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Kapitel 6

Neubeginn

Der Anfang des neuen Jahres war eisig kalt und schwer von Schnee. Die Sharmas reisten zurück nach Shivapur – gerade rechtzeitig, bevor Yussuf sich eine handfeste Grippe samt hartnäckigem Husten einfing und damit eine Erkältungswelle im Dar-as-Salam auslöste. Sameera behandelte diesen plötzlichen Ansturm von Winterkrankheiten mit heißen Kräutertees, Dampfbädern und Hustenbonbons und sorgte dafür, dass alle Kinder stets frische Taschentücher bei sich trugen.

Kurz nach dem Dreikönigstag stand sie frühmorgens in der Küche und rührte in einem Topf, in dem ein Sirup aus Honig, zerstoßenen Minzblättern und Spitzwegerich auf kleiner Flamme eindickte. In Gedanken zählte sie die Häupter ihrer Lieben: Yussuf erholte sich langsam, Firouzé war heute daheim geblieben und lag mit Fieber im Bett. Zooni nieste seit gestern ununterbrochen und Moussa schlich mit verdächtig rot verschwollenen Augen durchs Haus.

Der Rest der Familie war (noch) gesund, und die beiden Neuzugänge Sinan und Salma Desouli schienen ebenso wie Azad bisher absolut virenresistent zu sein. Vor allem bei Letzterem war das ein Glück, denn seine Schwester Ameera war zu ihm in sein Zimmer gezogen, um Platz zu machen für die verwaisten Kinder von Najihas Buchhalterin Almas Desouli, die bei dem Anschlag auf das Parteibüro von Gulmohar ums Leben gekommen war. Immer wieder musste Sameera an jenen Nachmittag denken – an die Bilder in den TV-Nachrichten, an die Brandrede, mit der Najiha ihrem gerechten Zorn freien Lauf gelassen hatte, und an den spontanen Einsatz von Raja, der erst am Morgen danach völlig übernächtigt wieder ins Dar-as-Salam zurückgekommen war. Immerhin hatte Najiha den ersten Schock erfreulich schnell überwunden und bereits neue, provisorische Büroräume für ihre Partei angemietet – in Sichtweite der verbrannten Ruine, als wollte sie sich daran erinnern, dass es in »ihrem« Tal keine wirkliche Sicherheit für sie gab.

»Sameera aunty?«

Sameera wandte sich um. Salma stand in der Tür – ein zierliches elfjähriges Mädchen mit einem seidenweichen, tiefbraunen Haarschopf und einer runden Brille mit Metallgestell, die ganz genau so blau war wie ihre Augen. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte die Schule sie und ihren Bruder für zwei Wochen vom Unterricht beurlaubt, damit sie Gelegenheit hatten, zur Ruhe zu kommen. Die Geschwister lebten jetzt seit gut einer Woche im Dar-as-Salam, und noch immer schaute Salma meistens verschreckt drein… als könnte sie nicht fassen, dass ihr Leben unvermittelt auf solch furchtbare Weise auf den Kopf gestellt worden war. Was Sameera nach Lage der Dinge durchaus begriff.

»Was gibt’s denn, Kleines? Brauchst du etwas?«

»Sinan hustet ganz schlimm«, sagte Salma. Sie schnupperte und verzog das Gesicht, als der starke Duft von heißem Honig und Kräutern ihr in die Nase stieg. »Und er sagt, sein Hals tut weh.«

Damit hatte sich das mit der Resistenz wohl soeben erledigt.

»Er ist nicht der Erste, und der Letzte wahrscheinlich auch nicht.« Sameera seufzte. »Ich komm gleich rüber und reib ihm die Brust ein, dann wird es hoffentlich etwas besser. Anschließend schläft er ein bisschen, und wenn der Sirup fertig ist, hilft der bestimmt noch zusätzlich.«

»Das hat ammi auch immer gemacht«, meinte Salma, die an den Herd herangetreten war und neugierig die dampfende, dunkle Flüssigkeit betrachtete. »Ihm die Brust eingerieben, meine ich. Im Winter ist er oft krank.«

»Gut zu wissen.« Sameera setzte sich an den Tisch. Mohan würde nach seiner Frühstücksstillrunde um sechs sicher noch ein, zwei Stunden schlafen, also konnte sie sich Zeit nehmen. »Dann müssen wir auf deinen Bruder aufpassen und darauf achten, dass er sich immer schön warm anzieht.«

Salma kam langsam und zögernd zu ihr und blieb neben ihr stehen.

»Ammi hatte so eine Salbe, die ganz stark roch. Und sie hat Sinan einen Schal gestrickt.«

Sameera verspürte einen Anflug von Erleichterung. Seit dem Tag, an dem die Geschwister im Auto von Najihas Sekretär im Dar-as-Salam eingetroffen waren, hatte Salma ihre Mutter nicht mit einem Wort erwähnt. Sie hatte überhaupt kaum ein Wort gesprochen. Vielleicht war jetzt der Moment gekommen, in dem sie ein wenig aus sich herausging.

Ein leises Quäken ertönte aus dem Babyfon, das Sameera auf dem Tisch abgelegt hatte. Salma hob den Kopf und lauschte. »Ich glaub, Mohan ist wach.«

Pech gehabt.

