Читать книгу Ein Lied in der Nacht - Ingrid Zellner - Страница 8

Оглавление

Kapitel 1

Gegen die Angst

Am nächsten Tag kam Rizwan Padar zum ersten Mal in das Dar-as-Salam. Sameera hatte darauf bestanden, dass alle Kinder anwesend waren, wenn der neue Wachmann sich vorstellte, und deshalb den Termin auf einen Sonntag gelegt.

»Die Chemie muss stimmen«, sagte sie. »Wenn sie ihn nicht mögen oder gar Angst vor ihm haben, schicken wir ihn weg und suchen uns jemand anderen.«

Also waren kurz vor Padars Ankunft die Kinder samt und sonders auf der Veranda des großen, alten Holzhauses versammelt, um einen ersten Blick auf ihn zu werfen.

Vikram stand an einem Ende der Kinderreihe, Sameera am anderen, Moussa dicht neben sich. Als Vikram im Juli wegen des Mordverdachts verhaftet worden war, hatte Moussa die Rolle des Mannes im Haus übernommen, und noch immer ließ der Fünfzehnjährige sie kaum aus den Augen, obwohl Vikram schon lange wieder zuhause war.

Vikram seufzte lautlos in sich hinein.

Die Unruhen nach dem Tod des Widerstandskämpfers Burhan Wani und die Tatsache, dass er, Vikram, festgenommen und eingesperrt worden war, hatten tiefe Spuren in Moussas Seele hinterlassen – ein herber Rückschlag nach all dem stillen Selbstvertrauen und der Stärke, die der Junge seit seiner Ankunft vor fünf Jahren im Dar-as-Salam mit der Hilfe von Sameera und Vikram allmählich aufgebaut hatte. Und mit Hilfe von Raja, der ihn liebte wie ein Vater, und der von Moussa geliebt wurde wie von einem Sohn.

Plötzlich erinnerte sich Vikram wieder daran, wie Raja und Moussa sich zum ersten Mal begegnet waren – ein freundlicher Fremder in Srinagar, der den Kindern Mandelgebäck schenkte und ihm half, den liegengebliebenen Kleinbus des Waisenhauses wieder flott zu machen, und das scheue Kind, das überraschenderweise ständig seine Nähe suchte und den Blick nicht von ihm abwenden konnte. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass die Eignung ihres neuen Leibwächters unter anderem auch davon abhing, wie Moussa auf ihn reagierte… quasi eine Art psychologischer Lackmustest. Und ganz besonders musste er auf Azad achten, der in dem Paramilitär-Lager auf brutale Weise gelernt hatte, sich vor Männern zu fürchten, und der vor Fremden meist erst einmal zurückschreckte.

Aus der Entfernung erklang das Röhren eines Motors; ein Jeep bog in die holperige Zufahrt zum Dar-as-Salam ein, näherte sich und blieb endlich mit quietschenden Bremsen vor dem Haus stehen. Die Fahrertür öffnete sich und ein Mann stieg aus. Er war mittelgroß und auf eine Weise kräftig, die nahelegte, dass er häufig Sport trieb. Sein Gesicht erzählte allerdings eine andere Geschichte… mit großen, überraschend sanften Augen, die sein Empfangskomitee interessiert musterten, olivgetönter Haut und einem dichten, sauber kurz gestutzten Bart rund um einen vollen Mund. Der verzog sich angesichts der Kinderschar zu einem breiten, fröhlichen Lächeln. Vikram registrierte mit einem raschen Seitenblick, dass fast alle Kinder das Lächeln spontan erwiderten. Auch Moussa… und Azad zeigte zumindest keine übermäßige Angst. Ihm wurde auf der Stelle deutlich leichter ums Herz.

»Rizwan Padar?«, fragte er.

»Eben derselbe.« Padar salutierte militärisch, dann lächelte er verlegen, faltete die Hände und neigte grüßend den Kopf. »Ich hatte keine Ahnung, dass ich eine solche Sensation bin.«

»Sie sind der Mann, der diese Kinder beschützen muss, wenn ich nicht da sein kann, um es selbst zu tun«, erwiderte Vikram. »Sie sollten die Aufgabe, die Sie vor sich haben, nicht unterschätzen.«

»Keine Sorge«, sagte Padar. »Ich bin mir bewusst, dass Sie mich aus gutem Grund hierher bestellt haben. Ihr Heim hat einen interessanten Ruf in diesem Tal.«

»Sie finden uns interessant?«

Das war Sameera, die plötzlich neben Vikram stand, Moussa hinter sich, der ihre Finger fest umschlossen hielt. Sie klang ausgesprochen reserviert. Padar sah sie an, legte eine Hand auf die Brust und verneigte sich tief.

