkehrte. Eine Weile rührte sich niemand, dann stand Sameera auf.
»Wir müssen das Abendessen für die Kinder machen«, sagte sie leise. »Zobeida, Sita… kommt ihr? Im Moment können wir sowieso nur warten.«
Sita warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu; er nickte sachte, und sie folgte Zobeida und Sameera hinaus in die Küche. Auf dem Weg dorthin konnte sie Rani hinter der Tür zu Zoonis und Maryams Zimmer fröhlich lachen hören; sie erschrak darüber, wie fremd und unpassend ihr dieser Klang vorkam. Die Vorahnung einer furchtbaren Tragödie schien über dem Dar-as-Salam zu hängen wie eine schwarze Wolke.
Wenig später saßen die drei Frauen am Küchentisch. Zobeida zerlegte einen Blumenkohl, Sameera schnitt Möhren klein und Sita hackte Kräuter. Eine große Schüssel mit Backteig für Pakoras stand neben der Spüle bereit. Bis auf ein paar kurze Bemerkungen sprach keine der Frauen ein Wort.
Dann näherte sich draußen ein Auto. In der steinernen Ruhe, die das alte Holzhaus einschloss, war deutlich zu hören, wie der Motor abgestellt wurde. Eine Wagentür wurde geöffnet und schlug wieder zu. Gleich darauf ertönte eine laute, helle Stimme.
»Didi? Vikram baba? Seid ihr da?«
Sameera hob den Kopf, und ihr Gesicht verlor auch noch den letzten Rest Farbe.
»Lieber Gott!«
Sie ließ das Messer fallen, und eine erst halb in Scheiben geschnittene Möhre rollte über den Tischrand und fiel zu Boden. Dann sprang sie auf und hastete auf den Flur hinaus.
Sita lief ihr nach, gefolgt von Zobeida. Als sie den Vorraum erreichte, sah sie den Ausschnitt der geöffneten Eingangstür. Er wirkte wie ein scharf gezeichneter Bilderrahmen, der das goldene Licht des winterlichen Spätnachmittags einschloss… und umgeben von diesem Rahmen sah sie eine in Tränen aufgelöste Sameera, die Najiha Kamaal fest in den Armen hielt.
***
»Hier, Raja, der Chai – und dort habe ich ein paar Pakoras beiseitegestellt. Braucht ihr sonst noch was?«
»Nein, danke, Zobeida. Vikram hat Wasserflaschen und Gläser oben im Wohnzimmer; und wenn wir doch noch etwas benötigen, dann melde ich mich.«
Raja ergriff Thermoskanne und Pakoraschüssel und machte sich auf den Weg in den ersten Stock. Er hörte noch, wie hinter ihm Zobeida bei Anjali und Firouzé anklopfte und die beiden Mädchen bat, ihr beim Tischdecken zu helfen. Ein Schatten flog über sein Gesicht. Heute würde das Abendessen ohne Sameera ammi, Vikram baba, Sita und ihn stattfinden. Aber – er atmete tief durch – sämtlichen Göttern sei Dank, Najiha war am Leben, und Janveer auch.
Die Erleichterung, als Najiha nach all den Stunden der Angst und Ungewissheit lebendig im Flur des Dar-as-Salam aufgetaucht war, war grenzenlos gewesen, und Najiha war von einer stürmischen Umarmung in die nächste weitergereicht worden, bis Vikram schließlich energisch dazwischenging und Najiha vorschlug, sich mit Sameera und ihm nach oben zurückzuziehen und dort in Ruhe zu berichten, wie sie dem Anschlag entgangen war. Sie hatten bereits ein paar Stufen zurückgelegt, als Najiha stehenblieb und sich zu Raja umwandte; ihr Gesicht war leichenblass, und ihre haselnussbraunen Augen flackerten.
»Kommt ihr auch mit?«, bat sie leise. »Du und Sita?«
Raja hatte Najiha zugenickt und sich ganz kurz im Flüsterton mit Sita abgesprochen. Geh du schon mal mit, meri chandni, hatte er gesagt, ich sag nur noch schnell Rani Bescheid, damit sie sich nachher nicht wundert, wenn wir beim Essen nicht dabei sind. Erst danach war ihm der Gedanke gekommen, dass Najiha möglicherweise mehr als nur seelische Stärkung vertragen konnte; zum Glück hatte Zobeida bereits Chai für das Abendessen zubereitet und mit dem Ausbacken der Pakoras begonnen. Fürs Erste würde das reichen, und gegebenenfalls konnte er immer noch Nachschub holen.