»Tatsächlich!« Sameera lächelte Salma an. »Magst du mit raufkommen und nachsehen? Vielleicht braucht er eine neue Windel.«

»Oder ihm ist langweilig.« Salma erwiderte das Lächeln, und Sameera stellte fest, dass dabei zwei sehr hübsche Grübchen auf ihren Wangen auftauchten. »Ich komm gerne mit.«

Sie stiegen gemeinsam die Treppe hinauf in den ersten Stock. Als sie das kleine Kinderzimmer betraten, saß Mohan in seinem Bettchen und strahlte bei ihrem Anblick so zahnlos wie begeistert.

»Hallo, chhote«, sagte Sameera zärtlich und hob ihn hoch. Er fühlte sich warm an… fast ein bisschen allzu warm für ihren Geschmack.

»Maaaa!«, verkündete ihr Sohn erfreut, dann nieste er herzhaft.

Sameera verdrehte die Augen zum Himmel. »Na prima«, meinte sie resignierend. »Aller guten Dinge sind sechs.«

***

Als Vikram am Nachmittag die gesunden Kinder aus der Schule nach Hause brachte, fand er in der Küche nur Zobeida vor.

»Didi ist oben«, sagte sie. »Mohan geht es nicht so gut.«

Er nahm immer zwei Stufen auf einmal und fand seine Frau im Kinderzimmer vor, wo sie im Schaukelstuhl saß, das Baby in eine Decke gehüllt auf ihrem Schoß.

»Er hat Fieber«, sagte sie. »Aber das ist hier sowieso gerade eine kleine Krankenstation. Es ist ein Wunder, dass wir bisher in drei Wintern nur einen einzigen Grippefall hatten. Dieses Jahr ist die Schonzeit vorüber, fürchte ich.«

»Wenn sich der Rest nicht auch noch ansteckt, kommen wir vielleicht halbwegs ungeschoren davon«, meinte Vikram. »Ist das Fieber sehr hoch?«

»38,9.« Sie küsste Mohan auf den Kopf. »Aber bei Babys ist das nicht so schlimm, da ist alles bis 38,5 nur erhöhte Temperatur. Zooni ist ärger dran, die ist mit 39,2 vollkommen schlapp. Sie hat etwas von dem Hustensirup genommen, den ich heute früh gemacht hab. Hoffentlich hilft’s.«

»Und Moussa? Der hat vorhin auch nicht so fit ausgesehen.«

»38,7.« Sameera warf einen Blick auf die Uhr. »Er liegt seit einer Stunde im Bett und schläft. Am besten setzt Zobeida einen Topf mit kräftiger Hühnerbrühe an – davon werden wir in den nächsten Tagen bestimmt reichlich brauchen. Yussuf geht’s schon besser, aber dafür hat es den armen Sinan auch erwischt. Erst verliert er seine Mutter, und jetzt hustet er sich die Seele aus dem Leib, der arme Kerl.«

»Wie geht es dir?« Er trat hinter den Schaukelstuhl und massierte sanft die verspannten Muskeln in ihrem Nacken. Mohan spähte aus seinem Deckenkokon hervor, entdeckte ihn und gluckste schläfrig.

»Oh – mir geht’s gut«, sagte Sameera. »Ich hab mich unglaublicherweise noch nie in meinem ganzen Leben erkältet. Dabei bin ich auf einer Insel aufgewachsen, wo es dauernd regnet, und während meiner Jahre bei Medical Relief Worldwide hätte es auch genügend Gelegenheiten gegeben, mich irgendwo anzustecken.«

»Was mich angeht – ich bin in den fünfundzwanzig Jahren bei der Armee zwar ein paarmal angekratzt oder durchlöchert worden, aber ich war nicht ein einziges Mal krank«, erwiderte Vikram. »Auch danach nicht. Und da ich nicht vorhabe, daran ausgerechnet jetzt was zu ändern, kriegen wir das schon hin. Ganz sicher.«

Er beugte sich über seine Frau und küsste sie leicht auf die Schläfe. »Hast du im Moment den Kopf für ein anderes Thema, oder soll ich dich damit in Ruhe lassen?«

»Nur raus damit.« Sameera wiegte Mohan an ihrer Brust; Vikram sah, dass seinem Sohn allmählich die Augen zufielen. »Alle haben ihre Medizin, alle, die ins Bett gehören, liegen drin, und Zobeida hat unten alles im Griff. Worum geht’s?«

»Um Prem.« Vikram ging zum Fenster hinüber und blickte hinaus. Die vertraute Landschaft verschwand unter einem dicken, weißen Tuch aus Schnee, das sich im Licht der untergehenden Sonne golden und rosig färbte. »Dir ist bewusst, dass er in zwei Wochen entlassen wird?«

»Was denn, es ist schon so weit?« Sameera schnalzte leise mit der Zunge. »Wir haben darüber gesprochen, als ich das letzte Mal im November bei ihm im Gefängnis war. Kaum zu glauben, dass das auch schon fast zwei Monate her ist.«

»Und in zwei Wochen ist er frei.« Vikram zog die Vorhänge zu. »Glaubst du, er geht wieder nach Hause?«

»Wenn du mit ›nach Hause‹ Delhi und seine Mutter meinst, dann wohl kaum.« Sameera schnaubte. »Was das angeht, war Prem sehr deutlich. Er würde gerne hierbleiben und im Tal helfen, so gut er kann. Er ist der Ansicht, er hätte einiges wiedergutzumachen.«

»Noch so einer.« Vikrams Mundwinkel kräuselten sich. »Hier muss irgendwas in der Luft liegen, das den Leuten solche Gedanken in den Kopf setzt.«