»Sandeep sahiba«, sagte er, »es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen – genau wie Ihren Mann und Ihre Kinder.« Diesmal blieb sein Gesicht ernst, aber das Lächeln funkelte in seinem Blick wie ein ironisches Irrlicht. »Ich hoffe, ich finde Gnade vor Ihren Augen.«

»Das hängt ganz von Ihnen ab.« Sameeras Haltung entspannte sich leicht, und sie legte den Kopf schräg. »Sie waren bei der Armee, soweit ich weiß?«

Er nickte. »Rashtriya Rifles. Bis vor drei Monaten.«

»Auf eigenen Wunsch ausgeschieden und ehrenhaft entlassen«, ergänzte Vikram. »Im Rang eines Naik, und mit einem Zusatztraining als Scharfschütze. Ihre Vorgesetzten haben es bedauert, Sie zu verlieren, und die nächste Beförderung wäre nur eine Frage der Zeit gewesen.«

»Sie kennen meine Dienstakte.« Padar nickte und musterte ihn aufmerksam. »Natürlich. Sie mussten sichergehen, dass ich für Ihre Bedürfnisse tauglich bin.« Sein Blick schweifte zu den Kindern hinüber, die ihn unverwandt beobachteten. »Vielleicht sollten wir das Einstellungsgespräch besser drinnen fortsetzen?«

»Keine schlechte Idee.« Vikram öffnete die blaue Tür und machte eine einladende Geste. »Kommen Sie.«

***

»Was hältst du von ihm?«

Vikram saß am Tisch in der Küche, während Sameera den Pfannkuchenteig für das Frühstück der Kinder am nächsten Morgen vorbereitete. Er fand es außerordentlich friedlich, ihr dabei zuzusehen, wie sie Eier aufschlug, Mehl siebte und Milch in die große Schüssel goss. Normalerweise war das die Aufgabe ihrer Köchin Zobeida, aber die hatte sich freigenommen, damit sie sich ein paar Tage ausschließlich um die hochbetagte Mutter ihres Mannes Hamid kümmern konnte, die ein wenig kränkelte.

»Ich denke, ich mag ihn«, sagte Sameera, während sie mit dem Schneebesen in der Schüssel rührte. »Und die Kinder mögen ihn auch. Sie haben ihm jedes Zimmer gezeigt – genau wie damals bei Raja.«

»Er kann gut mit ihnen umgehen«, erwiderte er zustimmend. »Freundlich, aber nicht zu freundlich, wenn du verstehst, was ich meine. Er biedert sich nicht an.«

»Richtig.« Sameera deckte die Schüssel mit dem fertigen Teig ab und stellte sie in den Kühlschrank. »Außerdem hat er sich von Ibrahim seine neuesten Schnitzereien erklären lassen, und der hat ihm einen regelrechten Vortrag gehalten, obwohl er sonst kaum den Mund aufbekommt – jedenfalls Fremden gegenüber.«

Vikram ließ den Nachmittag ein letztes Mal vor seinem inneren Auge vorüberziehen.

»Die Mädchen waren zuerst ein bisschen scheu«, meinte er, »aber nicht lange. Er hat ihnen gegenüber genau den richtigen Ton getroffen.«

»Klingt fast perfekt, nicht?« Sameera ließ den Schneebesen in die Spüle fallen. »Wie gesagt, ich denke, ich mag ihn.«

Vikram hob eine Augenbraue. Er kannte seine Frau. »Denkst du das.«

»Ich werde ein bisschen Zeit brauchen, um ihn wirklich einschätzen zu können«, sagte sie. »Heute hat er sich ganz sicher von seiner besten Seite gezeigt, aber das hält kein Mensch dauerhaft durch, ohne sich irgendwann eine Blöße zu geben. Erst wenn ich die gesehen habe, fälle ich mein endgültiges Urteil.«

»Dann wird er wohl so lange warten müssen, bis er ›Gnade vor deinen Augen findet‹.« Vikram grinste.

