Читать книгу Hurdy Gurdy Girl - Irene Stratenwerth - Страница 6

Zweites Kapitel

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Kurz vor neun trifft der Schnellzug aus Gießen am Bahnhof von Nauheim ein. Fauchend kommt die Lokomotive mit den Personenwagen der ersten, zweiten und dritten Klasse vor dem Stationsgebäude zum Stehen. Auf dem Bahnhofsvorplatz haben sich bereits Händler mit Erfrischungen und Proviant, Gastwirte, Gepäckträger, Kutscher und Schaulustige versammelt.

Nur wenige Passagiere steigen so früh am Morgen hier aus. Umso mehr aber reisen ab. Die Meisten haben es nicht weit. Kaum eine Stunde dauert die Fahrt von Nauheim nach Frankfurt am Main.

Die elegant gekleideten Kurgäste und Spielbankbesucher, deren Droschken als Letzte vorgefahren sind, dürfen den Bahnsteig als Erste betreten. Zwielichtige Gestalten und arme Sünder kämen neuerdings zur Kur und zum Glücksspiel nach Nauheim, hat der Pastor in Langenhain in seiner Sonntagspredigt oft gewettert. Doch wie arme Sünder sehen diese feinen Herrschaften nicht aus. Elegant gekleidete Männer heben ihre Damen schwungvoll von den Trittbrettern der Kutschen, erteilen Dienstboten kurze Anweisungen auf Französisch oder in einer noch fremderen, weich klingenden Sprache. Kaum haben sie den Bahnsteig betreten, helfen sie ihren Begleiterinnen die steilen Eisentreppen zu den Fahrgastkabinen der ersten Klasse hinauf.

Der Blick auf die feine Reisegesellschaft wird bald durch einen zweiten Zug verdeckt, der aus der Gegenrichtung einfährt und ebenso laut schnaufend zum Stehen kommt. Nur einen Steinwurf entfernt schnattern Gänse auf der Chaussee. Ein Bauer treibt seine Kühe mitten durch die Schar und tut so, als bemerke er das Getümmel um die riesigen, eisernen Ungetüme überhaupt nicht.

Eine Eisenbahn hat Luise noch nie aus der Nähe gesehen. Einmal, als sie den Vater auf seinem Fuhrwerk nach Butzbach begleitete, begann dieser aufgeregt mit den Armen zu fuchteln und in die Ferne zu deuten. Am Horizont konnte sie einen dunklen Strich erkennen, aus dem weißgraue Wolken aufstiegen. Rasch wanderte die Rauchsäule über Felder und Äcker und verschwand schließlich im Wald.

„Das war eine Eisenbahn“, erklärte der Vater, und seine Stimme bebte vor Ehrfurcht, „wenn du von Nauheim nach Butzbach willst, läufst du zu Fuß einen halben Tag. Eine Dampflokomotive kann denselben Weg in einer halben Stunde bewältigen und auch noch viele Wagen hinter sich herziehen.“

Jetzt dürfen auch die Reisenden der zweiten und dritten Klasse den Bahnsteig zwischen den Zügen betreten. Es ist ohrenbetäubend laut, die Luft ist voller Dampf und Ruß.

Luise war enttäuscht, als sie am Morgen wieder in ihr altes Zeug schlüpfen sollte, das sie auf dem Fußboden abgelegt hatte. Die Mutter hat ihr für die Reise zwar eine neue, mit feinen Spitzen besetze Unterhose eingepackt, aber keinen zusätzlichen Rock und keine Bluse. Es lohne sich nicht. Der Georg werde sie mit neuen Kleidern komplett ausstatten, so sei es vereinbart. Jetzt versteht sie: Es wäre reine Verschwendung, für so eine Bahnfahrt etwas Neues, Sauberes anzuziehen.

Schneider hat nach dem Wecken für jede einen Becher Milch und ein Stück Brot in die Kammer gereicht. Ab jetzt sei seine Frau Margarethe für sie zuständig, erklärte er ihnen dazu: „Wenn es in die Welt hinaus geht, ist es besser, euch einer Aufpasserin zu unterstellen!“ Danach hat er kaum noch ein Wort mit ihnen gesprochen, gibt sich, seit sie die Herberge verlassen haben, abweisend und missmutig. Fein und streng wirkt seine Gattin daneben in ihrem grauen Reisekostüm.