»Nur den richtigen Leuten, mera jaan.« Er konnte das Lächeln in ihrer Stimme hören. »Allerdings wird es schwer für ihn werden, eine Stelle in einem der Krankenhäuser zu finden – und das, obwohl in Kashmir solch ein katastrophaler Therapeutenmangel herrscht.«

»Was ist mit Lakshmi? Kann sie ihn nicht einstellen?«

»Ich hab sie schon gefragt.« Sameera richtete sich auf und streckte sich vorsichtig, um Mohan nicht zu wecken. »Sie würde liebend gern, aber ihre Klinik ist auf die Fördermittel der Regierung angewiesen. Und wenn die Herrschaften spitzkriegen, dass der neue Bewerber vier Jahre gesessen hat, dann hat er keine Chance.«

»Schon merkwürdig, dass diese Leute jemanden ablehnen, der im Knast war – obwohl ein paar von ihnen eindeutig ebenfalls in den Knast gehören, und aus weit überzeugenderen Gründen.« Vikram schüttelte den Kopf. »Da soll man nicht zynisch werden, zum Donnerwetter noch mal.«

»Wer zynisch wird, kann nicht mehr lieben.« Sameera stand aus dem Schaukelstuhl auf und kam zu ihm herüber. »Das können wir uns nicht leisten, und in diesem Tal schon gar nicht. Wenn wir uns von dem Hass und der Hoffnungslosigkeit anstecken lassen, die hier die Erde tränken, dann dürfen wir das Dar-as-Salam dichtmachen.«

»Du hast recht.« Vikram gab sich einen Ruck und schüttelte die plötzliche Niedergeschlagenheit ab. »Zuerst einmal werden wir jetzt dafür sorgen, dass Prem sich nicht einem ganzen Wald von Mikrofonen gegenübersieht, wenn er das Gefängnis verlässt. Ich würde gern glauben, dass die Öffentlichkeit die Geschichte von seinem Verrat bei deiner Entführung längst vergessen hat, aber vielleicht findet irgendeiner von diesen Pressehyänen sie ja immer noch saftig genug. Und wenn der Erste dort auftaucht, dann kommen sie alle.«

»Wahrscheinlich.« Sameera lehnte müde den Kopf an seine Schulter, und er betrachtete das friedlich träumende Gesicht seines Sohnes. »Ich wünschte, sie hätten damals nicht so einen Aufruhr veranstaltet.«

»Du warst Mitarbeiterin einer internationalen Hilfsorganisation«, antwortete Vikram ruhig, »und von einem Tag zum anderen spurlos verschwunden. Deine Zeugenaussage im Prozess gegen Ahmad Al Yussuf und Prem hat viel Staub aufgewirbelt. Verdammt peinlich für all die, die mit ihren Mauscheleien, ihren Bestechungen und Geschäften in Kashmir am liebsten ungestört geblieben wären. Bei Ausländern schauen nicht nur die ernstzunehmenden Journalisten, sondern auch die Schmierfinken etwas genauer hin.«

»Vielleicht fällt dir ja etwas ein, damit die erste Stunde in Freiheit nicht so ein Schock für Prem wird«, meinte Sameera. »Und vielleicht können wir ihn danach hierherbringen – dann hat er die Gelegenheit, durchzuatmen, und wir können mit ihm in Ruhe darüber reden, was er jetzt vorhat.«

»Kein Problem.« Vikram lächelte. »Das sollte sich organisieren lassen. Aber jetzt kümmere ich mich wohl am besten erst mal um die Fleischeinlage für die Suppe.«

Er krempelte die Ärmel hoch und ging Richtung Tür.

»Die beiden fetten Hennen, die vor allem fressen und kaum Eier legen, sind fällig. Faule Biester. Es wird höchste Zeit, dass sie mal für irgendwas von Nutzen sind.« –––

An diesem Abend versammelten sich die Bewohner des Dar-as-Salam, die die Grippeepidemie nicht ans Bett fesselte, um den langen Tisch im Aufenthaltsraum. Die kräftige Hühnersuppe war mit Reis, Lauch und Möhren gekocht worden und fand regen Zuspruch. Nach dem Abendessen machte Sameera die Runde durch die Zimmer, verteilte Hühnerbrühe, Hustensirup und Erkältungsbalsam und kam gegen zehn ins Schlafzimmer, von einer Wolke aus Kampfer und Eukalyptus umgeben und ihren Sohn im Arm. Die Nacht verbrachte Mohan Sandeep friedlich im Bett zwischen seinen Eltern. Sameera sang ihm So Ja Chanda vor und Vikram lauschte auf die dunkle, warme Stimme, die ihn zu einem verzauberten Abend im letzten Sommer zurücktrug, als seine Frau, Sita und die kleine Rani das Wiegenlied zum ersten Mal für seinen Sohn angestimmt hatten. Irgendwann schlief er ein, während Mohans kleine Faust unbeirrt seinen Daumen festhielt.