»Damit hat er mir fast den Wind aus den Segeln genommen.« Sameera grinste ebenfalls, dann wurde ihr Blick weich. »Gott sei Dank ist Azad nicht vor ihm zurückgeschreckt. Und im Aufenthaltsraum hat Padar gefragt, wer die vielen tollen Landschaftsbilder aus Gulmarg gemacht hat. Moussa hat sich sehr darüber gefreut und ist danach endlich wieder ein bisschen aufgetaut.«

»Beste Voraussetzungen also«, entgegnete Vikram. »Wir geben ihm eine Chance. Seine Leistungen in der Armee waren in jedem Fall makellos, und er ist mir von gleich mehreren Leuten wärmstens empfohlen worden. Ich hab mit dem Mann gesprochen, der ihn in der Scharfschützeneinheit trainiert hat. Padar trifft eine Krähe in der Krone eines Chenarbaumes aus hundert Metern Entfernung ins Auge. Und er wird dir vorher genau sagen, in welches von beiden.«

Er stand auf und nahm Sameera das Geschirrtuch aus der Hand.

»Das heißt, ich muss mir um dieses Heim und meine Familie ab sofort weniger Sorgen machen. Komm, meri jaan – lass uns schlafen gehen.«

***

Knapp zwei Wochen nach der ersten Begegnung mit dem neuen Wachmann des Dar-as-Salam war Sameera auf dem Markt an der Jamia Masjid in Srinagar unterwegs. Das Freitagsgebet war gerade vorüber, der Platz schwarz von Menschen. Während sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte, spürte sie mit einem Mal ihren Herzschlag wie ein pulsierendes Hämmern im Mund. Ihre Handflächen wurden schweißfeucht. Und sie bekam keine Luft mehr.

Eine Hand streifte ihren Ellenbogen, eine Passantin mit vollen Einkaufstaschen rempelte sie an und brachte sie um ein Haar zum Stolpern. Für ein paar vollkommen panische Sekunden wurde ihr schwarz vor Augen.

Ich muss hier weg, dachte sie. Ich muss raus aus dieser Menge, bevor ich ersticke.

Sie versuchte, nachzudenken. Sie hatte sich heute Morgen in der Klinik mit Hamid abgesprochen; der betete normalerweise immer in der Hazrat-bal-Moschee und wollte sie abholen, wenn sie ihn anrief. Das Handy. Sie musste es nur aus ihrem Beutel holen und seine Nummer wählen. Das würde sie doch wohl noch fertigbringen.

»Nun geh endlich aus dem Weg, Frau!«

Jemand packte sie grob am Arm und stieß sie beiseite. Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, aber sie war außerstande, zu sprechen.

Kein Wort, hakim sahiba, oder Sie sind tot.

Es war wie ein machtvoller Flashback, der sie in die Gasse bei Ali Rafiqs Café zurückschleuderte. Der Mann, dem sie im Weg gestanden hatte, war längst in der Menge verschwunden, aber sie konnte seinen Klammergriff noch immer spüren… nicht nur an einem, sondern an beiden Armen. Dort, wo Guptas Schergen sie festgehalten hatten, als sie ihr die Revolvermündung ins Kreuz gedrückt, sie durch den Demonstrationszug gelotst und in das Auto gezerrt hatten, damals im April.

Sameera setzte sich in Bewegung, dankbar dafür, dass ihre Beine sie noch trugen. Sie ging vorwärts, ohne wirklich zu wissen wohin, immer einen Schritt nach dem anderen. Gesichter und Marktstände verschwammen in einem dichten Nebel, das vielfache Stimmengewirr, die Rufe der Marktschreier und die Lieder aus den Lautsprechern der Radios ergossen sich wie ein unaufhörlicher Klangbrei in ihre Ohren. Der Platz lag im klaren Schein der Mittagssonne, aber vor ihren Augen flackerte und flimmerte das Licht und ging immer wieder aus.

»Hakim sahiba?«

Eine Stimme, die sie kannte, alarmiert und freundlich… und mit einem Ruck kehrte sie zurück in die Wirklichkeit. Direkt vor sich sah sie das vertraute bärtige Gesicht von Hassan Harabi, der sie über seine Brille hinweg musterte. Hinter ihm erkannte sie vage den Umriss eines Verkaufsstandes mit Spielbrettern, die sich in den Fächern stapelten. Offenbar hatte ein untrüglicher, rettender Instinkt sie geradewegs zu ihm geführt. Auf dem Tresen war ein Schachspiel aufgebaut. Sie starrte die Figuren an wie betäubt. Sie waren aus Elfenbein geschnitzt, das hell in der Sonne leuchtete. Schachmatt, dachte sie.

»Y’Allah, was fehlt dir? Sherif, hilf der hakim sahiba, sich da auf den Hocker zu setzen.«

Sein ältester Sohn tauchte buchstäblich aus dem Nichts auf; als er ihren Arm nahm, um sie hinter den Tresen in das Innere des Verkaufsstandes zu führen, zuckte Sameera heftig zusammen. Hassans Stirnrunzeln vertiefte sich und verschwand auch nicht, als sie Platz genommen hatte.

