Читать книгу Hurdy Gurdy Girl - Irene Stratenwerth - Страница 12

Achtes Kapitel

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Seit vielen Wochen hat Faber die Klassenstube nicht mehr betreten. Verbrauchte Luft schlägt ihm muffig entgegen, als er die Tür öffnet. Von der Decke hängen graue Trauben aus Staub und Spinnweben.

Die Standuhr tickt längst nicht mehr. Er wird sie aufziehen müssen, bevor die Schule wieder beginnt. Bald werden sich wieder fast vierzig Kinder in dem kleinen Raum drängen und Kuhdung, Schweinemist und noch Schlimmeres ausdünsten.

Erschöpft werden sie sein nach der monatelangen Plackerei auf den Feldern. Wenn es draußen erst kalt wird und er den Kanonenofen einheizen muss, werden sie reihenweise auf den Schulbänken einschlafen. Und spätestens im Januar oder Februar so blass und schwach aussehen, dass man als Mensch, dem noch ein Herz in der Brust schlägt, froh ist über jedes Kind, das den Winter überlebt.

Ein Dutzend Sechsjähriger ist in diesem Frühjahr neu in die Schule gekommen. Ihre strahlenden, wissbegierigen Augen brachten frischen Glanz in die düstere Klassenstube, und am ersten Tag trugen sie noch stolz ihren Sonntagsstaat. Doch schon bald liefen sie wieder in den abgewetzten und vielfach geflickten Sachen herum, die Faber schon von ihren Geschwistern kannte. Heinrich, Johann, Margarethe, Elisabeth. Es fällt ihm schwer, sich die ewig gleichen Vornamen für immer wieder andere Kinder zu merken.

Um an das einzige Fenster im Raum zu gelangen, muss er sein Pult beiseite rücken. Mit beiden Händen ergreift er die mit Leder bespannte Schreibplatte und versucht das Möbelstück zu bewegen. Es ist schwerer als erwartet. Plötzlich gibt etwas unter seinen Händen nach: Er kann den Deckel anheben und vom Pult lösen. Vorsichtig stellt er ihn beiseite und starrt in das oberste Schubfach. Schulhefte, Kreiden, zusammengeknülltes Papier und noch einiges mehr hat sich darin angesammelt. Er sieht einen Brieföffner, den er schon lange vermisst hat, ein paar Knöpfe, eine Steinschleuder und ein schmuddeliges Taschentuch.

Am hinteren Ende der Lade entdeckt er einen sauber getischlerten, schmalen Kasten, den er noch nie vorher bemerkt hat. Ein Geheimfach! Behutsam schwenkt er einen schmalen Deckel beiseite. Vor ihm liegt eine ordentlich verschnürte, staubige Papierrolle. Mehr nicht.

Faber nimmt das Papier in die Hand, löst den Knoten und streicht die wenigen, brüchigen Blätter auf einem Schülerpult glatt. Der Hessische Landbote steht auf der ersten Seite. Er weiß: Die berüchtigte Flugschrift wurde vor Jahrzehnten verfasst und verbreitet. Doch er hat sie noch nie mit eigenen Augen gesehen.

Darmstadt, im Juli 1834, liest er. Fast dreißig Jahre ist das Papier also alt. Faber war damals zwölf Jahre alt und besuchte die Knabenschule in Butzbach. Dass Friedrich Ludwig Weidig, der Konrektor dieses Institutes, dieses Pamphlet gemeinsam mit dem jungen Schriftsteller Georg Büchner verfasste, wusste damals noch niemand.

Den Pädagogen mit den sanften Gesichtszügen hat er einige Male über den Schulhof gehen sehen, aber Unterricht hatte er bei Weidig nie. Ihm hätten sie es zu verdanken, so erzählte ihm ein Klassenkamerad mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Spott, dass auf ihrem Stundenplan täglich Leibesübungen standen.

Der Konrektor verschwand kurz danach aus der Schule. Versetzt, munkelte man erst, und dann: verhaftet. Später hieß es, Weidig habe sich im Gefängnis das Leben genommen.

Was aber hat diese Flugschrift im Lehrerpult von Langenhain-Ziegenberg zu suchen? Hat Fabers Vorgänger sie etwa dort versteckt? Fragen kann er den alten Schulmeister nicht mehr: Er liegt längst auf dem Kirchhof begraben.

Eine Weile starrt Faber unschlüssig auf das Papier. „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“, steht in der Mitte der ersten Seite. Den Lesern wird ausdrücklich geraten, die Schrift sorgfältig vor der Polizei zu verbergen.

1834 war Faber natürlich noch viel zu jung, um sich für Politik zu interessieren. Für den Sohn eines Schuhmachers war es schon etwas Besonderes, dass er eine höhere Schule besuchen durfte. 1848, vierzehn Jahre später, kam die deutsche Revolution für ihn wiederum etwas zu spät. Als in Frankfurt und Gießen hunderte Studenten durch die Straßen zogen, war er bereits Lehrer und hatte dem Großherzogtum Hessen seine Treue geschworen.

