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Viertes Kapitel

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Was könnte Luise ihrer kleinen Schwester später von der Überfahrt nach Amerika erzählen? Von einer Schiffspassage, die anfangs vor allem aus Warten bestand und später aus noch Schlimmerem?

Zum versprochenen Einkaufsausflug zum Jungfernstieg kam es nie. Nach langen Tagen in ihrer Herberge gingen sie in Hamburg endlich an Bord eines Dampfers nach England.

Es nieselt, als sie im Hafen in den Schiffsbauch hinuntersteigen, und bei ihrer Ankunft in Kingston upon Hull regnet es immer noch. Von der endlosen grauen Wasserfläche, die sie auf der Harlequin überqueren, sieht Luise nicht viel.

Nur Schneider darf in Hull von Bord und in die Stadt gehen. Margarethe und die Mädchen müssen auf dem Schiff bleiben und eine weitere Nacht in ihren engen und unbequemen Kojen verbringen. Erst am nächsten Vormittag werden sie über einen wackeligen Steg an Land und sofort zu einem Bahnhof geführt. Dort wartet schon der Zug nach Liverpool.

Schneider hat für seine Reisegruppe Passagen auf der City of New York erworben. Während der Eisenbahnfahrt hört Margarethe nicht auf, lauthals damit zu prahlen: „Wir reisen mit einem hochmodernen Dampfsegler, der extra für Übersee-Passagiere gebaut wurde! In nur zwei Wochen können wir in Amerika sein!“ Alle wissen, dass die ausgedienten Frachtsegler, die neuerdings als Auswandererschiffe dienen, mehr als doppelt so lange brauchen.

Im Hafen von Liverpool bahnt ihnen ein Agent den Weg durch eine beängstigende Menschenmenge zur City of New York. Das prachtvolle, neue Schiff ist in den oberen Etagen verschwenderisch mit eleganten Deckskabinen, Salons und Speisesälen ausgestattet. Doch diese sind allein für die feinen Herrschaften bestimmt, die sich eine Überfahrt in der ersten oder zweiten Klasse leisten können. Die Schneiders müssen mit Hunderten weiterer Passagiere sofort ins Zwischendeck des gigantischen Dreimasters hinabsteigen. In der Mitte des kargen, stählernen Saals wird ein Wall aus Kisten und Koffern errichtet. An seinen Längsseiten reihen sich dreigeschossige Stockbetten auf.

Hier ist es von Anfang an laut, eng und dreckig. Es stinkt nach altem Schweiß, menschlichen Ausdünstungen und Urin. Einmal am Tag wird ein warmes Essen ausgeteilt. Die Passagiere müssen den widerwärtigen Eintopf, der von der Decke herabgelassen wird, stehend an einem Tisch hinunterschlingen. Stets muss es schnell gehen, denn die nächsten Hungrigen warten schon darauf, sich die nur flüchtig ausgewischten Blechnäpfe zu füllen.

Sehnsüchtig starrt Luise schon kurz nach dem Ablegen zu der Luke über der Treppe hinauf, die nur bei sehr schönem Wetter geöffnet wird. Dann kann sie ein Stück vom Himmel sehen und ihre Lungen mit frischer, salziger Luft vollsaugen.

Im letzten Moment vor der Abfahrt in Hamburg ist Elisa zu ihnen an Bord gekommen. Ein dunkel gekleideter Mann hat sie zum Schiffsanleger gebracht und ohne viele Worte an Schneider übergeben.

Eine Hure sei die Neue, hat Margarethe den Mädchen zuvor eingeschärft, sie sollten sie besser meiden. Ihr Mann habe sich verpflichtet, das dreckige Luder mit nach Amerika zu nehmen, aber dort werde man sie schnell wieder loswerden. Mit weit aufgerissenen Augen berichtete Anna von den Huren, die auf Kuba frei herumliefen. Grell geschminkt und ordinär gekleidet gingen sie sogar in den Tanzsalons von Havanna ein und aus.