»Hol eine Wasserflasche aus dem Wagen, beta.«

Er ging vor ihr in die Hocke, und seine warme Hand legte sich über die ihre. Ihre Finger bebten und waren eiskalt.

»Bist du krank? Soll mein Sohn dich in die Klinik fahren, oder möchtest du, dass ich Vikram bitte, herzukommen?«

Sameera schüttelte den Kopf. »N-nein.« Ihre Stimme war so dünn und tonlos, dass sie sie kaum erkannte. »Ich will nicht in die Klinik, und bitte… sag Vikram nichts davon.«

Sie tastete nach dem Beutel, der an einem langen Stoffriemen über ihrer Schulter hing. Da war ihr Geldbeutel, ihr Terminkalender und ganz unten lag das Handy. Wie damals, dachte sie. Das alles hast du auch dabeigehabt, damals im April. Und die Erinnerung wird dich immer wieder heimsuchen und dir beweisen, wie schwach du bist.

Sie blickte auf und sah Hassan an.

»Holst du bitte mein Handy aus der Tasche und rufst Hamid an? Er wollte mich heute mit ins Dar-as-Salam nehmen, und wenn er nichts von mir hört, wird er sich Sorgen machen.«

»Ja, natürlich.« Er wiegte bedenklich den Kopf. »Hakim sahiba… bist du ganz sicher, dass du nicht doch einen Arzt brauchst? Ich mache mir nämlich auch Sorgen um dich. Du bist kreidebleich… als hättest du einen Geist gesehen.«

»Nein… nein, danke, Hassan baba. Es geht schon wieder. Bitte, ruf Hamid für mich an, ja? Bitte

Sie schloss die Augen. Sie sperrte den alten Holzschnitzer, den Markt und die vielen Menschen darauf aus und zog sich in die rötliche Dunkelheit hinter ihren Lidern zurück. Ihr Herzschlag verlangsamte sich endlich, aber sie spürte, dass der Kameez unter ihrer Burqa schweißnass war, und dass sie nicht aufhören konnte zu zittern.

Es ging nicht schon wieder. Ganz im Gegenteil.

***

Als Vikram an diesem Abend zurück ins Dar-as-Salam kam, wurde es bereits dunkel; er hatte Najiha Kamaal auf einer ihrer Fahrten nach Dardpura begleitet, die sie regelmäßig machte, um dort die Fortschritte ihrer Projekte zu überprüfen und mit den Frauen zu reden, die in dem »Dorf der Halbwitwen« lebten. Parveena Faridals Enkel besuchte mittlerweile eine weiterführende Schule, brachte gute Noten nach Hause und hielt seinen Großvater in Ehren; das Bild von Altaaf Faridal hing nach mehr als fünfundzwanzig Jahren noch immer an derselben Stelle in Parveenas Wohnzimmer. Noch immer war er nicht heimgekehrt, und noch immer wartete seine Frau beharrlich auf Gewissheit über sein Schicksal.

Vikram wechselte ein paar Worte mit Rizwan Padar, der in seiner Abwesenheit das Heim bewacht hatte. Er wartete, bis Padar sich verabschiedet hatte, in seinen Jeep gestiegen und losgefahren war, dann betrat er das Haus und ging den Gang hinunter in Richtung Küche. Aus dem Aufenthaltsraum waren Stimmen zu hören; dort saßen einige der Kinder noch über den Hausaufgaben. In der Küche fand er Ameera vor, die neben dem Herd langsam hin- und herging, Mohan auf dem Arm und eine Stoffwindel über der Schulter. Azad saß am Küchentisch; auch wenn er mit Vikrams und Sameeras Schützlingen insgesamt gut zurechtkam, so hielt er sich dennoch nach wie vor bevorzugt in der Nähe seiner Schwester auf, als schenkte ihre Gegenwart ihm Sicherheit und zusätzliche Wurzeln.

»Hallo, ihr zwei!« Vikram lächelte. »Wo ist ammi? Hat sie sich hingelegt?«

Die beiden wechselten einen raschen Blick.