***

»Karim – wären Sie so freundlich und würden mich hier aussteigen lassen?«

Najihas Fahrer bremste, drehte sich zu dem Passagier um, der im Fond saß, und runzelte die Stirn. »Ich habe Anweisung von der Kamaal sahiba, Sie direkt vor der Haustür abzusetzen.«

Prem Ghanand lächelte geduldig. »Das glaub ich Ihnen gerne. Aber man kann das Haus doch von hier aus schon sehen, und ich bin sicher, ich gehe auf den letzten paar Metern nicht verloren. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie bleiben mit Ihrem Wagen so lange stehen, bis ich angekommen bin, und dann fahren Sie zurück. Einverstanden?«

Karim zögerte, dann nickte er. »Einverstanden. Warten Sie, Ghanand sahab – ich hole Ihre Tasche aus dem Kofferraum.«

Prem stutzte, dann lächelte er erneut. »Sahab hat mich fast vier Jahre lang nur mein Anwalt genannt. Schönes Gefühl, muss ich sagen. Danke, Karim.«

»Keine Ursache.« Karim stieg aus dem Wagen und holte die Reisetasche, die eine komplett neue Grundausstattung an Kleidern enthielt. Seit seiner Verurteilung hatte Prem Ghanand ausschließlich die Gefängnisuniform getragen; seine eigenen Sachen hatte Dr. Lakshmi Shetty, die Leiterin der Klinik in Srinagar und seine damalige Arbeitgeberin, nach seinem Haftantritt in dem möblierten Appartement, das er damals bewohnt hatte, zusammenpacken lassen und an seine Mutter Sridevi Ghanand in Delhi geschickt.

Jetzt, vier Jahre später, war das kleine Appartement ebenso außer Reichweite wie die meisten seiner persönlichen Besitztümer, und seine Mutter hatte ihm wenige Tage vor seiner Entlassung einen Umschlag zukommen lassen, der einen üppigen Scheck und einen knapp formulierten Brief enthielt: Sridevi Ghanand erwartete, dass er sich von dem Geld neu einkleidete und dann ohne Umwege nach Hause kam; am Sheikh-ul-Alam-Flughafen lag ein Ticket für ihn bereit. Ich wünsche, dass du den Staub dieser verfluchten Provinz von den Füßen schüttelst und zu deiner Familie zurückkehrst, hatte sie geschrieben. Sobald du wieder da bist, wo du hingehörst, werden wir diese schreckliche Episode vergessen, und ich werde dir alle Türen in eine verheißungsvolle Zukunft öffnen.

Immerhin war ihm die drohende Begegnung mit der Presse erspart geblieben. Wie immer Najiha Kamaal das auch angestellt, wen sie geschmiert oder auf wen sie sanft Druck ausgeübt hatte – heute Morgen jedenfalls hatte auf dem kleinen Vorhof, der das Gefängnisgebäude von dem großen Tor trennte, ein Wagen mit abgedunkelten Scheiben auf ihn gewartet, während er sich von dem Gefängnisdirektor und einigen der Wärter verabschiedete, die extra erschienen waren, um ihm das Geleit zu geben. Die Insassen, die er psychologisch betreut hatte, wollte er auch weiterhin regelmäßig besuchen – einer der vielen Gründe, wieso eine Rückkehr nach Delhi für ihn absolut nicht in Frage kam.

Auf dem Rücksitz des Wagens lag zu seiner Überraschung eine dick gesteppte Daunenjacke, und aus einer der Taschen lugte ein kleiner Umschlag. Als Prem ihn zögernd öffnete, fand er einen handgeschriebenen Zettel: Die Jacke haben wir dir besorgt, damit du in deinem ersten Winter in Freiheit nicht gleich mit den Zähnen klapperst. Im Kofferraum findest du eine Reisetasche mit dem Nötigsten, was du erst einmal brauchst. Wir freuen uns auf dich! Sameera. Das war der zweite Brief, den er innerhalb von zwei Tagen erhielt; dieser allerdings erfüllte ihn mit Erleichterung und großer Wärme. Der Fahrer hatte ihn höflich begrüßt, das Tor war geöffnet worden und sie waren hindurchgefahren, begleitet von einem Blitzlichtgewitter und einem Rudel Reporter, die vor dem Wagen zur Seite auswichen und deren Fragen nutzlos an den dunklen Scheiben abprallten. –––

Er nahm Karim die Tasche ab, verabschiedete sich und ging langsam den dick verschneiten Weg entlang, der geradewegs zum Dar-as-Salam führte. Das Schindeldach des alten, langgestreckten Holzhauses trug eine glitzernd weiße Haube, über der sich ein unfassbar weiter Himmel wölbte. Die Luft war kalt und frisch; er lauschte auf das Knirschen seiner Schritte und genoss jeden einzelnen Atemzug. Die Landschaft, die ihn umgab, war überwältigend. Im Gefängnis hatte sich seine Welt auf die Zelle, das Besuchszimmer und später – als er anfing, seine Mithäftlinge zu beraten – die kleinen Gesprächsräume beschränkt. Selbst die Luft beim täglichen Hofgang war ihm noch stickig vorgekommen. Dass er jetzt plötzlich wieder so viel Raum um sich hatte, machte ihm beinahe Angst.

Das Haus kam immer näher; er konnte den Rauch sehen, der aus zwei Schornsteinen aufstieg. Drinnen war es sicher warm und behaglich – ein Zuhause. Während er darauf zuging, wurde ihm jäh klar, dass dies das erste Mal sein würde, dass er Vikram Sandeeps Waisenheim betrat; vor seiner Verurteilung und Haft hatte er es nie von innen gesehen.

Damals vor fünf Jahren hatte er die Vorstellung merkwürdig gefunden, dass Sameera so viel Zeit mit dem alten Ex-Agenten und seinen Kindern verbrachte. Er hatte begriffen, dass ihr Herz dem Mann und seinen Schützlingen zuflog, und er hatte sein Bestes getan, ihre Gefühle zu tolerieren. Doch dann war Ahmad Al Yussuf gekommen und hatte aus kaltem Kalkül und mit voller Absicht das Tor zu seiner persönlichen Hölle geöffnet, um ihn mit seinen Erinnerungen und lang verdrängten Ängsten zu manipulieren. Auf diese Weise hatte er Prem bei der Entführung von Sameera zum willigen Komplizen gemacht.