Er hatte die Tür zu Vikrams und Sameeras Wohnzimmer erreicht und drückte nun mit dem Ellenbogen die Klinke nach unten. Als er die Tür öffnete, hörte er Najihas Stimme; sie klang eintönig, als wäre sie sehr müde.
»… Amal konnte nicht wissen, wo ich war, ebenso wenig wie Karim. Ich hab heute ganz früh einen Anruf bekommen, da hatte ich gerade mit Nour gefrühstückt und wollte ins Parteibüro fahren. Es war Parveena, sie rief aus Dardpura an und die Verbindung war furchtbar schlecht. Sie hat mir gesagt, dass Fadwa Aziz im Sterben liegt.«
Raja betrat das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. »Wer ist Fadwa Aziz?«, fragte er.
Najiha drehte sich zu ihm um; ein sehr kleines Licht blitzte in ihren Augen auf.
»Eine wunderbare alte Frau«, sagte sie. »Sie ist vor einigen Jahren einem Rudel Soldaten in die Hände gefallen, die feige genug waren, ihre Hilflosigkeit auszunutzen. Trotzdem hat sie versucht, ihr Leben einigermaßen in Würde fortzuführen. Sameera hat sie kennengelernt, als sie seinerzeit zum ersten Mal mit mir nach Dardpura gefahren ist.«
»Vor ein paar Monaten haben die Ärzte festgestellt, dass sie Krebs hat«, erklärte Sameera leise. »Im Endstadium, und sich aufwendig behandeln lassen wollte sie nicht mehr.«
»Aber sie wollte mich sehen.« Najiha nahm Sameeras Hand und drückte sie. »Ich habe sie jahrelang immer wieder besucht, und sie… liegt mir am Herzen. Nicht nur, weil sie Tarek noch gekannt hat und er sie so gernhatte.« Sie schluckte. »Ich bin sofort aufgebrochen und mit Janveer nach Dardpura gefahren.«
»Dann haben wir es also offensichtlich Fadwa Aziz zu verdanken, dass du noch am Leben bist«, sagte Raja, stellte die Thermoskanne und die Schüssel auf den Tisch und holte ein paar Gläser aus dem Schrank. »Hier, falls du eine kleine Stärkung brauchen kannst.«
»Und wie ich die brauchen kann.« Najiha wollte sich Tee eingießen; als Raja jedoch sah, dass ihre Finger heftig zitterten, nahm er ihr sanft die Kanne ab, füllte ein Glas und drückte es ihr in die Hand. Najiha trank einen Schluck und lächelte. »Das tut gut – danke.«
»Gern geschehen.« Er warf einen Blick in die Runde, während er Platz nahm. »Ihr auch – bedient euch, wenn ihr wollt; Zobeida macht noch mehr, falls uns der Vorrat ausgeht. Entschuldigt, ich wollte euch nicht unterbrechen.«
»Kein Problem, ich war sowieso fast fertig«, meinte Najiha. »Ich muss nur noch gestehen, dass ich in der Hektik heute Morgen zum ersten Mal vergessen habe, mich abzumelden. Und als mir das unterwegs einfiel und ich schnell noch eine SMS an Amal und an Karim schicken wollte, da hatte ich bereits keine Netzverbindung mehr.«
»Mit der Folge, dass halb Srinagar dich für tot gehalten hat, als wir vorhin aus Gulmarg zurückgekommen sind«, warf Vikram ein. »Du hast uns einen bösen Schrecken eingejagt, meri ladki.«
»Das tut mir sehr leid.« Najiha leerte den Rest des Glases und hielt es Raja noch einmal hin, der es kommentarlos nachfüllte.
»Und wie hast du dann erfahren, was passiert ist, wenn du keinen Handyempfang hattest?«, erkundigte sich Sita.