»Nein«, erwiderte Ameera. »Nein, sie ist draußen.«

Vikram runzelte die Stirn. »Draußen? Wo draußen?«

»An der Feuerstelle, neben dem Baum.« Azad schaute in Richtung Fenster. »Hamid hat sie heute Nachmittag heimgebracht, bevor er uns aus der Schule abgeholt hat. Ich glaube, sie war nach der Klinik noch auf dem Markt, und da ist irgendwas passiert.«

Vikram spürte, wie ihm die Brust eng wurde. »Hat er gesagt, was es war? Oder hat ammi etwas gesagt?«

»Nein, keiner von beiden… nur eben, dass er sie auf dem Markt abgeholt hat«, meinte Ameera. Mohan streckte eine Hand aus und haschte nach ihrem Zopf; sie hielt seine kleinen Finger behutsam fest. »Vorsicht, chhote, nicht ziehen! – Sie hat Zobeida beim Essenmachen geholfen und Mohan gestillt, danach ist sie hinausgegangen, und seitdem ist sie da draußen. Sie hat sich noch nicht einmal eine Jacke geholt, und dabei ist es jetzt schon richtig kalt.«

»Ich schau nach ihr.« Vikram hatte sich bereits halb zum Gehen gewandt, als er die Thermoskanne sah, die auf dem Tisch stand. Azad erriet offensichtlich, was er dachte, denn er stand rasch auf, holte einen großen Keramikbecher aus dem Schrank und füllte ihn aus der Kanne mit Chai. Dann hielt er Vikram den Becher hin.

»Der tut ihr bestimmt gut«, sagte er. »Seit sie zuhause ist, wollte sie gar nichts haben.«

»Danke, mein Junge. – Ameera?«

»Ja, Vikram baba?«

»Ich bin sicher, es dauert nicht lange, aber trotzdem: Würdest du bitte Mohan wickeln und ins Bett legen, wenn er müde wird?«

»Gerne.« Ameera lächelte und tupfte seinem Sohn einen Kuss auf die Stirn. Einmal mehr stellte Vikram fest, dass die Siebzehnjährige immer hübscher wurde… und dass ihr ein Baby auf dem Arm ausgesprochen gut stand. Sie würde sicher in nicht allzu ferner Zukunft einen Mann sehr glücklich machen. Und er würde diesen Mann vorher sehr gründlich unter die Lupe nehmen – egal, wer es war.

Er ging hinaus, den Becher in den Händen und das kräftige Aroma von Kardamom, Zimt und Vanille in der Nase. Als er das Haus umrundet hatte und auf den Chenarbaum zusteuerte, sah er seine Frau auf der Bank neben der Feuerstelle sitzen. Sie trug immer noch den weinroten Salwar Kameez, in dem sie sich heute Morgen von ihm verabschiedet hatte. Er war kurzärmelig, und Ameera hatte recht gehabt: Jetzt, wo die Sonne fort war und den Rest des Sommers mit sich genommen hatte, wurde es rasch empfindlich kalt.

Sie musste mit den Gedanken sehr weit fort gewesen sein, denn sie bemerkte ihn erst, als er unmittelbar vor ihr stand.

»Hallo, Liebste«, sagte er sanft.

Sie sah ihn an. Ihre mandelförmigen Augen waren noch dunkler als sonst.

»Hallo, mera jaan«, antwortete sie leise. »Schön, dass du wieder da bist.«

»Ich hab dir was Warmes mitgebracht.« Er reichte ihr den Becher. »Um Himmels willen – du musst dir etwas überziehen! Deine Hände sind eisig.«

Sie nahm einen Schluck, seufzte und zog eine kleine Grimasse. »Danke, das tut gut. Und mach dir keine Gedanken über meine Hände. Wenigstens zittern sie jetzt nicht mehr.«

Vikram schlüpfte aus seiner alten Jeansjacke und legte sie Sameera um die Schultern. Sie zog den abgetragenen Stoff eng um sich zusammen und lächelte schwach.

»Die hattest du schon, als wir uns kennengelernt haben.«

»Ich weiß. Die werde ich tragen, bis sie eines Tages auseinanderfällt.« Er ließ sich dicht neben ihr auf der Bank nieder. »Was ist los? Azad hat gesagt, auf dem Markt wäre irgendetwas passiert.«

Sie schmiegte die Wange an seine Schulter und schloss die Augen. »Eine Panikattacke. Die schlimmste, an die ich mich erinnern kann, jedenfalls in diesem Jahr. Schwindel, Übelkeit, Herzrasen, Schweißausbrüche – das ganze Programm. Ich hab es irgendwie zum Stand von Hassan baba geschafft. Er wollte, dass Sherif mich in die Klinik fährt, aber zum Glück konnte ich ihm das ausreden.«

»Zum Glück?« Vikram schüttelte den Kopf. »Geliebte, begreifst du eigentlich nie, wann du wirklich Hilfe brauchst?«

