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Kapitel 7

Überraschende Neuigkeiten

»Sag Vikramji auch gute Nacht, Papa!«

»Gute Nacht, Vikramji!«

Raja pflanzte dem Plüschlöwen, den Rani ihm auffordernd entgegenhielt, einen Kuss auf die Nasenspitze. Dann strich er seiner Tochter weich über das Haar. »Schlaf gut, mein Schatz.«

Sie drehte sich auf die Seite, drückte ihr Kuscheltier an sich und schloss die Augen. Raja deckte sie liebevoll zu, dann schaltete er das Licht aus und verließ das Kinderzimmer. Dabei lächelte er in sich hinein. Vikramji. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, als Rani das Plüschtier mit dem sanften, freundlichen Löwengesicht neulich bei einem Einkaufsbummel mit ihrer Mama entdeckt hatte; Sita hatte ihm hinterher lachend erzählt, wie Rani ihren Fund mit einem lauten »Guck mal, Mama, ein Vikram!« kommentiert hatte. Klar, dass der kleine Knuddellöwe daraufhin unbedingt mitmusste, und Rani hatte ihm feierlich den Namen Vikramji gegeben – »damit man ihn nicht mit dem echten Vikram verwechselt«, wie sie ihren Eltern mit ernsthafter Miene erklärt hatte. Raja freute sich schon jetzt diebisch auf das Gesicht seines Bruders, wenn Rani ihn eines schönen Tages mit ihrem neuen Lieblingsbettgefährten bekanntmachen würde.

Es war still in der Wohnung. Sita saß nebenan im Sharmivar, dem Haus ihrer beiden Söhne, bei einer gemütlichen Plauderstunde mit ihren Schwiegertöchtern, und Raja hatte ihr signalisiert, dass sie sich ruhig Zeit lassen konnte – er war ja da, um auf Rani aufzupassen, und außerdem wollte er die Gelegenheit nutzen, ein paar E-Mails zu beantworten.

Er holte seinen Laptop aus der Küche und ließ sich in einem der Sessel nieder. Während das Programm hochfuhr, schweiften seine Blicke durch den Raum und blieben an einem Holzbild hängen, das seit Oktober in seinem Wohnzimmer hing. Es war eine Tafel, etwa einen halben Meter hoch und fast genauso breit, aus abgelagertem Kiefernholz geschnitten, das schon etwas nachgedunkelt war und einen sanften Honigton angenommen hatte. Aus dem Holz wuchs als plastisches Relief ein Baumstamm heraus, die Rinde mit der typischen schuppigen Struktur eines Chenarbaumes. Auf halber Höhe teilte sich der Stamm in dicke Äste, die sich üppig verzweigten und voller Blätter hingen – jedes einzelne so detailversessen und liebevoll geschnitzt, dass man die Blattadern sehen konnte; ein unsichtbarer Wind schien hindurchzugehen und das Laub zu bewegen. Über die gesamte Baumkrone verteilt trugen einzelne Blätter die Namen der Kinder im Dar-as-Salam, und in den Stamm waren die Namen von Vikram, Sameera und Mohan eingekerbt.

Er hatte gar nicht erst nach dem Schnitzkünstler fragen müssen, als man ihm dieses Baumrelief in Srinagar feierlich überreicht hatte – die Arbeit trug eindeutig die Handschrift Ibrahims. Der war es auch, der (mit vor Aufregung geröteten Wangen) Raja erklärt hatte, womit er sich dieses Geschenk verdient hatte. Sameera ammi hat uns doch im Mai das Märchen vom tapferen Ritter erzählt, hatte er gesagt. Und da haben wir erfahren, was du getan hast, als Vikram baba damals im Krankenhaus gelegen hat und so lange nicht aufgewacht ist. Wenn du da nicht so aufgepasst hättest, dann wäre er jetzt tot. Und ich dachte, dafür verdienst du genauso ein besonderes Geschenk wie den tollen Wandteppich, den ihr für Vikram baba gemacht habt, dafür, dass er dich aus diesem Lager befreit hat. Er hatte tief Luft geholt und mit einem scheuen Lächeln hinzugefügt: Ich habe dieses Motiv ausgewählt, weil ammi immer sagt, dass du sie an einen Baum erinnerst – einen, der Schatten gibt, wenn es heiß ist, und in dem Vögel ihre Nester bauen. Wir haben auch unser Nest bei dir gebaut, im Frühjahr, als der Sturm unser Dach weggerissen hat. Und wir haben uns immer wohlgefühlt bei dir. Immer.