»Während der Rückfahrt«, antwortete Najiha. »Irgendwann war ich wieder halbwegs in der Zivilisation, und da hat mein Handy schlagartig losgelegt: eine Nachricht nach der anderen, und immer panischer noch dazu. Ich hab zuallererst Farideh angerufen – damit meine Tochter nicht womöglich im Fernsehen miterleben muss, wie die Leute über den Tod ihrer Mutter reden. Danach habe ich mit Amal telefoniert, und als nächstes wollte ich euch verständigen. Aber da waren wir ohnehin nur noch wenige Meilen vom Dar-as-Salam entfernt; also hab ich zu Janveer gesagt, dass er auf direktem Wege hierherfahren soll, damit ihr wenigstens gleich alle Bescheid wisst. Und ich gebe zu, der Gedanke hat mir gutgetan, hier vorher noch mal durchatmen zu können, bevor ich mich dem Chaos in Srinagar stellen muss.«
»Gibt es denn schon Hinweise, wer diese Explosion zu verantworten hat?«, fragte Raja.
Najiha schüttelte den Kopf. »Ich weiß im Moment auch nur, was in den Nachrichten gebracht wurde, und dort war von Bekennerschreiben oder Ähnlichem bislang nicht die Rede. Abgesehen davon könnten es die Handlanger von einem Dutzend Parteiführer gewesen sein, außerdem die Agenten der Geheimdienste von Pakistan und Indien. Nicht zu vergessen ein paar Geschäftsleute, die hier in den letzten Jahren liebend gern abgesahnt hätten, wenn ich nicht erfolgreich dazwischengegangen wäre. Such’s dir aus, mera dost.« Ihr Gesicht verzog sich zu einer bitteren Grimasse. »Ich bin sicher, in einigen Büros und Parteizentralen sind bereits verfrühte Freudentänze aufgeführt worden.«
»Und Betroffenheitserklärungen hervorgeholt, die längst fertig geschrieben in irgendwelchen Schubladen lagern«, ergänzte Raja finster. »Genau wie bei der Presse. Apropos – wer informiert diese Hyänen jetzt eigentlich darüber, dass sie ihre Schlagzeilen schleunigst ändern sollten? Amal? Euer Pressebüro dürfte derzeit ja wohl außer Betrieb sein.«
»Wohl wahr«, sagte Najiha müde. »Alles liegt in Schutt und Asche. Und… ich fürchte, ich werde mir auch eine neue Buchhalterin suchen müssen.«
Vikram blickte auf. »Die Frauenleiche, die die Feuerwehr gefunden hat, das war…«
»… Almas Desouli«, ergänzte Najiha den Satz. »Meine Buchhalterin. Ihr Mann ist vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen und hat sie mit zwei Kindern zurückgelassen. Sie brauchte Arbeit, und ich hab ihr eine gegeben. Sie war sehr dankbar und sehr zuverlässig, und sie ist heute im Büro gewesen. Ich habe noch kurz mit ihr gesprochen, bevor ich nach Dardpura fuhr, und ihr einen schönen Tag gewünscht. Und jetzt ist sie tot.«
»Meine Güte«, sagte Sita tonlos. »Und zwei Kinder, sagst du?«
»Ein Junge und ein Mädchen – Sinan und Salma, zwölf und elf Jahre alt.« Najiha rieb sich die Stirn. »Wer jetzt für sie sorgen soll, das weiß der Himmel.«
Sameera und Vikram wechselten einen Blick.
»Gibt es Verwandte?« fragte Vikram. »Onkel, Tanten, Großeltern… irgendjemanden?«
»Ich fürchte, nein.«
»Wo sind die Kinder jetzt?«, wollte Sameera wissen.
»Bei Amal und seiner Frau«, antwortete Najiha. »Er hat schnell reagiert und sie zuhause abgeholt, damit sie nicht vom System verschluckt werden; das passiert hier ja schnell genug, wenn man nicht aufpasst. Aber auf Dauer können sie bei ihm nicht bleiben.«
Sie sah Vikram an.
»Würdest du sie aufnehmen? Ich weiß, das Dar-as-Salam ist eigentlich voll belegt, und es wäre wirklich nur, bis ich etwas anderes für die beiden gefunden habe, aber… würdest du?« Ihr Blick wanderte zu Sameera. »Würdet ihr?«
Sameera nickte schweigend.
»Sag deinem Sekretär, er soll sie herbringen«, sagte Vikram. »Sie sollen hier erst einmal ein bisschen zur Ruhe kommen, dann sehen wir weiter.«
»Ihr könnt sie ja in unserem Gästezimmer einquartieren, wenn wir wieder abreisen«, schlug Sita vor.