Vorsichtig rollt er das Dokument wieder zusammen, wickelt die Schnur darum und legt es zurück in das Geheimfach. Was soll er auch sonst damit tun? In seiner privaten Stube im Obergeschoss will er das Papier nicht herumliegen lassen. Nicht umsonst sind viele der 48er-Revolutionäre aus Deutschland geflohen und müssen noch immer mit empfindlichen Strafen rechnen.

Auf Fabers Stirn haben sich Schweißperlen gebildet. Die staubige Luft kitzelt in seiner Nase. Höchste Zeit, endlich das Fenster aufzureißen. Fluchend rüttelt und zerrt er an den morschen Holzrahmen, bis diese ächzend nachgeben. Schwülwarme Luft strömt herein. Vorsichtig, um sein Hemd nicht zu beschmutzen, beugt er sich über die Brüstung und schaut die Hauptgasse hinunter. Kein Mensch ist um diese heiße Mittagsstunde draußen. Nur eine Postkutsche kriecht mühselig zum Schulhaus hinauf und kommt direkt davor zum Stehen.

Fliegenschwärme umkreisen die Köpfe der beiden schwitzenden Pferde, während der Kutscher wie tot auf seinem Bock hängt. Er bringe Post, knurrt er den Lehrer an, als dieser aus dem Haus tritt: Wie jede Woche die Gartenlaube. Diesmal habe er auch einen Brief.

Überrascht nimmt Faber den Umschlag entgegen. Die ordentliche Schülerinnenhandschrift lässt sein Herz sofort schneller schlagen: Ist es etwa ein Brief von Luise? Er wurde in Hamburg zur Post gegeben, soviel kann er am Stempel erkennen. Ist das Mädchen denn schon zurück aus Amerika? Oder ist Luise nie aus der Hafenstadt abgereist?

Erst oben in seiner Stube wagt er es, das Kuvert zu öffnen. Drei dünne, gefaltete Blätter fallen heraus. Nur auf einem steht sein Name.

Sehr verehrter Herr Schullehrer,

die Bleistifte leisten mir gute Dienste, jetzt wo wir in Amerika sind. Wir sind gut in Kalifornien angekommen. In New York mussten wir lange auf ein Schiff warten, weil in Amerika Krieg ist.

Ich gebe diesen Brief einem Mann in unserem Wirtshaus mit, der morgen in die Heimat aufbricht. In Bremen oder Hamburg soll er den Brief zum Postamt bringen. Ich bitte Euch von Herzen. Gebt die beiden anderen Blätter an meine Eltern und an meine Schwester. Aber an Dora nur, wenn sie in der Schule ist.

Viele Grüße von Luise

Die beiden Zeilen darunter sehen so aus, als hätte das Mädchen sie im letzten Augenblick noch dazugekritzelt.

Und wenn Ihr Post von einer Elisa Hildebrandt bekommt, bitte ich höflich darum. Hebt den Brief auf, auch wenn er schlecht geschrieben ist.

Der Lehrer dreht das Blatt mehrmals um, als müssten irgendwo noch ein paar weitere Worte verborgen sein. Besondere Worte, die ihm allein gelten.

Luise. Das schlaksige Mädchen geht ihm nicht aus dem Kopf, seitdem er in der Schulstube von ihr Abschied genommen hat. Wochenlang hat er sich nach dieser letzten Begegnung Vorwürfe gemacht: Wie konnte er sich so vergessen? Niemals hätte er wagen dürfen, die Siebzehnjährige in seine Arme zu schließen!

Anfangs befürchtete er jeden Tag, der Bauer Ludwig könnte vor dem Schulhaus erscheinen, um ihn zu verprügeln und aus dem Dorf zu jagen. Weil er es gewagt hat, sich an seinem Töchterchen zu vergreifen. Doch nichts dergleichen geschah.

So schön war Luise an diesem Sonntagnachmittag gewesen! Hoffnungsfroh kam sie ihm vor und zugleich aufgewühlt und verängstigt. Kein Kind mehr, keine Schülerin, sondern ein richtiges Fräulein mit einem lustigen Grübchen im Kinn. Eine wie sie hätte Faber sich gerne zur Frau genommen. Früher, als er noch jung war. Inzwischen war es zu spät.

Warum hatte er sich bloß in den Kopf gesetzt, ihr ein Abschiedsgeschenk mitzugeben? Nachdem er im Wirtshaus gehört hatte, dass sie fortgehen würde, konnte er an nichts anderes mehr denken. Zwei Mal war er unter dem Vorwand, seine alten Eltern zu besuchen, nach Schulschluss nach Butzbach gelaufen, war stundenlang durch die Gassen des Städtchens gestreift und hatte die Auslagen der Ladengeschäfte betrachtet. Doch er konnte sich zu nichts entschließen.