»Ich begreife es nur zu gut.« Sameera trank einen weiteren Schluck; sie klang überraschend sachlich. »Aber das mit der Hilfe ist leider nicht ganz so einfach.«

»Wieso?«

»Ich kann keine Antidepressiva nehmen – und bevor du fragst: Nein, an Mohan liegt es nicht. Wenn ich wüsste, dass es hilft, würde ich unseren Kleinen halt abstillen. Aber sogar die Mittel ohne Benzodiazepin bekommen mir nicht, und die Nebenwirkungen sind eine Katastrophe. Damals in Shimla habe ich sie mehr als ein halbes Jahr geschluckt; das tu ich mir nicht noch einmal an, wenn ich nicht unbedingt muss.«

»Und ein Therapeut? Lakshmi wird doch sicher jemanden kennen, zu dem du gehen kannst.«

»Bei dem Therapeutenmangel hier im Tal? Du machst Witze. Abgesehen davon würde ich nur mit einem Kollegen sprechen wollen, den ich wirklich sehr gut kenne und dem ich hundertprozentig vertraue. Denn wenn ich über das reden will, was mich belastet, dann wird natürlich Gupta zur Sprache kommen… und möglicherweise auch der merkwürdige Unfall, der ihn das Leben gekostet hat.«

Vikrams Mund wurde schmal. Sameera hatte recht, das war ein Thema, das man nicht jedem anvertrauen durfte – jedenfalls nicht wahrheitsgemäß und in vollem Umfang. Sonst würde seine Kaution schneller widerrufen werden, als er bis drei zählen konnte, und er würde erneut ins Gefängnis wandern. Und diesmal für immer.

»Ich habe es satt.« Sameeras Stimme klang müde und bitter. »Seit meiner Ankunft hier in Kashmir vor vier Jahren bin ich schon zweimal zum Spielball deiner Feinde geworden. Meine Hilflosigkeit ist nach jedem dieser Übergriffe gewachsen, und meine Angst auch. Nicht vor dem, was Al Yussufs Männer damals mit mir gemacht haben… oder Gupta. Sondern davor, irgendwann wieder ein Druckmittel zu sein, das deine Feinde gegen dich verwenden wie eine Waffe, um dich zu schwächen.«

»So siehst du dich?« Er nahm sie in die Arme. »Du hast mich noch nie geschwächt, und du wirst es niemals tun. Nicht, solange du mich liebst und bei mir bleibst, mein Herz.«

Sameera lehnte die Stirn gegen seine Brust. »Es beruhigt mich, das zu hören. Trotzdem – so etwas kann immer wieder passieren. Und was willst du dagegen tun? Auch noch persönliche Leibwächter für mich anheuern, so wie damals für Tarek? Sie haben ihn nicht dauerhaft schützen können, das weißt du. Sie haben nicht verhindern können, dass Najiha heute Witwe ist und die kleiner Nour ihren Vater nie kennenlernen durfte.«

»Ja, das weiß ich.« Er strich ihr über das Haar. »Aber dir ist doch bestimmt klar, dass dieses Haus und alle, die darin leben, von Najihas Leuten überwacht werden? Seit Rajas und deiner Entführung im April hat es keine Zwischenfälle mehr gegeben. Die Löwin von Kashmir macht denselben Fehler nicht zweimal. Und jetzt haben wir zudem auch noch Rizwan Padar als Wachmann, und bislang macht er seine Sache gut.«

»Mag sein. Aber dummerweise lernen unsere Feinde auch dazu. Ich… ich wünschte, ich wäre ein bisschen wehrhafter. Bisher habe ich mich immer darauf verlassen können, dass du kommst und mich rettest.«

»Nicht bei Gupta.« Er sprach leise und grimmig.

»Wie man’s nimmt. Immerhin hast du mich aus dem Präsidium geholt. Sogar mit Eskorte.« Sameera atmete tief durch. »Und der Rest – das war mein ganz persönlicher Pakt mit dem Teufel.«

Sie stand auf.

»Ich wünschte, ich müsste nie mehr davon träumen. Ich wünschte, ich könnte wieder allein auf den Markt gehen, ohne ständig auf die Schritte der Männer zu lauschen, die mich damals mitgenommen haben. Seit Monaten wage ich mich fast nur noch in Begleitung nach Srinagar hinein, weil meine Furcht davor, es allein zu tun, immer größer geworden ist. Ich hab diese Angst so entsetzlich satt. Ich will kein Opfer mehr sein.«

Er sah die Verzweiflung und Ratlosigkeit in ihren Augen.