»Oder ihr gebt ihnen Azads Zimmer«, fügte Raja hinzu. »Ich bin sicher, er hätte nichts dagegen, zumindest vorübergehend bei seiner Ameera unterzukriechen.«
»Sehe ich auch so.« Vikram lächelte. »Und bis wir eine Lösung gefunden haben – oder Najiha einen anderen Platz –, rücken wir hier ein bisschen zusammen. Das geht schon.«
»Danke«, murmelte Najiha, den Blick zu Boden gerichtet. »Ich weiß nicht, was ich… Danke.«
»Du solltest nach Hause fahren«, sagte Sameera sanft. »Du bist erschöpft, und es wird dir sicher guttun, deine Tochter zu sehen.«
Najiha schwieg eine Weile. Dann hob sie den Kopf; ihr Gesicht war bleich und hart geworden.
»Nein«, sagte sie. »Noch nicht. Ich kann nicht in dieser Verfassung zu ihr kommen. Nicht mit dieser Wut in mir. Ich möchte um mich schlagen… und ausnahmslos alle treffen, die dieses Tal für einen Kadaver halten, den man ungestraft schänden und ausweiden darf. Was für ein Glück, dass ich gerade keine Waffe habe – ich könnte für nichts garantieren!«
Einen langen Moment war es sehr still. Dann war es Sita, die antwortete.
»Wenn du die Wut in dir nicht mit nach Hause nehmen willst«, sagte sie ruhig, »dann lass sie einfach hier. Sprich aus, was dich zornig macht. Schrei die Wände an, oder meinetwegen auch uns – so lange, bis es dir besser geht.«
Najiha musterte die Gesichter rings um sich herum. »Ich glaube nicht, dass ihr euch das wirklich antun wollt.« In ihrer Stimme schwang leise Ironie mit.
»Ach was – raus damit, mein Mädchen!« In Vikrams Augen brannte eine Flamme, heiß und intensiv. »Zieh ruhig vom Leder. Hier ist niemand, glaube ich, der das nicht verkraftet… oder nicht schon mal dasselbe gedacht hat.«
»Sprich, meri asaadharan dost«, sagte Raja sanft. »Ich höre dir zu.«
»Sag es uns.« Sameeras Gesicht war ruhig und voller Anteilnahme.
»Also schön.« Najiha beugte sich leicht vor. »Aber dann stellt euch vor, dass wir hier nicht im Dar-as-Salam sind, sondern im Versammlungssaal des Parlaments – und ihr seid nicht meine Freunde, sondern ein Rudel Männer, die für ihren Anteil an der Macht die eigenen Mütter ermorden und die eigenen Kinder verschachern würden.«
Sie erhob sich, richtete sich auf und holte tief Luft; in Sekundenbruchteilen wurde aus der niedergedrückten Frau eine stolze Kämpferin.
»Ich bin die Tochter von Mohammed Abbas Ansari«, begann sie. »Er war der Maulvi, das geistliche Oberhaupt des Tales. Er hat fest daran geglaubt, dass die Kashmiris ihre Probleme in Eigenregie lösen könnten und lösen sollten – ohne Indien, ohne Pakistan, ohne Erpressung und falsche Versprechungen. Sein Fehler war, dass er einem Freund vertraute, nämlich Shabir Abdullah, der sich bereits von beiden Seiten bezahlen ließ. Und der auf dieses Geld nicht mehr verzichten wollte. Da hat er lieber auf meinen Vater verzichtet.«
Sie hielt einen Moment inne.
»Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, Shabir baba sei mein Beschützer. Ich dachte, er hätte nichts als mein Wohl im Sinn, und das Wohl von Kashmir. Azadi Kashmir ist das Brot gewesen, das ich aß, und das Wasser, das ich trank – ohne zu ahnen, dass beides vergiftet war durch Täuschung und Verrat. Weil mein Pflegevater und Vormund gleichzeitig der Mörder meines Vaters war, und weil er sich jetzt anschickte, auch Kashmir zu ermorden.«
Najiha ließ den Blick schweifen, als sähe sie anstelle der vier vertrauten Gesichter im Zimmer andere vor sich, die ihr nicht Liebe einflößten, sondern eisige Verachtung. Ihre Lippen verzogen sich nach unten.