Umso überraschter war Luise, als ihr Elisa das erste Mal gegenüberstand: Die Zwanzigjährige sah aus wie ein ganz normales Landmädchen. Zwei lustige Augen blitzten unter der braven Haube auf, als sie ihr scheu die Hand reichte. Und schon bald war ihr dieses Mädchen so lieb und vertraut wie kein anderes zuvor. Dass sie angeblich gefallen war und eine Sünderin, vergaß sie einfach schnell wieder.

Vor dem Ablegen in Liverpool hatte die Schneiderin die vier Mädchen noch einmal um sich geschart und ihnen erklärt, worauf sie bei einer Atlantiküberquerung zu achten hätten.

„Ihr wisst ja, dass eine Seefahrt sehr gefährlich sein kann“, begann sie mit einem grausamen Lächeln, „deshalb merkt euch die wichtigste Seemannsregel: Frauen und Kinder werde als Erste gerettet!“

„Und wie geht das?“, fragte Luise erschrocken.

„Wir haben als Erste Anspruch auf einen Platz in einem Rettungsboot“, Margarethe seufzte theatralisch „aber wir sollten uns nicht darauf verlassen. Als vor zehn Jahren die Arctic in Seenot geriet …“

„Es muss schrecklich gewesen sein“, fiel ihr Anna altklug ins Wort, „das Schiff war auf derselben Route unterwegs wie wir jetzt und ist auf hoher See mit einem Frachter zusammengestoßen.“

„Es ist leck geschlagen und untergegangen“, bestätigte Margarethe düster, „über 400 Menschen waren an Bord. Kaum hundert von ihnen wurden gerettet.“

„Und das waren die Frauen und Kinder?“, fragte Luise beklommen.

„Eben nicht. Es gab viel zu wenige Rettungsboote. Die Kräftigsten und Schnellsten haben sich die Plätze gesichert: Die meisten waren Matrosen.“

„Alle anderen sind ertrunken?“

Margarethe nickte: „So etwas passiert leider immer wieder. Erst vor kurzem ist die Austria auf hoher See abgebrannt. Die meisten Menschen an Bord waren Auswanderer.“ Sie blickte die Mädchen scharf an: „Deshalb ist es streng verboten, an Bord Feuer zu machen! Auch wenn ihr andere erwischt, die sich an einem Öfchen wärmen oder ein Essen kochen wollen, schlagt gefälligst sofort Alarm!“ Schneiders Ehefrau lehnte sich zurück und kräuselte befriedigt ihre Lippen, während die Mädchen folgsam und verängstigt mit den Köpfen nickten.

Soll Luise ihrer kleinen Schwester etwa später erzählen, wie sie unter Deck ihre Notdurft verrichten muss? In dem ekelhaften, nach oben offenen Verschlag heben Frauen gleichzeitig ihre Röcke wie Männer die Hosen herunterlassen. Ihr ist elend vor Scham, wenn sie diesen Ort aufsuchen muss. Jedes Mal hofft sie vergeblich, dort allein zu sein. Der Fußboden ist so mit Kot und Urin beschmiert, dass man ausrutscht, wenn das Schiff ein bisschen schwankt. Nur bei spiegelglatter See klettert ein Schiffsjunge mit einem Eimer Wasser zu ihnen hinunter, um die Latrine mit angeekelter Miene notdürftig zu säubern. Luise ist nicht zimperlich. Sie hat auf dem Hof ihres Vaters jeden Tag den Mist von Kühen und Schweinen weggeschaufelt. Aber so schlimm hat sie sich eine Schiffsreise nicht vorgestellt.

Anfangs sitzt sie mit Elisa stumm in ihrer Koje und klammert ihr Bündel fest. Margarethe hat den Mädchen eingeschärft, stets wachsam zu sein: Vor Langfingern sei man hier nirgendwo sicher. Doch bald merkt sie, dass die begierigen Blicke der vielen jungen Männer eher ihrem Körper als ihren wenigen Habseligkeiten gelten. Im trüben Licht einer Tranlampe wagt sie es schließlich, ihr Bündel aufzuschnüren und Elisa die darin verborgenen Schätze zu zeigen.

„Das ist ja wunderbar!“, ihre neue Freundin klatscht beim Anblick des Albums und der Schachtel mit Stiften vor Freude in die Hände, „damit können wir amerikanisch lernen!“

Luise sieht sie verwundert an.