Ein liebevolles Lächeln umspielte Rajas Lippen. Es war für ihn und seine Familie eine Selbstverständlichkeit gewesen, Vikrams und Sameeras Pflegekinder bei sich in Shivapur aufzunehmen, während das von einem heftigen Februarsturm halb zerstörte Waisenhaus wieder aufgebaut wurde. Dass er im Jahr davor einen Mordanschlag auf Vikram vereitelt hatte, war zu dem Zeitpunkt noch ein aus mehreren Gründen wohlgehütetes Geheimnis gewesen. Doch nun wussten die Kinder Bescheid, und das Ergebnis der »labour of love«, die Ibrahim daraufhin für ihn geleistet hatte, war nach Rajas Einschätzung die beste Arbeit, die er bislang von dem talentierten jungen Künstler gesehen hatte.

Das Mailprogramm war inzwischen geöffnet. Im Posteingang fand Raja mehrere E-Mails aus dem Dar-as-Salam; die Kinder liebten es, ihn und Sita über ihren Alltag auf dem Laufenden zu halten, und er pflegte jede einzelne Mail gewissenhaft zu beantworten. So schrieb er nun ein paar Zeilen an Firouzé, die sich gerade sehr für den Film We Are Family mit ihrer heißgeliebten Kajol begeisterte und davon träumte, bei der nächstbesten Gelegenheit zusammen mit Anjali und ihm den Song Dil Khol Ke Let’s Rock aufzuführen; er gelobte feierlich, den Text dieser indischen Jailhouse-Rock-Version zu lernen und das Video genau zu studieren. Maryam, die sich schon lange für Kalligraphie begeisterte, erzählte ihm von ihrer jüngst erwachten Faszination für Japan, was ihn ehrlich beeindruckte. Und der kleine Schlingel Yussuf schilderte lebhaft ein unlängst geschehenes »Geflügel-Desaster« im Hühnerstall:

Wir wollten Omeletts machen, zum Frühstück. Ameera ist zum Stall, die Eier holen – und plötzlich gibt’s ein Riesengeschrei, als wäre der Shaitan mitten unter die Hühner gefahren. Stattdessen war es ein Wiesel! Es hat nachts irgendwie die Stalltür aufgebracht, ist hineingeschlüpft und hat unter Zobeidas besten Legehennen ein fürchterliches Gemetzel angerichtet. Zwanzig tote Hühner!! Aber wenigstens hat es nicht alle gefressen. (Ahmad behauptet, ich hab den Riegel nicht richtig vorgeschoben, aber ich war am Abend davor gar nicht mit dem Füttern dran. Ich kann diesmal ganz bestimmt nichts dafür. Ehrlich!)

Also gab es zum Abendessen einen Riesentopf Chicken Korma. Zobeida sagt, man muss das Beste aus dem machen, was man hat – jedenfalls, als sie damit fertig war, in ihre Schürze zu weinen und das Wiesel zu verfluchen. Nächste Woche fährt Sameera ammi mit ihr zu Alefs Hof, neue Hennen holen. (Und das Hühnercurry war unheimlich lecker.)