An diese Zeit wollte Prem nicht mehr denken… jedenfalls nicht jetzt. Es war eine seiner nützlichsten Strategien geworden, sich bevorzugt alles ins Gedächtnis zu rufen, was in den letzten vier Jahren positiv gewesen war und ihn weitergebracht hatte. Die Beratungstätigkeit für seine Mitgefangenen hatte ihm sehr geholfen, die Briefe von Raja Sharma, die seit dessen erstem Besuch im vergangenen Frühjahr mit verlässlicher Regelmäßigkeit bei ihm eintrafen, auch.

Dass Sameera, die den stärksten Grund hatte, ihn zu hassen und zu verurteilen, ihm erneut ihre Freundschaft schenkte, war für ihn nach wie vor ein Wunder. Dass ihr Mann den tödlichen Zorn, den er ihm gegenüber empfunden hatte, aufgegeben und ihm die Hand zur Versöhnung gereicht hatte, erfüllte ihn mit beinahe noch größerem Staunen. Beide boten ihm nun die Möglichkeit zu einem Neuanfang… genau wie den Kindern, denen sie gemeinsam in dem alten Haus, vor dem Prem jetzt stehenblieb, eine Heimat gaben und eine Zukunft ermöglichten.

Drei Stufen führten hinauf zu einer Veranda, die sich die gesamte Front des Hauses entlangzog – genau wie der Balkon im oberen Stockwerk, den in regelmäßigen Abständen reich geschnitzte Säulen stützten. Bevor er sich entschließen konnte, diese Stufen hinaufzusteigen und sich bemerkbar zu machen, wurde die Tür geöffnet und ein kleines Mädchen kam heraus. Sie trug eine dicke Mütze in fröhlichem Himbeerrot, eine blaue Brille, einen voluminösen Anorak, der ihr ein bisschen zu groß war, und Fäustlinge. Prem spürte, wie seine nervöse Anspannung unvermittelt nachließ.

»Hallo«, sagte er. »Wer bist denn du?«

Die Kleine spähte durch ihre Brille.

»Ich bin die Salma«, sagte sie. »Und wer bist du?«

»Ich heiße Prem«, antwortete er. »Wohnst du hier?«

»Ja, zusammen mit meinem Bruder«, erwiderte Salma. »Aber noch nicht so lange. Und vielleicht müssen wir auch noch mal woandershin umziehen, sagt Sameera aunty. Das fände ich aber nicht so gut.«

»Wirklich nicht?« Prem stellte die Reisetasche ab und ließ sich auf der obersten Treppenstufe nieder (die ein vorausschauender Mitmensch zum Glück sorgsam von Schnee freigefegt hatte). Salma fand das offenbar nicht im mindesten absonderlich und setzte sich neben ihn. »Wieso denn das?«

»Weil es hier schön ist«, sagte Salma ernst. »Die Kinder sind nett, keiner ärgert mich oder spielt mir Streiche. Nicht mal Yussuf… und dabei sagen alle, das macht er eigentlich dauernd

»So ein Tunichtgut ist das?« Prem schmunzelte. »Ich bin sehr gespannt darauf, ihn kennenzulernen.«

»Bist du zu Besuch?«, wollte Salma wissen. »Bist du ein Freund von Sameera aunty und Vikram baba?«

»Kann man so sagen.« Prem atmete tief durch, hob den Kopf und sah, wie der Wagen mit Karim sich an der Abbiegung von der Hauptstraße wieder in Bewegung setzte. Salma folgte seinem Blick.

»War das dein Taxi?«

»So was Ähnliches. Das war der Fahrer einer sehr hilfsbereiten Dame; sie heißt Najiha Kamaal und hat ihm gesagt, er soll mich herbringen.«

Das kleine Mädchen schwieg eine ganze Weile. Dann langte es in die Anoraktasche und zog ein Bonbon heraus. »Magst du das haben?«

»Oh – gerne, danke schön!« Prem wickelte das Bonbon feierlich aus und steckte es in den Mund. »Ich hab aber gar nichts für dich.«

»Macht nichts.«

Salma schaute immer noch in die Richtung, in die der Wagen davongefahren war.

»Meine ammi hat für die Kamaal sahiba gearbeitet«, sagte sie plötzlich. »Sie hat immer gesagt, sie rechnet ihr Geld zusammen.«

Prem wollte schon antworten, als ihm plötzlich siedend heiß die Nachrichtensendung wieder einfiel, die Ende Dezember selbst im Zentralgefängnis von Srinagar für Aufregung gesorgt hatte. Die Explosion und der darauffolgende Großbrand, der die Zentrale von Najiha Kamaals Gulmohar-Partei fast völlig zerstört hatte. Die verbrannte Frauenleiche in einem der verwüsteten Räume, die nicht, wie zunächst angenommen, Najiha Kamaal gewesen war, sondern deren Buchhalterin. Die zwei verwaiste Kinder hinterließ, einen Jungen und ein Mädchen, zwölf und elf Jahre alt.

Es dauerte einen langen Moment, bis er wusste, was er sagen wollte. Und dann sprach er leise und behutsam.