Seiner ehemaligen Schülerin Wäsche zu schenken, kam ihm unpassend vor. Und ein Buch? Ein moderner Liebesroman durfte es natürlich nicht sein. Etwas Klassisches, ein Werk von Goethe oder Schiller? Das erschien ihm zu altväterlich.

Schließlich entdeckte er bei einem Buchbinder das Album und die Stifte. Das war es! Ein noch ungeschriebenes Buch, dessen Seiten sie mit ihren eigenen Erlebnissen und Eindrücken füllen könnte!

Luise hatte sich sichtlich darüber gefreut.

Inzwischen ist ihm nicht mehr so recht wohl bei der Sache, denn sein Geschenk bezeugt seine unpassende Zuneigung zu dem Mädchen.

Es wäre besser, die ganze Geschichte schnell zu vergessen. Doch die Sehnsucht, die das Mädchen entflammt hat, brennt noch immer in ihm.

Es weiß, dass es sich nicht gehört, auch die beiden anderen Briefe zu lesen. Aber er ist ganz allein in seiner Stube. Vorsichtig faltet er das zweite Blatt auseinander.

Lieber Herr Vater und liebe Mutter,

wie geht es Euch? Mir geht es gut. Wir sind glücklich und gesund in Amerika angekommen. Von Hamburg nach New York ging es schnell, aber nach Kalifornien war es weit. Einmal hatten wir Sturm und ich war seekrank. Aber der Herr hat mich behütet.

Der Schneider ist ein guter Dienstherr. Bald reisen wir zu den Goldminen. Schneider sagt, die Arbeiter warten dort schon auf uns.

Bitte grüßt die Geschwister und den Oheim recht herzlich von mir und vergesst mich nicht.

Viele Grüße Luise

Behutsam streicht der Lehrer über das Papier. Es fühlt sich so warm und lebendig an, als hätte Luise den Bleistift gerade erst aus der Hand gelegt. Dann nimmt er das dritte Blatt mit dem längsten Brief in die Hand.

Liebe Dora

hoffentlich bist du nicht mehr böse mit mir, weil ich fort bin. Ich konnte dir nicht Lebewohl sagen, weil du auf dem Acker warst. Die Mutter hat dir bestimmt erzählt, dass ich nach Amerika in den Dienst gehe und in drei Jahren wiederkomme. Ich hoffe, du hast nicht zu viel Arbeit im Stall und auf dem Feld, seit ich weg bin und nicht mehr mithelfen kann. Vor allem wenn zu Michaelis die Schule wieder anfängt.

Ich weiß, du magst das Lernen nicht, aber lass dir von deiner großen Schwester etwas sagen. Bitte lerne soviel du kannst. Wenn du erst einmal ins Land gehst, kannst du alles gebrauchen. Ich war bis jetzt die meiste Zeit auf dem Schiff oder in einem Gasthaus. Aber alle sagen, es ist in Amerika besser als daheim. Ein Mädchen kann sich viel mehr aussuchen. Ob sie in Stellung geht oder heiratet. Junge Burschen gibt es genug. Und Frauen können viel mehr Berufe als Dienstmagd machen.

Am besten du fängst schon in der Schule mit der englischen Sprache an. Viele Leute sprechen es hier. Frag den Schulmeister, ob er ein Wörterbuch hat und dir beim Lernen helfen kann.

Weißt du noch, wie wir die Wiesen zum Fluss heruntergekugelt sind bis uns schlecht wurde?

Erzähle dem Vater nichts von meinem Brief. Wenn du mit der Schule fertig und konfirmiert bist, komme ich zurück. Vielleicht habe ich dann schon einen guten Mann mit einem schönen Haus in Amerika. Und du kannst mit mir gehen.

Viele liebe Grüße von Luise

Der Lehrer liest alle drei Briefe mehrmals durch. Dann weiß er, was er zu tun hat.

Er nimmt seine Jacke vom Haken, um dem Bauern Ludwig seine Post zu bringen. Sicher warten die Eltern schon lange auf Nachricht vom Töchterchen. Den Brief an Dora steckt er in das Geheimfach in seinem Pult.

Morgen früh wird er die erste Postkutsche nach Friedberg nehmen. Er erinnert sich noch genau an die Buchhandlung, in der er als junger Seminarist so oft war. Bestimmt kann er dort ein Lehrbuch für die englische Sprache kaufen.

Es wird jedenfalls nicht so weit kommen, dass die rotznäsige kleine Schwester von Luise danach verlangt, eine Sprache zu lernen, in der er nicht einmal „Guten Tag“ sagen kann.

Hurdy Gurdy Girl

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