Vikram baba hat jetzt eine stärkere Tür für den Stall gebaut, und Hamid hat einen Eisenriegel mitgebracht; er meint, an dem beißt sich bestimmt auch ein Bergleopard die Zähne aus. Ich wollte mich ein paar Nächte auf die Lauer legen, um zu schauen, ob es vielleicht wirklich ein Leopard war und nicht bloß ein Wiesel, aber ammi hat es verboten. Sie sagt, Leoparden sind gefährlich, aber ich glaube, sie hat bloß Angst, dass ich in der Schule einschlafe. (Dabei sind meine Noten dieses Jahr viel besser geworden. Das musst du unbedingt Rangnekar sahab erzählen; als wir bei euch waren, hat er immer gesagt, dass ich sein »schwerster Fall« bin.)

Raja klickte auf Antworten, versprach hoch und heilig, den freundlichen Privatlehrer Pradeep Rangnekar über die Fortschritte seines Nicht-Musterschülers getreulich in Kenntnis zu setzen, und ergriff, was das nächtliche Auflauern eines Bergleoparden betraf, ganz klar Sameeras Partei. Dann ging er zur nächsten Mail über und stellte freudig überrascht fest, dass sie von Prem Ghanand kam. Sofort vertiefte er sich in die Zeilen des Mannes, der nach vier Jahren Gefängnis die Freiheit wiedererlangt hatte. Zeilen voller Freude, Hoffnung und Zuversicht, stellte er fest. Willkommen in der Freiheit, Prem. Und schön, dass du Menschen hast, die sich in dieser Situation um dich kümmern.

Ein Schatten glitt über sein Gesicht. Wie anders war es damals bei ihm gewesen, als er nach fünfundzwanzig Jahren begnadigt und aus dem Gefängnis entlassen worden war! Siebeneinhalb Jahre war das jetzt her. Aber in diesem Moment trug die Erinnerung ihn so unmittelbar zurück, als wäre es erst gestern passiert.

»Mr Shivpuri Sir?«

»Ah, Raja, komm rein, ich hab schon auf dich gewartet… setz dich, setz dich.«

Nach all den Jahren, die er diesen Gefängniswärter jetzt schon kannte, zögerte er keine Sekunde, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Er wusste, dass Mohan Shivpuri keine falschen Spielchen spielte; ihm konnte er trauen.

»Ich hab hier was für dich, Raja. Lies, und fall mir jetzt bloß nicht vom Stuhl.«

Er nahm das amtlich aussehende Dokument von dem Mann hinter dem Schreibtisch entgegen und studierte es mit gerunzelten Augenbrauen. Schon nach wenigen Zeilen blickte er erschrocken auf.

»Eine Begnadigung?«

»So ist es.«

»Aber… ich habe doch nie einen entsprechenden Antrag gestellt!«

»Nein, aber ich. – Schau mich nicht so entsetzt an, Raja. Ein solcher Antrag war überfällig, schon lange, und wenn du einen brauchbaren Anwalt hättest, dann wärst du längst draußen. Ich hab sowieso nie verstanden, warum du den Antrag nie selbst eingereicht hast. Bei deiner Führung in den vergangenen Jahren hast du dir das redlich verdient.«

»Gar nichts habe ich verdient!« Seine Stimme klang heftiger, als es ihm eigentlich zustand. »Ich bin ein Vergewaltiger und Mörder, verdammt noch mal. Ich hab da draußen nichts zu suchen.«

»Willst du mir etwa erzählen, du würdest lieber hierbleiben?«

Natürlich würde er das. Wo sollte er da draußen schon hin? Zu einem Bruder, der ihn voller Hass verstoßen hatte und dem er hatte versprechen müssen, sich von ihm fernzuhalten? Zu einer Ex-Verlobten, die inzwischen die Frau dieses Bruders geworden war? Zu den Freunden, die sich nach seiner Verhaftung nie wieder bei ihm gemeldet hatten? Hier im Knast hatte er wenigstens eine Aufgabe. Da draußen hatte er buchstäblich nichts.

Aber wie sollte er das Shivpuri erklären?