„Na, wir gehen herum und fragen alle, welche amerikanischen Wörter sie kennen. Die schreibst du in das Album und wir lernen sie auswendig.“

Luise zögert. Sie ist so oft ermahnt worden, niemals mit Fremden zu sprechen. Schneider hat ihnen ausdrücklich verboten, nur ein einziges Wort mit Unbekannten zu wechseln. Aber Elisa ist sofort Feuer und Flamme. Sie steigt über Kisten und Bündel, klappert das gesamte Zwischendeck ab, um möglichst vielen Leuten ihre Fragen in die Ohren zu brüllen.

Die meisten schütteln nur verständnislos ihre Köpfe. Die jungen Iren oder Italiener grinsen zwar breit, wenn Elisa auf sie zusteuert. Aber dann verstehen sie nicht, was das Mädchen von ihnen will. Mit den Deutschen im Zwischendeck kann sie sich zwar besser verständigen, aber die meisten können selbst kein Wort Amerikanisch.

„Wenn man reich genug wäre, um auf dem Kabinendeck zu reisen, wäre es viel leichter“, seufzt sie einmal, „dort gibt es sehr feine Herrschaften. Manche haben ihre eigene Bibliothek dabei, haben Fremdsprachen gelernt. Sie würden uns bestimmt helfen.“

Am Ende bekommen sie kaum eine Seite mit den Wörtern voll: Brot heißt auf amerikanisch „Bred“, Milch wird „Milk“ genannt und Zucker „Schugger“. Die Buchstaben, die Luise in dem dunklen und schwankenden Schiffsbauch zu Papier bringt, sehen zudem ziemlich krakelig aus. Sie hat ihre Handschrift kaum noch geübt, seit sie nicht mehr zur Schule geht.

„Hast du die beiden Fräuleins gesehen?“, fragt Elisa sie einmal, „sie haben mir erzählt, dass sie in Österreich geboren sind.“

„Reisen sie denn ganz alleine?“, staunt Luise.

„Angeblich schon“, kichert Elisa, „aber manchmal kommt der Schiffsjunge sie holen. Die Offiziere dort oben verlangen wohl nach jungen Damen …“

Luise schlägt beschämt ihre Augen nieder.

„Sie müssen sich wahrscheinlich die Überfahrt verdienen“, überlegt Elisa. Als sie das Unbehagen in Luises Gesicht bemerkt, schlägt sie sich erschrocken die Hand vor den Mund und kommt schnell auf etwas Anderes zu sprechen: Sie hat im Zwischendeck eine ältere Dame aus Preußen kennengelernt, die zu ihrem Sohn nach Amerika reist. Diese habe ihr anvertraut, dass sie fürs Leben gern lese. In ihrem Reisegepäck habe sie sogar einige Ausgaben der Gartenlaube dabei.

„Das ist doch die Zeitschrift, die du so gern hast?“, fragt sie, „ich bitte sie einfach, uns ein Exemplar zu borgen.“

„Das wäre wunderschön!“, seufzt Luise sehnsüchtig.

Sofort macht Elisa sich auf den Weg. Als sie zurückkehrt hält sie das Heft unter ihrem Rock verborgen.

„Liest du mir daraus vor?“, bettelt sie die Jüngere an wie ein kleines Kind, „du kannst es viel besser als ich!“

Sobald etwas Licht ins Zwischendeck fällt, kauern sich die Mädchen auf die steile Treppe unter der Luke und stecken ihre Köpfe zusammen. Jede einzelne Geschichte aus der Gartenlaube liest Luise ihrer Freundin vor. Sogar ein Stück aus einem Roman. Er heißt Almenrausch und Edelweiß, spielt in den bayerischen Alpen und ist wunderschön.

Anna und Tesi hocken derweilen bei der Schneiderin, starren stumpf ins Dämmerlicht des Zwischendecks oder schäkern mit dem kleinen Christopher.

Margarethe bemüht sich kaum, ihre Abneigung gegen das Mädchen aus Nieder-Weisel zu verhehlen. Kalt und vorwurfsvoll blickt sie herüber, wenn Elisa und Luise miteinander tuscheln und kichern.

Hurdy Gurdy Girl

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