Luise kennt Margarete nur von ein paar Hochzeiten und Begräbnissen im Familienkreis. Ihren jüngsten Sohn hält sie sorgfältig von sich weggespreizt auf dem Arm. So kann die klebrige weiße Flüssigkeit aus dem Mund des Säuglings nicht auf ihre elegante Jacke tropfen. Im Waschhaus hat Luise gehört, dass die Schneiderin noch zwei größere Kinder hat, die bei den Großeltern in Langenhain blieben.

Krampfhaft halten sich die drei Mädchen auf dem Bahnsteig an den Händen, lassen einander auch im dichten Gedränge nicht los. Anna schafft es als Erste, die eiserne Trittleiter zum Waggon dritter Klasse zu erklimmen. Die Tesi zieht sie hinter sich her. Als das Mädchen seine andere Hand benötigt, um sich an der Griffstange aus Messing in den Zug hochzuziehen, lässt es Luise einfach los. Diese taumelt ein paar Schritte zurück, droht zu stürzen, fängt sich wieder und hält ihr Bündel dabei fest an die Brust gepresst.

Auch im Eisenbahnwagen hört das Schieben und Drängen nicht auf. Viele Bänke sind schon mit Reisenden besetzt. Dennoch versuchen alle neu Zugestiegenen, noch einen Platz am Fenster zu ergattern.

Die drei Mädchen quetschen sich nebeneinander auf eine schmale Holzbank, die für höchstens zwei Personen bestimmt ist. Marktfrauen sitzen ihnen mit Körben und Säcken auf dem Schoß gegenüber, machen aber respektvoll Platz, als Margarethe dazukommt.

Tesi ist kalkweiß im Gesicht. Sie hat bisher kaum ein Wort gesprochen. Luise hat sie sich zum ersten Mal richtig angesehen, als sie auf dem Bahnhofsvorplatz standen, hat ihre großen, dunklen Augen, die gerade, kleine Nase und die trotzig aufgeworfenen Lippen bewundert.

„Wie ist dir?“, wendet sich die Schneiderin fürsorglich an die Jüngste, „hast du Angst?“ Das Mädchen schüttelt den Kopf und presst die Lippen aufeinander. „Es wird bald besser. Vielen geht es am Anfang so. Du wirst schon sehen“, versucht Margarethe sie aufzumuntern.

Draußen gellt ein Pfiff. Das Schnaufen und Zischen wird lauter. Dann gerät das Bahnhofsgebäude in Bewegung und gleitet aus Luises Blickfeld fort. Sie zittert am ganzen Leib.

Ein heftiger Schlag durchzuckt sie. Dann folgt schnell der Nächste und Übernächste. Verstohlen blickt sie auf Anna, die eine Hand schützend auf ihren Bauch gelegt hat. Ob es stimmt, was sie im Waschhaus erzählt haben? Dass Anna ein Kind erwartet, und zwar von dem Landgänger Christoph Reuter, der viel älter als sie ist und im Dorf schon eine Familie hat?

Draußen jagen Bäume, Wälder, Kühe und Bauernhöfe vorbei, so schnell, wie Luise es noch niemals gesehen hat. Immer wieder wehen Schwaden von Rauch und Dampf ins Abteil und legen sich kalt und rußig auf ihre Haut. Sie wischt sich die Augen, schnäuzt die Nase, schluckt und hustet. Der schwarze Staub klebt bald überall.

Stumm lehnt sich Tesi an Anna und schließt die Augen.

Die Fahrt bis nach Kassel wird bis zum Nachmittag dauern.

Ab und zu lässt Luise ihre Hand in ihr Bündel gleiten und kramt darin herum. Die paar Habseligkeiten, die ihr die Mutter eingepackt hat, sind schnell ertastet: etwas Wäsche, ein Trinkgefäß und ein großes wollenes Umschlagtuch.

Ganz zum Schluss hat sie selbst noch etwas hineingesteckt. Ein Geheimnis. Vorsichtig streichen ihre Finger über eine schmale, in Wachspapier eingeschlagene Schachtel. Wie oft hat sie in den letzten Tagen den Pappdeckel vorsichtig hochgehoben und ihren Inhalt bestaunt: vier schwarz glänzende Bleistifte mit silbernen Prägebuchstaben.

Und noch etwas ertastet sie in ihrem Bündel: das Album. Sobald sie es mit den Fingerspitzen berührt, kann sie den dunkelroten Leineneinband und die golden eingeprägten Buchstaben genau vor sich sehen.