»Glaub bloß nicht, dass ich dich gerne gehen lasse, Raja. Du wirst mir fehlen, ganz ehrlich. Aber ich kann und will einfach nicht länger mit ansehen, wie hier ständig andere Männer begnadigt werden, die es weit weniger verdient haben als du. In zwei, drei Tagen sollten wir den notwendigen Papierkram erledigt haben – also fang schon mal an, dich zu verabschieden.«

Dunkel starrte Raja vor sich hin. Erst sehr viel später hatte er Shivpuri erzählt, warum eine Freilassung damals für ihn so eine Horrorvorstellung gewesen war: Das Yerawada Central Jail war – ganz besonders in den letzten neun Jahren mit Shivpuri als Gefängniswärter – ein Teil von ihm geworden, geradezu eine Art Zuhause, und der Gedanke an eine Freiheit in einer fremden, kalten Welt, in der niemand auf ihn wartete und in der er keinen Platz mehr zu haben glaubte, hatte ihm Angstzustände bereitet.

Aber nun war es nicht mehr zu ändern. Die Begnadigung war amtlich. Und so kam schließlich jener Tag im August 2009, an dem er seinen Lohn für fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit ausgezahlt bekam und mit Mohan Shivpuri in einen Raum ging, den er noch nie gesehen hatte. Heftiger Monsunregen rauschte draußen nieder, als ein Beamter mit ausdruckslosem Gesicht ein Bündel Kleidungsstücke auf den Schreibtisch pfefferte.

»Dein Zeug. Hier unterschreiben.«

Er warf einen Blick auf das Bündel. Jeans, ein schwarzes Trägershirt, ein rotes Stirnband, schwarze Schuhe. Die Sachen, die er in jener Diwali-Nacht vor fünfundzwanzig Jahren getragen hatte. Nur die Lederjacke, die damals sein ganzer Stolz gewesen war, lag nicht dabei. Hatte er sie denn überhaupt mitgenommen, als er nach jenem Drogeneinwurf das Lokal verließ? Er hätte es nicht sagen können. Verdammter Filmriss.

Aber da fehlte noch etwas…

»Wo ist der Ring?«

»Was für ein Ring?«

»Mein Verlobungsring. Ich hab ihn an dem Abend getragen. Wo ist er?«

»Hier ist kein Ring. Unterschreib jetzt endlich.«

Zum ersten Mal las er das Dokument genau. Eine Jeans, ein Shirt, ein Tuch, ein Paar Schuhe. Keine Lederjacke – wahrscheinlich war sie tatsächlich im Lokal zurückgeblieben, und einer seiner zugedröhnten Kumpels hatte sie sich unter den Nagel gerissen. Sei’s drum… aber da, ganz am Ende der Auflistung, stand ganz deutlich auch noch: ein Ring.

»Er muss hier sein. Er wurde mit den anderen Sachen abgegeben und eingelagert.«

»Siehst du hier irgendwo einen Ring? Nein. Setz jetzt endlich deinen Namen da drunter, sonst stehen wir morgen immer noch hier.«

Er unterschrieb. Was hatte es für einen Sinn? Der Ring hatte mit Sicherheit einen Abnehmer gefunden. Die Verlobung war ohnehin gelöst, und wahrscheinlich würde er weder Sita je wiedersehen noch Anil, der ihm den Ring damals spendiert hatte.

Dann betrachtete er mit zweifelndem Blick den muffig riechenden Kleiderhaufen.

»Keine Sorge, Raja, ich hab vorgesorgt. Komm mit.«

Er folgte Shivpuri in den Umkleideraum nebenan, wo der Gefängniswärter ihm die Tüte in die Hand drückte, die er bei sich trug.

»Ich hoffe, die Sachen passen. Zieh dich um, ich warte vor der Tür auf dich.«

Eine schwarze Kurta mit Churidars. Vorsichtig schlüpfte er hinein. Nach Jahrzehnten in Gefängnisuniform fühlte sich der dünne, glatte Stoff seltsam an auf seiner Haut. Er kam sich nackt vor. Nackt und zutiefst verunsichert.

Schließlich streifte er noch die Sandalen über und ging wieder hinaus zu Shivpuri.