»Das tut ihr alle, seit Jahren! Ihr schnürt diesem Tal und den Menschen, die darin leben, Stück für Stück die Luft ab – seit 1947, als man den Kashmiris verwehrt hat, sich zu entscheiden. Das war zu gleichen Teilen die Schuld von Pakistan und Indien; aber eure Schuld ist größer, viel größer. Anstatt mit einer Stimme zu sprechen, anstatt den Frieden dieses Tales fest im Blick zu behalten, führt ihr euch auf wie wilde Tiere, die sich für ein Stück Fleisch gegenseitig an die Gurgel gehen! Ihr beschwört die Reinheit des Islam und führt den Namen Allahs im Munde, aber das Weinen der verwaisten Kinder und die Schreie der missbrauchten Frauen lassen euch kalt. Ihr haltet gefühlstriefende Ansprachen über das Kashmiryat und tretet es gleichzeitig Tag für Tag mit Füßen. Ihr habt Angst vor der Macht, die ich über euch habe, weil ich euch kenne – jede eurer kleinlichen Missetaten, eure gemeinen Betrügereien, eure grenzenlose Geldgier. Und deswegen beschimpft ihr mich als Hure, die sich ihre Position nur dadurch verschafft, dass sie für die Mächtigen die Beine breit macht. Ihr Heuchler!«
Sie ballte die Hände vor der Brust zu Fäusten; ihr schönes Gesicht glühte vor Zorn.
»Ihr habt mir meinen Vater genommen, und ich habe nicht aufgegeben. Ihr habt mir Tarek geraubt, der mein Herz und meine Seele war… und ich lebe immer noch. Und jetzt habt ihr versucht, auch noch mich auszulöschen, und eine Unschuldige getroffen. Nicht dass das etwas Neues wäre! Ich verfluche euch – ich verfluche euch in die tiefste Hölle! Aber ich gebe nicht auf! Ihr werdet mich nicht vernichten, und ihr werdet Kashmir nicht vernichten – nicht, wenn ich es verhindern kann. Und ich werde für Kashmir kämpfen bis zu meinem letzten Atemzug!«
Sie verstummte und senkte den Kopf.
»Bis zu meinem letzten Atemzug«, wiederholte sie… und dann, ganz plötzlich, schluchzte sie auf. Vikram ging rasch zu ihr und zog sie fest an sich.
»Bis zu deinem letzten Atemzug«, sagte er liebevoll. »Und bis zu meinem. Und jetzt lass die Wut los, mein Mädchen. Hier darfst du schwach sein und trauern… du bist unter Freunden, die dich lieben.«
Najiha vergrub das Gesicht an seiner Brust. Sie weinte so heftig, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sameera stand auf, streckte die Hand aus und strich Najiha schweigend über das Haar, wieder und wieder. Dann legte sie ebenfalls die Arme um sie und lehnte den Kopf an ihre Schulter. Auch Sita erhob sich, trat dicht an Najiha heran und küsste sie sanft auf die Wange.
Raja spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Najihas rasender Schmerz riss an seinem Herzen und schien alle seine Albträume gleichzeitig aufzuwecken. Doch gleichzeitig war da eine Kraft in diesem Raum, die ihn ermutigte… stark und überwältigend, wie ein reinigendes Gewitter.
Er berührte Najihas Arm. Najiha löste sich von Vikram und trat einen Schritt zurück. Sie sah Raja an, das Gesicht bleich und tränenüberströmt. Vikram, Sameera und Sita standen neben ihr wie aufmerksame Wächter, den Blick ebenso fest auf ihn gerichtet. Und plötzlich wusste er genau, was Najiha in diesem Moment von ihm hören musste.
»Du solltest jetzt nach Hause zu deiner Tochter fahren, meri asaadharan dost«, sagte er ruhig. »Und wenn du erlaubst, dann komme ich mit dir. Wir entwerfen gemeinsam eine Presseerklärung, Hasim Abbas stellt mir bestimmt auf die Schnelle einen Verteiler mit den wichtigsten Medienadressen zusammen – und dann verkünden wir der Welt, dass du am Leben und wohlauf bist. Du brauchst dich um nichts zu kümmern.«
Die heftige Anspannung schwand aus ihrem Körper und sie schwankte leicht, wie am Rand der totalen Erschöpfung. Raja griff rasch zu und hielt sie aufrecht.
»Und außerdem«, fuhr er fort, »bewachen wir in den nächsten Stunden deine Telefone und halten dir die Hyänen vom Leib. Dann kannst du den Rest des Abends ganz für deine Tochter da sein. Einverstanden?«
Najiha blickte zu ihm auf und brachte ein bleiches Lächeln zustande.
»Einverstanden, mein Vazir. Lass uns gehen.«