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Siebtes Kapitel

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Es beginnt mit einem gewaltigen Druck auf Luises Ohren. Schützend hebt sie ihre Hände zum Kopf, doch gegen das Pfeifen und Rauschen hilft das kaum. Schneider steht mit hochrotem Kopf in der Tür ihrer Kammer. Was er sagt, dringt wie aus weiter Ferne zu ihr vor.

„Schnapp dir deine Sachen! Und zwar ein bisschen plötzlich!“, schnauzt er Elisa an, „ich sag’s dir nicht zweimal.“

Luises Knie zittern. Wie durch einen Nebel nimmt sie wahr, dass Elisa leichenblass wird, aber kein Wort erwidert. Die Freundin, die sonst immer so fröhlich und lebhaft ist, beginnt still ihr Bündel zu packen.

Elisa muss fort.

Unentwegt kreisen dieselben drei Wörter durch ihren Kopf.

Anna und Tesi hocken im hintersten Winkel auf ihrem Schlaflager und klammern sich stumm aneinander.

„Nicht ohne mich“, hört Luise sich sagen, doch es klingt hohl, „wenn Elisa fort muss, gehe ich mit.“

„Soso!“, für einen Moment scheint Schneider überrascht, starrt Luise verärgert an, „was soll das denn werden? Du weißt schon, dass ich dein Vormund bin, als Stellvertreter für meinen Oheim Balthasar? Und dass du mir zu gehorchen hast?“

Es wird still in der kleinen Kammer.

„Der Vater würde es bestimmt erlauben“, gibt sie mit zitternder Stimme zurück, „in der Gaststube haben sie gesagt, dass wir Deutschen als Dienstmädchen in New York gern genommen werden. Ich bezahle natürlich alles zurück, was Ihr für mich ausgelegt habt.“ In der Schule hat sie zwar gelernt, dass man eine Respektsperson mit „Sie“ ansprechen soll und nicht mit dem volkstümlichen „Ihr“. Aber sie kann sich einfach nicht daran gewöhnen.

Wütend holt Schneider bereits zum Schlag aus, doch schon schiebt sich Elisa zwischen die beiden.

„Lass gut sein Luise“, wendet sie sich an die Freundin, „ist lieb von dir, aber keine gute Idee. Dort wo ich hinkomme, können sie dich nicht brauchen.“

Ihr Dienstherr lässt seine Faust sinken. Luise treten Tränen in die Augen.

„In Amerika ist Krieg“, teilt Schneider jetzt mit rauer Stimme mit. Als würde das alles erklären. Als hätten sie diesen Satz in den letzten Tagen nicht ständig gehört: Am kargen Frühstück in der Herberge ist angeblich der Krieg schuld, und daran, dass sie noch immer keine neuen Kleider haben, auch.

Schon als sie aus Castle Garden heraustraten, hat Luise die Uniformierten gesehen. Erst glaubte sie noch, dass die Musikkapelle auf der geschmückten Bühne einen Marsch zur Begrüßung aller Neuankömmlinge schmetterte. Doch dann verstand sie, dass die Reden, die dort zum Teil auf Deutsch gehalten wurden, einzig dem Zweck dienten, junge Einwanderer für die Armee anzuwerben.

„Tausende ziehen in diesen Tagen in die Schlacht gegen die Südstaaten. Da wird jedes Mädchen gebraucht. Hier in New York und draußen in den Garnisonen“, erklärt Schneider geschwollen. Elisa steht starr neben ihm und presst ihr Bündel vor die Brust.

„Worauf wartest du noch?“, fährt Schneider sie an, „sag deinen Kameradinnen Lebewohl. Aber bitte erspar mir eine große Flennerei. Wenn ich den Kutscher warten lasse, kostet das extra.“

Wenig später packt er das Mädchen am Arm und zerrt es zur Tür. Auf der Schwelle wendet Elisa sich ein letztes Mal um: „Leb wohl, Luise. Und gib auf dich Acht“, sagt sie traurig, „für dich ist es noch nicht zu spät.“

„Schluss mit dem Theater!“ Schon poltert Schneider mit ihr die Stiege hinab.

Vor dem Haus wartet Margarethe in einer Droschke auf ihren Mann und das Mädchen. Grimmig und triumphierend hält sie ihr Kinn nach vorne gereckt.

Wochenlang sitzen sie danach in ihrer schäbigen Herberge in New York fest. Schneider hat Anna, Luise und Tesi streng verboten, allein vor die Tür zu gehen. Für Mädchen in ihrem Alter sei die Straße viel zu gefährlich.