»Na wunderbar – passt ja alles. Die Schuhe auch?«

»Ja. Danke, Mr Shivpuri Sir, das war… ich weiß nicht…«

»Sag nichts, Mann, das ist ja wohl das Mindeste, was ich tun konnte dafür, dass du mir in den vergangenen Jahren so eine unschätzbare Hilfe warst. Lass gelegentlich mal was von dir hören, ja?«

Er nickte wortlos und folgte dem Gefängniswärter durch die Korridore zum Ausgang. Das Rauschen des strömenden Regens wurde immer lauter.

»Mistwetter. Tut mir echt leid, Raja, ich hätte dir für deine Rückkehr in die Freiheit wirklich was Besseres gewünscht.«

Er wollte etwas antworten, aber er konnte nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt.

»Aber warte mal… Einen Moment, Raja, bin gleich wieder da.«

Shivpuri verschwand und kehrte wenige Minuten später mit einem dunkelgrauen Mantel zurück.

»Damit du nicht völlig schutzlos in den Regen hinausmusst. Hier, nimm!«

»Aber… wo haben Sie…«

»Ich hab ihn einem Kollegen abgeschwatzt; mach dir keinen Kopf, Raja, du schuldest deswegen weder ihm noch mir was.«

Langsam zog er den Mantel an und fühlte sich paradoxerweise noch nackter als zuvor.

»Tja… dann ist jetzt wohl der Augenblick gekommen. Alles Gute, Raja.«

»Ihnen auch, Mr Shivpuri Sir. Danke.«

Ein freundlicher Händedruck, dann wurde die schwere Tür geöffnet. Sie schwang mit einem lauten Knarzen auf, und im nächsten Moment stand er im Türrahmen, hüllte sich dicht in den Mantel ein und blickte hinaus in den strömenden Regen.

Dann ergab er sich in sein Schicksal und trat über die Schwelle…

Raja merkte, dass er zuletzt unwillkürlich den Atem angehalten hatte. Dieser Augenblick seines Übergangs aus der Sicherheit des Gefängnisses in eine in jeder Hinsicht unsichere Zukunft hatte sich ihm unauslöschlich eingebrannt; bei der Erinnerung daran verkrampfte sich sein Magen genauso schmerzhaft wie damals, und er konnte noch immer den Dauerregen auf seiner Haut spüren, ebenso wie seine bittere Einsamkeit und seine hilflose Angst vor dem, was vor ihm lag.

Er schüttelte sich leicht und stand auf, um sich einen Whiskey einzuschenken. Zum Glück ist dir dieser freie Fall ins Ungewisse erspart geblieben, Prem, dachte er. Du bist aufgefangen worden, von den besten Händen, die du dir wünschen konntest. Und nun finde wieder in das Leben zurück und lass dich nicht unterkriegen. Ich halte dir die Daumen.

Er schrieb eine schnelle kleine Antwortmail, in der er Prem zu der Freilassung gratulierte. Außerdem wünschte er ihm alles Gute für den Plan, eine eigene Praxis zu eröffnen, und versprach, ihn während seines nächsten Kashmir-Aufenthalts zu besuchen. Gerade als er die Mail abschickte, hörte er, wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Gleich darauf betrat Sita das Wohnzimmer.

»Hallo, Raja«, sagte sie lächelnd. »Schläft Rani schon?«

»Scheint so.« Raja stand auf, legte die Arme um seine Frau und küsste sie. »Jedenfalls habe ich sie vorhin ins Bett gebracht, und seitdem hat sie nichts mehr von sich hören lassen.«

»Sehr schön.« Ihr Blick blieb an seinem Whiskeyglas hängen. »Spendierst du mir auch einen Schluck? Mir ist gerade nach einem kleinen Schlummertrunk.«

»Natürlich.«

Raja grinste breit, als er ein weiteres Glas aus dem Schrank holte. Lange Zeit war Sita alles andere als eine Whiskeytrinkerin gewesen und hatte regelmäßig den Kopf über Rajas, Vikrams und Vishals Affinität zu diesem »Lebenswasser« geschüttelt. Aber dann hatte sie einmal aus purer Neugierde von dem Bushmills ›Three Woods‹ probiert, der seit etwa anderthalb Jahren Rajas Lieblingsmarke war – und seitdem geschah es tatsächlich des Öfteren, dass sie ihrem Mann Gesellschaft leistete, wenn er sich ein Glas von dem sechzehn Jahre alten, nach Marzipan, Zitrusfrüchten und Eichenholz duftenden Edeltropfen genehmigte.