»Hilf mir, Vikram! Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Er lächelte schwach. »Ich bin kein Therapeut wie du, Liebste… nur ein alter Krieger mit zu vielen Narben auf Leib und Seele. Und ich weiß nicht, ob ein Rat ausgerechnet von meiner Seite dir wirklich etwas nützt. Aber vielleicht hast du recht. Vielleicht wird es Zeit, dass du lernst, dich zur Wehr zu setzen.«

Sameera runzelte die Stirn. »Wie genau stellst du dir das vor?«

Er stand auf, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie zärtlich. »Ich erklär’s dir. Aber zuerst kommst du mit hinein, sonst erkältest du dich noch. Dann isst du endlich etwas, und danach – aber wirklich erst danach – sage ich dir, wie genau ich mir das vorstelle.«

***

»Oh Gott… das tut weh!«

Sameera lag bäuchlings auf ihrem Bett. Sie war nackt, und auf ihrem rechten Schulterblatt prangte ein sehr eindrucksvoller Bluterguss. Vikram beugte sich darüber und pfiff leise durch die Zähne.

»Der ist aber nicht von schlechten Eltern, mein Herz. Woher hast du den?«

»Janveer dachte, ich könnte nach einer Stunde im Fitnessraum ruhig noch eine halbe Stunde durch das Gelände laufen, für die Kondition. Immer am Fluss entlang, und das Ufer ist in der Nähe von Najihas Haus mit Felsbrocken übersät. Deswegen sind meine Beine auch so zerschrammt. Mein Fehler – was muss ich auch über die eigenen Füße stolpern.«

»Das heißt, mit dem eigentlichen Training zur Selbstverteidigung hat er noch gar nicht angefangen?«

Sameera schnaubte. »Er findet, dafür bin ich noch lange nicht fit genug. Er hat gesagt, wenn ich nicht deutlich an Kraft und Ausdauer zulege, könnte ich mich bei den Übungen ernsthaft verletzen.«

»Ich sag’s ja ungern, aber er hat recht.« Vikram küsste sie zart auf die bloße Schulter; Sameera fuhr zusammen und gab einen zutiefst frustrierten Laut von sich. »Oh – da etwa auch?«

»Frag mich lieber, wo es nicht wehtut.«

Vikram betrachtete die Spuren, die nur acht Tage konsequentes Training auf dem Körper seiner Frau hinterlassen hatten, und überlegte nicht zum ersten Mal, ob die Idee, die er da gehabt hatte, nicht doch ein wenig zu radikal gewesen war. Er hatte an jenem Abend nach ihrer Panikattacke auf dem Markt vorgeschlagen, dass Janveer Naseem – der immerhin mehrere Jahre in einer Spezialeinheit der indischen Armee gedient hatte – sie in Selbstverteidigung unterrichten sollte. Das beinhaltete, dass Sameera bis auf weiteres drei bis vier Stunden täglich in Najiha Kamaals Haus verbrachte, wo der ehemalige Elitesoldat sie in seinem kleinen Fitnessraum Übungen absolvieren ließ, die er extra für sie zusammenstellte. Mohan nahm sie immer mit – sehr zur Freude von Najihas kleiner Tochter Nour –, und wenn er nicht gerade gestillt werden musste, war er bei Nours Kindermädchen Farideh Ali Ferouz in den besten Händen.

Sameera unterzog sich den ungewohnten Leibesübungen mit derselben Disziplin, mit der sie sich vor drei Jahren an die abwechselnde Arbeit als Traumatherapeutin und als Pflegemutter von Vikrams Schützlingen gewöhnt hatte. Denn wenn sie nach dem Training nach Hause zurückkam, warteten genau die mit ihren Bedürfnissen und Wünschen auf ihre ammi – was dafür sorgte, dass sie in den letzten Tagen beim gemeinsamen Abendessen mehrmals fast eingenickt war und noch vor Yussuf, Firouzé und Anjali im Bett lag.

»Mal sehen, wie lange sie das durchhält«, hatte Zobeida zweifelnd angemerkt, die genau wie Vikram registrierte, wie kräftezehrend diese plötzliche Doppelbelastung war.

»Es ist das, was sie will«, hatte Vikram erwidert, »und das, was sie offensichtlich braucht.«

Trotzdem hatte er vorsichtig bei Janveer nachgehakt, der ihn jedoch mit einem Lächeln beruhigt hatte. »Machen Sie sich keinen Kopf, Sandeep sir. Ich kann ganz gut erkennen, wer es ernst meint – und auch, wer Mumm genug hat, durchzuhalten. Vielleicht dauert es ein paar Monate oder noch mehr, bis sie so weit ist, aber Ihre Frau meint es verdammt ernst, und genügend Mumm hat sie auch. Geben Sie ihr einfach Zeit… und ab und zu eine ordentliche Massage.«

Vikram beschloss, diesen praktischen Ratschlag auf der Stelle zu befolgen. Mit dem Training im Umgang mit Waffen und allerlei anderen nützlichen Gegenständen, das er selbst übernehmen wollte, konnte er sowieso erst beginnen, wenn Sameera ein wenig abgehärtet war.