Luise würde das Haus sowieso nicht verlassen. Seit Elisa weg ist, liegt sie oft den ganzen Tag auf ihrem Lager. Nicht einmal die quälende Langeweile und das Schweigen unter den Mädchen stören sie noch. Nur nachts, wenn es dunkel ist und alle schlafen, flüstert sie leise ihr Gebet und wagt zu weinen.

Sie kann einfach nicht vergessen, was Elisa zuletzt gesagt hat: Dass sie Luise dort, wo sie hingeht, nicht brauchen kann. Und noch weniger kann sie es verstehen.

Nie zuvor hatte sie eine Freundin. Eine, mit der sie über alles reden konnte. Keine kleine Schwester, die sich in ihren Arm kuschelt wie ein junges Tier, sondern eine richtige Freundin.

Und jetzt ist sie einfach weg. Es schien ihr noch nicht einmal etwas auszumachen, sich von Luise zu trennen.

Jeden Vormittag macht Schneider sich auf den Weg zum Hafen, um gegen Mittag mit finsterem Gesicht und unverrichteter Dinge zurückzukehren.

„Dafür habe ich die teure Überfahrt nicht bezahlt“, schimpft er in der Gaststube und blickt finster in die Runde, „jeder Tag, an dem ihr hier unnütz herumsitzt, kostet mich eine Stange Geld!“

Viele Leute klagen darüber: Die Reise von New York nach Kalifornien ist schon immer ein aufwändiges und gefährliches Unternehmen gewesen. Aber in diesem Sommer 1863 ist es fast unmöglich, zur Westküste zu gelangen. Mit dem Planwagen quer durch den Kontinent zu kutschieren, wagt niemand mehr, seit sich die Armeen der amerikanischen Union und der Südstaaten an ständig wechselnden Fronten gegenüberstehen. Und die meisten Dampfschiffe, die noch vor Kurzem eine Passage auf dem Seeweg anboten, sind jetzt an die Marine verkauft oder verpachtet.

Annas Bauch schwillt währenddessen unübersehbar an. Schneider bekommt einen Tobsuchtsanfall, als er endlich bemerkt, was mit dem Mädchen los ist. „Dafür, dass du einen Balg mit dir herumschleppst, habe ich dich nicht gemietet!“, brüllt er, „das wird mir dein Vater büßen müssen, wenn ich wieder in Langenhain bin!“

„Er weiß es nicht. Er hätte mich weggejagt“, erwidert das Mädchen beschämt.

„Zurückverlangen werde ich mein Geld, bis auf den letzten Kreuzer!“, wütet Schneider weiter, „der kann sich auf etwas gefasst machen!“

Nach einem langen, brütenden Schweigen fragt er grimmig: „Und? Wann ist das gnädige Fräulein so weit?“

„In zwei Monaten oder drei.“ Anna wirkt zum ersten Mal niedergeschlagen.

„Dann wird‘s ja Zeit, dass wir hier wegkommen! Ich hoffe, das Gör krepiert schnell nach der Geburt. Kinder sind schlecht für unser Geschäft.“

„Georg, versündige dich nicht!“ Erschrocken greift Margarethe nach seinem Arm.

„Ist doch wahr“, knurrt er gereizt, „soll ich den Bastard auch noch durchfüttern? Wo wir unsere eigenen zwei in der Heimat lassen mussten?“

Niemand fragt, wer der Vater von Annas Kind ist, aber alle ahnen, dass sich der Landgänger Christoph Reuter an ihr vergangen hat. Ein verheirateter Mann, der mindestens doppelt so alt ist wie sie, und jetzt nichts mehr von ihr wissen will.

Mitte Juni klappt es schließlich doch.

Schneider ergattert eine Passage für fünf Personen auf einem ausgemusterten Frachtsegler, der sie nach Aspinwall bringen wird. Die Reederei hat ihm auch gleich Fahrkarten für die Panama Railroad verkauft, mit der man von dort aus den Dschungel durchquert. An der Pazifikküste müssen sie dann ein weiteres Schiff nach Kalifornien nehmen.

„Hat mich eine Stange Geld gekostet“, knurrt Schneider, „wird Zeit, dass ihr mir etwas einbringt.“

Es ist alles genauso wie auf der City of New York: die fürchterliche Enge im Zwischendeck, das ewige Rütteln und Schaukeln, das Geschrei der Kinder und das Stöhnen der Kranken, der Gestank und das eklige Essen. Zwei Wochen liegt Luise fast immer in ihrer Koje und fühlt sich kraftlos und leer.