»Hast du denn drüben bei unseren Kindern nichts zu trinken bekommen?«, fragte er neckend, während er einschenkte.

»Doch, natürlich«, erwiderte sie und nahm ihr Glas entgegen. »Aber kein Lebenswasser. In diesem Punkt hast du offenbar herzlich wenig an deine Jungs vererbt.«

»Sie müssen mir ja auch nicht alles nachmachen«, schmunzelte Raja und erhob sein Glas. »Sláinte!«

»Sláinte!« Sie stieß mit ihm an und trank. »Wir könnten zumindest Soham eine Flasche zum Geburtstag schenken – wer weiß, vielleicht freut sich ja auch sein Ehrengast darüber.« Ihre Augen funkelten.

»Welcher Ehrengast…«, begann Raja, ohne nachzudenken; dann stutzte er plötzlich und richtete sich kerzengerade in seinem Sessel auf. »Nein! Sag bloß…«

»Ja«, bestätigte sie fröhlich und prostete ihm erneut zu. »Ylva Sandström hat ihren Besuch angekündigt. Soham ist vorhin zu uns runtergekommen, um es uns zu sagen; ich hab ihn noch nie so aufgeregt erlebt.«

»Kein Wunder, so wie’s den erwischt hat«, kommentierte Raja amüsiert. Soham war der beste Freund seines Sohnes Surya; die beiden betrachteten sich ebenso als Brüder wie Raja und Vikram, und Soham bewohnte ein kleines Appartement im obersten Stockwerk des Sharmivar. Im vergangenen Sommer hatte er im Rahmen einer Informationsreise der IT-Firma, für die er arbeitete, Tromsø besucht, die norwegische Partnerstadt von Pune – und sich dabei in eine junge Schwedin verliebt, die dort in einem Café jobbte. Seitdem wartete die gesamte Sharma-Familie voller Spannung darauf, dass dieses überaus exotische hellblonde und blauäugige Wesen, das sie bislang nur von den Bildern auf Sohams Handy kannten, eines schönen Tages die Heimat des Mannes besuchen würde, dem es so unerwartet wie gründlich den Kopf verdreht hatte. Jetzt war es offensichtlich so weit.

»Sie war sich lange nicht sicher, ob es klappen würde«, erläuterte Sita. »Es gab wohl Probleme mit ihrem Urlaub, deswegen konnte sie sich nicht früher anmelden. Aber jetzt ist alles geregelt, die Flugtickets sind gebucht, ihr Visum ist beantragt, und sie kommt.«

»Wann genau?«, erkundigte sich Raja.

»Am 10. Februar«, antwortete Sita. »Pünktlich zu Sohams Geburtstag, das perfekte Geschenk… und wen rufst du jetzt bitte an?«, fragte sie verwundert, als Raja sein iPhone hervorzog, ein paarmal auf das Display tippte und das Gerät dann an sein Ohr hielt.

»Glaubst du, Sameera würde mir jemals verzeihen, wenn ich ihr nicht auf der Stelle Bescheid sage?«, entgegnete er augenzwinkernd und lehnte sich voller Vorfreude im Sessel zurück, als sich am anderen Ende der Leitung die Stimme von Sameera Sandeep meldete.

***

»Du musst dünne Sachen einpacken, ammi.«

Anjali stand in der Tür zum Schlafzimmer im Dar-as-Salam und sah Sameera zu, die Kameezis und Shirts säuberlich in einen Koffer stapelte.