Das feine Notizbuch und die Stifte sind ein Geschenk vom Lehrer. Am letzten Sonntagnachmittag bat er sie am Ende der Lesestunde zu bleiben. Er habe mit ihr zu reden.

Luise war unbehaglich zumute, so ganz allein mit dem Schulmeister. Umständlich kramte er das in braunes Papier eingeschlagene Päckchen aus seinem Pult und überreichte es ihr. Ein Bleistift sei eine großartige Erfindung, erklärte er, während sie verlegen die Knoten löste, besonders auf Reisen. Da brauche man kein Tintenfass und keine Feder, um seine Eindrücke zu notieren. „Vielleicht wird ja eines Tages auch eine große Schriftstellerin aus dir!“, sagte er, und das klang, als meine er es ernst.

Luise freute sich über die prächtigen Stifte und das Buch mit den blütenweißen, noch unbeschriebenen Seiten. Und wusste doch nicht, was sie sagen sollte. Heiß und unwohl wurde ihr, als der Schulmeister sie fest an den Schultern packte und gegen ihr Sträuben an sich zog. Er wünschte, er könne mit ihr in die Fremde ziehen, raunte er ihr ins Ohr, während sie sich erschrocken aus seiner Umklammerung wand.

Sie war schon halb aus der Tür, als ihr einfiel, dass sie sich bei ihm zu bedanken hatte und sie sich noch einmal zu ihm umwandte.

Es war nicht das erste Mal, dass einer sie mit dieser Mischung aus Sehnsucht und Gier anstarrte. Die Blicke, die ihr die Männer im Dorf hinterherschickten, hatten sich in den letzten Jahren verändert. Meistens waren es die Alten, die sie blöde anglotzten: Greise, die vor ihrem Haus auf einer Bank saßen, während drinnen ein Weib nach ihnen keifte.

Die jüngeren Burschen hingegen machten sich in Langenhain rar. Viele verließen ihr Elternhaus, sobald sie mit der Schule fertig waren, gingen zum Militär oder verdingten sich in der Fremde. Von manchen hieß es sogar, sie suchten ihr Glück in Amerika.

Nur im Winter kehrten einige ins Dorf zurück: Dann lungerten sie vor den Häusern herum, in denen sich die Mädchen zur Handarbeit trafen und wollten Luise von der Spinnstube nach Hause begleiten. Doch kaum lief sie mit so einem durch die dunklen Dorfgassen, begann er sie zu bedrängen. Und sobald es Frühling wurde, war er wieder fort.

Am zweiten Tag führt ihre Reise von Kassel über die Grenze ins Königreich Hannover. Von jetzt an, so schärft Margarethe den Mädchen ein, müssten sie mucksmäuschenstill sein. Jeder Schwatz sei ihnen streng verboten: „Falls euch jemand anspricht und nach dem Ziel eurer Reise fragt, überlasst das Antworten mir.“

Schneider selbst ist kaum wiederzuerkennen. In Langenhain führte er sich auf wie ein Weltmann, dem jedermann einen Gruß schuldete. Wenn die Sonne schien, schritt er stolz wie ein Gockel mit seiner fein herausgeputzten Gemahlin an den Dorfhäusern vorbei. Am Abend saß er im Wirtshaus beim Bürgermeister am Tisch und rühmte lauthals das Leben in Amerika. Luise hat ihn dort manchmal gesehen, wenn sie dem Vater ein Bier holte. Man sprach nicht darüber, aber alle wussten es: Die Geschäfte, die Schneider in der Fremde machte, mussten recht einträglich sein.

Doch jetzt, in der Eisenbahn, wirkt er bäurisch und stumpf wie ein Tagelöhner, der zum ersten Mal auf Reisen ist. Wer ihn nach den drei Mädchen in seiner Gesellschaft fragt, dem bescheidet er knapp: „Aus der Heimat. Sind drüben als Dienstmägde verpflichtet. Soll auf sie aufpassen.“

Seine Frau wirkt viel eleganter als er. Etwas fremd sitzt sie in der kleinen Reisegruppe wie eine Gouvernante.

Den kleinen Christopher hält sie nie lange auf ihrem Schoß. Anna und Tesi wetteifern darum, das Kind zu herzen, zum Lachen zu bringen und dann wieder zu beruhigen.

Luise schaut lieber nicht hin.

Sie muss sonst schon wieder an Dora denken.

Hurdy Gurdy Girl

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