»Wo ist deine ammi jetzt?«

»Weg.« Das kleine Mädchen sah ihn nicht an. »Da, wo sie gearbeitet hat, gab es ein schlimmes Feuer. Und sie… sie kam nicht rechtzeitig raus, weißt du.«

»Ich verstehe. Du musst sehr traurig sein.«

»Ich… weiß nicht. Ich will eigentlich bloß, dass sie wieder da ist. Dass dieser Tag mit dem Feuer nie passiert wäre. Das ist einfach gemein. Jetzt kann ich nicht mehr mit ihr reden, und sie singt mir nichts mehr vor.«

Salma sprach in heftigem Ton, und die Worte kamen immer schneller, als sei plötzlich ein Damm gebrochen.

»Und wenn Sinan wieder seinen Schal vergisst, dann muss jetzt ich aufpassen und ihn holen. Das hat sonst immer ammi gemacht. An dem Tag, wo es… wo es gebrannt hat, da sind wir morgens zum Spielen gegangen, und sie ist uns extra noch nachgelaufen mit seinem Schal. Bevor sie in das Haus gegangen ist, wo sie gearbeitet hat. Und danach ist sie in dem Feuer gestorben und ich hab sie nicht mehr wiedergesehen, und deswegen sind wir jetzt hier.« Sie schluckte. »Sinan nimmt den Schal jeden Abend mit ins Bett, weil ammi ihn gestrickt hat.«

Prem musterte sie aus den Augenwinkeln und stellte fest, dass ein paar Tränen unter der blauen Brille hervorkullerten und über die runden Wangen hinabliefen. Er suchte in der Jacke nach einem Taschentuch, wurde aber nicht fündig. Also wickelte er das Halstuch aus Baumwolle ab, das er sich beim Verlassen des Gefängnisgebäudes umgebunden hatte, und reichte es ihr. Salma nahm es, trocknete sich damit das Gesicht und putzte sich die Nase.

»Danke schön.«

Sie wollte ihm das Tuch zurückgeben, aber er schüttelte den Kopf. »Behalt es. Vielleicht brauchst du es noch mal.«

Sie schniefte. »Aber dann hast du doch keins mehr.«

»Das macht nichts«, sagte er sanft. »Ich kauf mir ein neues, okay?«

»Okay.«

Er stand auf und hielt ihr die Hand hin. »Was meinst du – sollen wir hineingehen? Sameera aunty und Vikram baba fangen sicher gleich an, nach dir zu suchen. Und sie werden sich auch allmählich fragen, wo ich bleibe.«

Salma griff ohne zu zögern nach seiner Hand, und genau in diesem Moment öffnete sich die blaue Tür hinter ihnen. Prem drehte sich um und sah Sameera auf der Schwelle stehen. Ihre Augen leuchteten.

»Namaste, Prem! Kommt rein, ihr zwei; hier draußen wird es immer kälter, und wir haben gerade erst eine große Grippeepidemie glücklich überstanden. Lauf, Herzchen, und schau mal nach, ob Zobeida den Chai schon fertig hat, ja?«

Salma warf Prem ein scheues Lächeln zu. Sie ging rasch hinein, rannte einen langen Gang hinunter und war gleich darauf hinter einer Tür verschwunden. Er spürte, wie sich erneut eine Hand um die seine schloss… diesmal die von Sameera.

»Du hast nichts verlernt«, sagte sie weich. »Das hast du großartig gemacht, mera dost

»Was denn?«

»Salma ist jetzt seit mehr als drei Wochen hier. Bislang hat sie sich strikt geweigert, über ihre Mutter zu reden; sie hat sie lediglich ab und zu erwähnt. Erst jetzt hat sie den Mut gefunden, etwas von ihrem Schmerz auszudrücken. Und zwar bei dir, hier auf der Veranda.«

»Ich hab ihr bloß zugehört.«

»Und die richtigen Fragen gestellt. Das konntest du schon immer.« Sameera zögerte einen Moment, ehe sie fortfuhr. »Weißt du, ich hab dich vorhin da hinten an der Hauptstraße aus Najihas Auto steigen sehen. Ich wollte dir entgegengehen, aber dann hab ich gemerkt, wie Salma ihren Anorak und ihre Stiefel angezogen hat. Und da dachte ich, ich warte einfach mal und schau mir an, was passiert. Also bin ich hinter dem kleinen Fenster da stehengeblieben und hab euch beobachtet und belauscht. Entschuldige bitte – ich weiß, das gehört sich nicht.«

»Schon gut.« Prem zog eine humorvolle Grimasse. »Das hast du doch damals auch schon getan, nach dem Desaster mit Khan sahab. Bloß, dass du da den offiziellen Auftrag hattest, mich zu beobachten.«

»Und ich fand es furchtbar.« Sameera seufzte. »Ich würde sagen, jetzt kommst du erst einmal herein und isst etwas.«

Sie trat dicht an ihn heran und nahm seine Hand.

»Ich bin sehr froh, dass du hier bist. Willkommen im Dar-as-Salam.«

Und damit zog sie ihn ins Haus und schloss die Tür.

***

Acht Tage später saß Prem mit Vikram und Sameera in der Küche zusammen. Zobeida war vor einer knappen Stunde nach Hause gegangen und hatte eine Schüssel voll frischgebackener, würziger Knabbereien zurückgelassen, die die drei sich jetzt in aller Ruhe zu Gemüte führten. Vikram hatte angesichts der unverhofften Köstlichkeiten eine Flasche Rotwein aus dem Keller beigesteuert, und er lächelte über den seligen Gesichtsausdruck von Sameera. Sie hatte Mohan endgültig abgestillt und sich diesen Abend ausgesucht, um zum ersten Mal seit ihrer Schwangerschaft wieder etwas zu trinken, das stärker war als Lassi oder Obstsaft, und sie zelebrierte jeden Schluck wie ein Fest.