»Ich weiß, Schätzchen.« Sameera lächelte. »Ich hab dran gedacht. Das heißt immerhin, dass ich dieses Jahr im Februar zur Abwechslung nicht friere, sondern schwitze.«

»Als wir letztes Jahr in Shivapur gewesen sind, da war mir auch warm«, erklärte Anjali ernsthaft. »Wie hier im Sommer. Aber ich fand es schön, und Rajas Familie ist sehr lieb.«

»Natürlich.«

Sameera sah zu, wie Anjali hereinkam und sich neben dem Koffer auf der Bettkante niederließ. Noch ein paar Jahre, und sie würde so flügge sein wie Zeenath und Ameera; im Juni hatte sie ihren fünfzehnten Geburtstag vor sich. Anders als bei den anderen Kindern im Haus lebte ihre leibliche Mutter noch; die Beziehung der beiden war allerdings ziemlich kompliziert.

Anjalis Vater war vor elf Jahren bei einer Demonstration auf offener Straße erschossen worden, und man hatte den oder die Verantwortlichen nie zur Rechenschaft gezogen. Dieser furchtbare Schicksalsschlag hatte Anjalis Mutter zu wütender Bitterkeit aufgestachelt, und ihre Tochter musste immer häufiger als Blitzableiter für ihren Hass auf das Schicksal herhalten. In der zweiten Klasse der Grundschule fielen einer aufmerksamen Lehrerin die blauen Flecken und Kratzer an dem Mädchen auf, das sich immer so verschüchtert hinter seinem Pult zusammenkauerte und kaum sprach. Kurze Zeit später landete Anjali zum ersten Mal in einem Kinderheim, ein halbes Jahr später in dem nächsten. Und endlich kam sie im Dar-as-Salam an, als einer von Vikrams ersten Schützlingen.

Das war jetzt sieben Jahre her. Inzwischen hatte ihre Mutter wieder Kontakt zu ihr aufgenommen, und Anjali sah sie regelmäßig. Zu ihr zurückzukehren konnte sie sich nicht vorstellen (und niemand verlangte das ernsthaft von ihr), aber immerhin sprachen sie wieder miteinander.

Anjali malte ebenso gern wie Zooni und Maryam, allerdings nicht ganz so virtuos. Sie nähte genauso fleißig wie Zeenath, aber es kamen nicht solche Kunstwerke dabei heraus wie bei ihrer älteren Pflegeschwester. Allerdings verfügte sie über eine Gabe, die in einem »Haus des Friedens« voll von aufwachsenden Teenagern noch um einiges wertvoller war: Sie konnte Streit schlichten – manchmal sogar noch ehe er richtig ausbrach. Der Umgangston war normalerweise harmonisch, schon allein deswegen, weil die Kinder sehr froh waren, dort zu sein, wo sie waren; allerdings ließen sich altersgemäße Zusammenstöße und der eine oder andere saftige »Krach« nicht immer vermeiden. Aber Anjali hatte irgendetwas an sich, das dafür sorgte, dass selbst der hitzigste Streit in ihrer Gegenwart abkühlte und man unwillkürlich seinen Ton mäßigte – weil lautes Geschrei ihr wehtat, und niemand wollte Anjali ernsthaft wehtun.

»Wann kommt ihr wieder?«, wollte sie jetzt wissen.

»Wir sind nur etwas mehr als eine Woche weg«, versicherte Sameera, legte einen zusammengefalteten Dupatta ganz oben auf den Koffer und machte ihn zu. Anjali war dasjenige von ihren Pflegekindern, das es am schlechtesten aushielt, wenn sie und Vikram das Dar-as-Salam für mehr als ein, zwei Tage verließen – nicht nur Streit war ein schwieriges Thema, auch Verlustängste spielten immer noch eine gewichtige Rolle. Allerdings machte sich Sameera nichts vor: Ohne Rizwan Padar, der seinen Wachtdienst für das Dar-as-Salam so gründlich und zuverlässig absolvierte wie ein Uhrwerk und mit dem sämtliche Bewohner bestens zurechtkamen, hätte sie selbst sich ebenfalls schwergetan, Anjali und auch die anderen Kinder so lange allein zu lassen.