Er nahm ein Fläschchen vom Nachttisch, das eine Mischung aus Mandel- und Pfefferminzöl enthielt – eine Mixtur, die die Haut nicht nur geschmeidig machte, sondern vor allem auch kühlte. Er verrieb eine ordentliche Portion davon auf seinen Handflächen und grub die Fingerspitzen in die verhärtete Muskulatur von Sameeras Schultern. Diesmal klang der Laut, den sie von sich gab, fast wie ein Schnurren.

»Fühlt sich das gut an?« Seine Finger zogen ihr Rückgrat nach und kneteten gleichmäßig die Flanken.

»Unfassbar gut. Wo hast du das gelernt?«

»Hab ich mir selbst beigebracht – wie so manches.« Seine Hände wanderten wieder nach oben. Sie sparten sorgsam die schwarzblau verfärbte Stelle aus, fanden die schmerzhaften Knoten unter der ölglänzenden Haut und ließen sie langsam, aber sicher verschwinden. Sameera hatte den Kopf zur Seite gedreht. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht entspannt.

»Wenn ich geahnt hätte, wie wunderbar du das kannst, dann hätte ich schon viel eher mit dem Training angefangen.« Sie lächelte leicht. »Und weißt du was?«

»Nein, was denn?« Er strich über ihren Nacken, erneut über die Schultern und das Rückgrat entlang bis hinunter zu ihren Hinterbacken. Er liebte es, sie zu betrachten und zu berühren; ihre ruhige Anmut schlug ihn immer noch unfehlbar in ihren Bann. Die Jahre waren freundlich mit ihr umgegangen… weit freundlicher als die unter seinen Feinden, die es gewagt hatten, sie zu verletzen.

»Im Moment schlafe ich nachts wie ein Stein. Keine Träume mehr. Seit acht Tagen nicht ein einziger«, sagte Sameera. In ihrer Stimme schwang stiller Triumph mit.

»Das ist sehr schön.«

Seine Hände glitten wieder nach oben. Sameera stützte sich erst vorsichtig auf die Ellenbogen, dann drehte sie sich um, setzte sich auf und streifte mit den Lippen seine Handfläche. »Hmmm… das riecht sehr appetitlich. Wie die Minztoffees meiner irischen Großmutter.«

Sie sah ihn an; ihre Augen spiegelten das weiche Licht der kleinen Nachttischlampe. »Wie klug von dir, dass du dich vor der Massage auch schon ausgezogen hast.«

»Alles nur wegen dem Öl.« Er ließ sich auf der Matratze nieder. »Das gibt sonst Flecken auf der Kleidung, die nur ganz schwer wieder herausgehen.«

Sameera beugte sich vor und küsste ihn, gemächlich und voller Genuss. Es war, als würde sie ein glosendes Feuer entzünden, das erst leise zu flackern begann und dann Zentimeter für Zentimeter seines Körpers aufflammen ließ, vom Kopf bis zu den Füßen.

Er legte vorsichtig die Arme um sie und zog sie auf seinen Schoß. »Glaubst du, wir können…«

»Aber sicher können wir. Mohan ist gestillt und gewickelt, und er schläft schon seit einem Monat so gut wie durch. Wir haben einen rücksichtsvollen Sohn, muss ich sagen.«

»Sehr rücksichtsvoll. Geradezu selbstlos.« Er vergrub das Gesicht an ihrem Hals und schmeckte die Süße der Mandeln und die ätherische Schärfe der Minze gleichermaßen auf der Zunge. Jetzt war es ihre Hand, die seine Flanken liebkoste, die über seine Hüften strich und seinen Bauch. Dann berührte sie die Haut, die sich über Härte und Hitze spannte, und er rang nach Luft. Ihre Finger umfassten ihn und geleiteten ihn sanft und kundig in ihre Wärme hinein.

»Siehst du?«, flüsterte sie ihm atemlos ins Ohr, während sie begann, sich über ihm zu bewegen. »Auf diese… auf diese Weise musst du nicht einmal auf den dummen Bluterguss achtgeben.«

Ein Lied in der Nacht

Подняться наверх