Obendrein gab es auch tatsächlich etwas zu feiern. Gestern hatte Vikram ein offizielles Schreiben von der Staatsanwaltschaft erhalten, in dem man ihm mitteilte, dass die Ermittlungen gegen ihn eingestellt worden waren; man verdächtigte ihn nicht länger, für den gewaltsamen Tod des ehemaligen Polizeichefs Avan Gupta verantwortlich zu sein. Das bedeutete: Er bekam seinen Pass wieder, und die quälende Zeit der Ungewissheit, in der er sich regelmäßig bei der Polizei melden und dabei permanent befürchten musste, dass man seine Kaution widerrief und ihn wieder in Untersuchungshaft steckte, war vorüber. Sie hatten ihn endgültig vom Haken gelassen.

Vikram verzog das Gesicht zu einem schrägen Grinsen. Vermutlich schäumte Narendra Nikam, der schamlos korrupte Nachfolger Guptas, jetzt ebenso vor Wut wie damals, als Vikram dank der wagemutigen Aussagen von Raja, Surya, Resul und Vishal auf Kaution freigelassen worden war. Schließlich war es auch Nikam gewesen, der ihn im letzten Sommer unter Mordverdacht hatte verhaften lassen, ohne sich darum zu scheren, dass es gar keine echten Beweise gegen ihn gab.

Der Gedanke an die traumatische Zeit, als er in Srinagar in einer Einzelzelle gesessen und nicht gewusst hatte, ob er die Menschen, die er liebte, je wiedersehen würde, sorgte dafür, dass Vikram unwillkürlich die Zähne zusammenbiss. Er nahm einen kräftigen Zug aus seinem Glas und schluckte die Erinnerung entschlossen mitsamt dem Rotwein hinunter.

»Wie geht’s mit der Stellensuche vorwärts?«, fragte er Prem und zündete eine Kerze in dem Leuchter an, der auf dem Tisch stand.

»Hundsmiserabel«, erwiderte Prem unverblümt. »Meine ausgezeichneten Zeugnisse und Empfehlungen nützen mir überhaupt nichts. Sobald die Verwaltungschefs mitkriegen, wo ich die letzten vier Jahre verbracht habe, gefriert ihnen das erfreute Lächeln auf dem Gesicht und die freie Stelle ist ganz plötzlich nicht mehr frei.«

»Das war zu erwarten.« Vikram goss Prem etwas Wein nach. »Du wusstest, dass es schwierig wird, oder?«

»Ja, das wusste ich.« Prem seufzte und nippte an seinem Glas. »Allerdings nicht so schwierig.«

»Und wenn du dich selbstständig machst?« Sameera schaute ihn an; ihre Augen glänzten im Kerzenschein aufmerksam. »Wenn du eine eigene Beratungspraxis eröffnest?«

»So groß sind meine Rücklagen nun auch nicht.« Prem senkte frustriert den Kopf. »Ich müsste Räume anmieten und einrichten, ich müsste Werbung machen. Ich hätte einiges an laufenden Kosten… und Ersparnisse hab ich so gut wie keine.«

»Jedenfalls nicht, solange deine Mutter ihre Schatztruhen sorgsam verschlossen hält«, meinte Vikram sarkastisch. »Was sie zweifellos auch weiterhin tun wird, solange du nicht nach ihrer Pfeife tanzt.«

»Wenn ich mich entscheiden würde, nach ihrer Pfeife zu tanzen, dann müsste ich das Tal verlassen und nach Delhi fliegen.« Prem sprach mit stillem Zorn. »Geradewegs hinein in das altvertraute Spinnennetz. Dorthin, wo meine Mutter jeden meiner Schritte kontrolliert, weil sie ihre Leute hat, die mich beobachten. Dorthin, wo ich nur das tun kann und tun darf, was sie zulässt. Als ich damals nach Kashmir gekommen bin, war es nicht deswegen, weil ich dachte, es würde sich irgendwann gut in meinen Bewerbungsunterlagen machen.« Er warf Sameera einen kurzen Blick zu. »Das hast du damals zu mir gesagt, und ich hab es nie vergessen. Ich wollte etwas Nützliches tun, und das so weit entfernt von meiner Mutter wie irgend möglich. Sie manipuliert und vergiftet jeden in ihrer Umgebung. Aber ich habe mir geschworen, dass ich nie wieder unter ihrem Einfluss stehen will.«

»Vielleicht kann ich dir helfen.« Sameera hielt Vikram auffordernd ihr leeres Glas hin. »Es wird sicher nicht schwierig sein, in Baramulla Räumlichkeiten zu finden, die sich nutzen lassen – vielleicht treibe ich sogar ein Haus auf, das ich kaufen kann. Es muss ja nicht groß sein. Ich würde es dir überlassen und dir erst mal keine Miete abknöpfen. Sobald du auf eigenen Füßen stehst, zahlst du… gerade so viel, dass dir noch genügend zum Leben bleibt. Was hältst du davon?«

Prem starrte sie an. »Das… das kann ich nicht annehmen.«

»Natürlich kannst du«, versetzte Vikram. »Es ist ja nicht so, dass wir dich damit auf Rosen betten, Mann. Aber es wäre ein Anfang. Kashmir hat gute Therapeuten so nötig wie die Wüste den Regen, und du bekommst auf diese Weise die reelle Chance, noch einmal neu Fuß zu fassen.«

Er schenkte Sameera nach und musste plötzlich grinsen.