Erst in Aspinwall erwachen ihre Lebensgeister wieder. Die Eisenbahn wartet dort schon auf sie. Die Panama Railroad führt ausschließlich Personenwagen der ersten und zweiten Klasse, und so nehmen sie auf fein polierten, lederbezogenen Holzbänken Platz. Aufgeregt presst Luise ihr Gesicht an das Fenster, dessen obere Hälfte wegen der Hitze ständig geöffnet bleibt.

Vier Stunden lang stampft die Bahn durch den tropischen Urwald. Das Dickicht links und rechts der Schienen wirkt manchmal so undurchdringlich wie eine Mauer. Palmen, riesige Farne, bärtige Äste und Büsche mit fleischigen Blättern gleiten vorbei. Manchmal sind die üppig wuchernden Bäume und Sträucher mit Blüten und Früchten in grellen Farben zum Greifen nah. Ab und zu wischt ein Ast sogar in ihr Abteil.

Einmal fahren sie über eine Lichtung, auf der Eingeborene siedeln. Die Hütten stehen auf hohen Stelzen. Federvieh pickt darunter herum, Schweine und Ziegen liegen träge im Schatten. Mitten im Urwald kommt der Zug schnaufend zum Stehen. Halbnackte, rotbraune Menschen drängen sich vor den Fenstern, verkaufen Bananenbrot, Kokosmilch und andere Speisen. Ganz in der Nähe brüllen wilde Tiere im Dschungel.

Später breiten sich links und rechts der Bahnstrecke Sümpfe aus. „Wenn ihr die Augen aufsperrt, könnt ihr vielleicht Krokodile sehen“, erklärt Margarethe den Mädchen. Tausende Arbeiter seien beim Bau der Eisenbahnstrecke zu Tode gekommen, die meisten durch Malaria, Gelbfieber oder Cholera.

Von Panama City sieht Luise nur die Straße, die vom Bahnhof zum Hafen hinab führt. Zweigeschossige Holzhäuser reihen sich daran auf. Menschen mit ganz verschiedenen Hautfarben bestürmen die Reisenden, bieten Essen, Getränke und sogar lebende Waschbären, Affen oder Papageien zum Kauf feil.

Ein Fremdenführer bringt sie zu einer Wartehalle am Wasser. Es ist unerträglich heiß. Luise hat Durst, aber Margarethe hat streng verboten, etwas von dem Wasser zu trinken, das fliegende Händler anbieten. Insekten umschwirren ihr Gesicht.

Erschöpft lässt sie ihren Kopf hängen. Drei Monate sind sie jetzt unterwegs. Noch zwölf Mal so lang, denkt sie, dann kann sie endlich wieder nach Hause.

Auf dem Dampfsegler St. Louis geht es schließlich weiter nach San Francisco. Anna ist inzwischen dick wie eine Tonne. Tesi sitzt fast immer neben ihr, hält ihre Hand und starrt sie angsterfüllt an. Margarethe wendet sich nur noch mit kurzen Befehlen an ihren Gatten. An Bord gibt es zwar nicht viel für Schneider zu tun. Umso mehr kann sie ihm verbieten: Das Trinken, das Kartenspielen, das Lachen und Singen mit anderen Reisenden soll er gefälligst unterlassen.

Dichter Nebel liegt über dem Hafen, als sie endlich in San Francisco ankommen. In einer Mietkutsche holpern sie eine steile, sandige Straße hinauf. Für Luise sieht diese Stadt wie eine einzige Ansammlung von trostlosen Bretterbuden und dreckigen Fahrwegen aus.

„Vieles ist hier erst im Aufbau“, erklärt Margarethe, als sie die entsetzten Blicke der Mädchen bemerkt, „vor ein paar Jahren hausten viele Leute noch in Zelten.“

In der Nacht beginnt es zu regnen. Wasser rinnt an den Holzwänden der Herberge herab. Luise liegt lange wach. Ihr geht nicht aus dem Kopf, was sie auf dem Schiff gehört hat: Dass in dieser Stadt überall tote Tiere auf den Straßen liegen und mehr Ratten als Menschen leben.

Schneider ist, kaum haben sie ihr Gepäck abgestellt, aus dem Gasthaus verschwunden. Er bleibt drei Tage und Nächte fort. Irgendwo muss es in San Francisco auch große Steinhäuser, Spielcasinos, Tanzpaläste und elegante Magazine geben. Dort geht er wohl seinen Geschäften nach.

Hurdy Gurdy Girl

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