»Bei deiner Schulaufführung sind wir wieder zurück«, versprach sie. Anjalis Klasse hatte in den letzten Wochen ein Stück mit vielen Volksliedern aus Kashmir einstudiert, und Anjali hatte ihren ganzen Mut zusammengenommen und sich um eine Rolle beworben; wenn sie sich tatsächlich einmal traute, vor Publikum den Mund aufzumachen, sang sie sehr hübsch, und jetzt durfte sie während der Aufführung bei drei Musiknummern mitmachen und hatte sogar ein Solo.

Anjali schaute auf ihre Hände hinunter. »Ich… ich find’s schade, dass Sita bei dem Stück nicht zuschauen kann«, sagte sie unvermittelt. »Es wäre toll gewesen, sie dabei zu haben, sie mag unsere Lieder doch so gern.«

Sameera setzte sich neben sie und zog sie an sich. »Weißt du was? Wir machen bei der Aufführung ein Video, und das schicken wir dann an Sita. Einverstanden?«

Anjali nickte; ihr Gesicht hellte sich auf. »Und du musst mir sagen, wie Sohams Freundin aussieht, das Mädchen aus Schweden«, sagte sie. »Ich bin schrecklich neugierig.«

Sameera lachte und küsste sie auf die Wange. »Das sind wir alle«, antwortete sie. »Deshalb hat Raja mich ja auch verständigt. Als er mir bei Zeenaths Hochzeit von Sohams Eroberung erzählt hat, da hab ich ihm gesagt, dass er mir unbedingt einen heißen Tipp geben soll, wenn sie mal nach Indien kommt. Ich verspreche dir, wir werden jede Menge Bilder machen.«

»Danke.« Anjali lehnte den Kopf an ihre Schulter. »Werdet ihr im Mitrata wohnen? Ich hab da voriges Jahr Tara helfen dürfen, den Namen über die Eingangstür zu malen.«

»Was denn, wirklich?« Sameera lächelte. »Dann bin ich jetzt doppelt gespannt auf dieses Gästehaus. Moussa war ja schon so begeistert davon.« Sie erinnerte sich an die Berichte ihres Pflegesohns, der im vorigen Sommer für ein paar weitere Wochen bei den Sharmas zu Gast gewesen war; er hatte einen Foto-Workshop in Pune besucht und dabei das kleine Gästehaus bewohnen dürfen, das Raja und seine Freunde vor gut einem Jahr im Garten von Vishals Haus gebaut hatten.

»Ich hab’s mir auch von innen anschauen dürfen«, erzählte Anjali eifrig. »Es hat ein großes Schlafzimmer, ein kleines Wohnzimmer mit einer Küchenzeile, und das Bad ist winzig, aber total schön. Raja hat gesagt, sie haben das Gästehaus Mitrata genannt, also Freundschaft – weil es ein Zuhause für alle seine Freunde werden soll, die ihn und Sita besuchen wollen.«

»Schöner Gedanke«, meinte Sameera. »Vielleicht sollten wir uns für unser Gästezimmer hier auch mal einen Namen ausdenken.«

Anjali kicherte. »Firouzé sagt seit Weihnachten immer, das ist das ›Rajita-Zimmer‹. Für ›Raja und Sita‹, verstehst du?«

»Klar.« Sameera schmunzelte. »Wir können uns das ja mal merken, bis uns eventuell noch was Besseres einfällt. Aber in erster Linie haben wir es ja tatsächlich für Raja und Sita gebaut.«

»Ich vermiss die beiden«, stellte Anjali fest. »Grüß sie von mir, ja? Und Tara und Kajri, und Soham und… ach, überhaupt alle!«

»Mach ich. Ich werde niemanden vergessen.«

Ein Lied in der Nacht

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