»Du solltest das Angebot lieber akzeptieren, solange es gilt. Wein macht meine Liebste übermütig. Wenn sie nüchtern ist, überlegt sie sich die Sache vielleicht noch einmal.«

»Also bitte – das ist erst mein zweites Glas, und ganz voll ist es auch nicht!«

Sameera funkelte ihn an, nahm eine mit Sesam bestreute Gebäckstange aus der Schüssel und zielte damit auf seine Nase. Vikram fing die Stange auf, bevor sie ihn traf, und steckte sie sich in den Mund.

»Aber du bist nichts mehr gewohnt, meri jaan«, versetzte er gelassen und hielt ihre Hand fest, als sie erneut in die Schüssel langen wollte. »Wenn ich dir noch mehr Wein gebe, muss ich dich nachher nach oben tragen. Nicht dass es mir etwas ausmachen würde.« Er zwinkerte Prem gut gelaunt zu.

Prem lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Vikram konnte buchstäblich sehen, wie die Gedanken sich hinter seiner Stirn überschlugen und sein Gesichtsausdruck sich langsam veränderte – von Zweifel und Verlegenheit zu einer großen, fast ungläubigen Erleichterung.

»Also gut, ich mach’s«, sagte er. »Aber die ersten Mieten zahle ich nach, sobald ich etwas mehr Geld verdiene.«

»Falls du denn jemals mehr verdienst als das Allernötigste«, versetzte Vikram. »Reichtümer wirst du hier vermutlich niemals ansammeln. Viele deiner potenziellen Patienten können sich wahrscheinlich gar kein Honorar leisten.«

Prem lächelte grimmig.

»Nun… wie ich meine Mutter kenne, wird sie mich, wenn sie von diesem Plan erfährt, höchstwahrscheinlich enterben. Versteh mich richtig: Ich bin nicht scharf auf ihre Reichtümer. Von mir aus soll sie daran ersticken. Aber ich hätte gern wenigstens einen Bruchteil davon, damit ich euch das Geld für Praxisräume oder ein Haus eines Tages zurückzahlen kann.« Er schnaubte leise in sich hinein. »Dieses Haus für mich müsst ihr natürlich erst einmal finden.«

»Dieses Haus für dich werde ich finden«, sagte Sameera entschlossen. Sie nahm einen kräftigen Schluck. »Worauf du dich verlassen kannst.«

»Prem uncle

Die leise Stimme kam von der Tür her, und die drei wandten sich um. Vor ihnen stand Salma, im Schlafanzug und barfuß. Sie hielt etwas gegen die Brust gedrückt.

»Was machst du denn hier, Kleines?«, fragte Vikram. »Du solltest längst schlafen… und ohne Hausschuhe bist du auch noch unterwegs. Willst du etwa genauso schlimm husten wie Sinan?«

»Ich geh gleich wieder ins Bett«, versicherte Salma. »Aber ich hab was gemacht, für Prem uncle. Ich dachte, ich werd schneller fertig, aber das mit dem Maschenabketteln hab ich erst heute Abend richtig hingekriegt, und dann musste ich noch alle Fäden vernähen.«

Sie streckte die Hände aus, und jetzt war zu erkennen, was sie bei sich trug. Es war ein Schal, aus dicker Wolle gestrickt, in einem fröhlichen Ringelmuster aus Rot-, Braun- und Currytönen. Er hatte weiche Fransen und war lang genug, um ihn sich wenigstens zweimal um den Hals zu wickeln.

»Ich wollte nicht, dass du frierst, Prem uncle«, sagte Salma. »Wo du mir doch dein Halstuch gegeben hast. Und ein neues hast du dir noch nicht gekauft, oder?«

»Nein«, erwiderte Prem leise. Seine Stimme klang ein wenig erstickt. »Nein, das habe ich noch nicht.«

»Ich wusste doch, dass du einen Schal brauchst!«, stellte Salma triumphierend fest. »Bei den Fransen hat mir Zooni geholfen, die kann ich noch nicht so gut. Aber die Maschen sind schön regelmäßig – genauso, wie meine ammi mir das beigebracht hat. Gefällt er dir?«

Prem lächelte. »Aber natürlich gefällt er mir«, antwortete er liebevoll. »Er ist wunderschön, Salma. Ich freu mich sehr, und ich danke dir.«

Salma kam auf ihn zu, und im nächsten Moment war sie ihm auf den Schoß geklettert, hatte ihm den Schal umgelegt und ihm einen Kuss auf die Wange gedrückt. Seine Arme schlossen sich reflexartig um die Kleine, und sie schmiegte sich für einen Moment an ihn, bevor sie den Rückzug antrat.

An der Tür blieb sie stehen. »Gute Nacht«, sagte sie. »Schlaft gut!«

Und damit war sie verschwunden. Prem rührte sich nicht und schien seine Sprache nicht wiederzufinden; Vikram sah, dass er Tränen in den Augen hatte.

»Siehst du?« Sameeras Stimme war sanft. »Ich wusste, wir tun das Richtige, wenn wir dir dabei helfen, hierzubleiben. Kashmir braucht dich, und es will dich haben. Eindeutiger geht es ja wohl nicht mehr.«

Sie warf einen prüfenden Blick auf die Flasche.

»Das sollten wir unbedingt begießen. Kann ich noch ein drittes Glas Wein haben, bitte?«

Ein Lied in der Nacht

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