Читать книгу Liebe in den Augen des Wolfs - Iris W. Maron - Страница 10

Kapitel 5

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Die Wochenendschicht ist immer stressig. Wir arbeiten in kleinster Besetzung, damit niemand zu oft am Wochenende arbeiten muss. Das bedeutet mehr freie Wochenenden, aber umso mehr Arbeit, wenn man am Wochenende dran ist. Dieses Mal ist es besonders schlimm, denn der Ort scheint verrückt zu spielen. Liegt vielleicht am Vollmond. Jemand hat versucht, einen Geldautomaten zu knacken und ist daran gescheitert. Das Haus eines Lehrers ist mit wüsten Graffitis beschmiert worden. Und ein Schaf ist tot. Letzteres hält mich den ganzen Tag in Atem. Es ist tatsächlich eine merkwürdige Geschichte, von der ich früh morgens erfahre, als ich das Büro erreiche.

Weil es keinen Aufschub duldet, mache ich mich sofort auf den Weg zum Bauernhof von Gerd Blümle. Sputnik lasse ich im Auto, als ich mich auf den Weg zur Weide mache.

Noch bevor ich auf der Weide ankomme, finde ich eine kleine Menschengruppe in hellem Aufruhr vor.

»Sind Sie von der Presse?«, werde ich sofort von einem untersetzten Mann mittleren Alters angesprochen.

»Ja. Lukas Feuerbach mein Name.«

»Gut. Sehen Sie sich das an! Das war sicher der Wolf!«

»Das ist nicht erwiesen, Herr Blümle«, mahnt eine Frau in meinem Alter, deren wirre braune Dreadlocks sich halb aus Ihrem Pferdeschwanz lösen.

»Ach, papperlapapp! Ihr Bürokraten wollt nur die wichtigen Entscheidungen hinauszögern, bis es zu spät ist!«

»Was ist denn nun genau passiert?«, schalte ich mich ein, bevor die beiden noch ernsthaft einen Streit beginnen.

»Der Wolf hat meine Schafe attackiert, das ist passiert!«, ruft Blümle.

»Das ist nicht erwiesen«, insistiert die Frau. »Was wir wissen, ist, dass ein Schaf zu Tode gekommen ist, weil es sich im Zaun stranguliert hat. Wir vermuten, dass ein Beutegreifer auf die Weide gelangt ist und die Schafe gejagt hat. Gerissen hat er jedoch keines. Die Herde hat Panik bekommen und dieses eine Schaf ist besonders unglücklich in den Zaun gerannt. Um welchen Beutegreifer es sich dabei gehandelt hat, können wir jedoch nicht mit Sicherheit sagen.«

»Es war ein Wolf!«

»Das wissen wir nicht. Es gab wohl Pfotenabdrücke im Matsch, aber inzwischen sind hier so viele Leute über die Weide gelaufen, dass die unbrauchbar sind und ich eine Bestimmung nicht vornehmen kann.« Die Frau deutet demonstrativ auf die kleine Menschenmenge, ehe sie sich mir wieder zuwendet und mir die Hand hinhält. »Übrigens: Nadine Weilauer. Ich bin die Wildtierbeauftragte hier in der Gegend.«

»Angenehm«, meine ich und schüttle ihre Hand.

»Es war definitiv ein Wolf«, beharrt Blümle.

»Es könnte genauso gut ein Hund gewesen sein«, widerspricht Weilauer. »Vielleicht war es auch ein Luchs. Wir wissen es einfach nicht mit Sicherheit. Die Pfotenabdrücke waren die einzigen Spuren und sie sind zerstört. Es gibt kein Bildmaterial und erst recht keine DNS-Proben. Denn wie gesagt: Es wurde kein Tier gerissen. Der Beutegreifer hat sich auch kein Haarbüschel ausgerissen und es uns freundlicherweise dagelassen.«

Ich schmunzle. Ihre sachliche, wenn auch leicht sarkastische Art, die im denkbar größten Kontrast zu Bauer Blümle mit dem zornesroten Kopf steht, gefällt mir.

»Kann ich mir die Weide vielleicht ansehen?«, erkundige ich mich.

»Natürlich«, meint der Bauer sofort. »Sie wollen ja sicher Fotos machen. Die Leute müssen erfahren, was hier passiert ist.«

»Sie müssen vor allem erfahren, dass wir nicht wissen, was passiert ist«, betont Weilauer.

Blümle macht ein unwirsches Geräusch und schiebt mich in Richtung Weide. So etwas kann ich gar nicht ausstehen, also mache ich sofort einen Schritt zur Seite und weiche der Berührung aus.

Auf der Weide bietet sich uns ein trauriger Anblick. Im Schafzaun hängt das tote Schaf, und ich bin froh, dass ich es nur von hinten sehe. Ich stelle mir gebrochene, hervorgequollene Augen vor und ich frage mich, ob der Bauer recht hat mit seinem Verdacht. Unweigerlich schießt mir meine Begegnung im Wald durch den Kopf. Was, wenn es doch ein Wolf war?

Am Sonntag verfolgt mich das tote Schaf bis in die Hundeschule. Ich komme fünf Minuten vor Beginn der Stunde an, stolz, dass ich trotz des Wetters hergekommen bin. Die Wolken hängen tief und es nieselt. Seit ich einen Hund habe, besitze ich tatsächlich Gummistiefel und auch die Funktionsjacken, die ich davor schon hatte, machen jetzt endlich Sinn.

Kaum bin ich ausgestiegen, lasse ich auch Sputnik aus dem Auto. Er ist sein typisches fröhliches Selbst, als er hinunterhüpft, sich kurz umsieht und mich dann eilends hinter sich herzieht, um Ernst und Hanno gebührend zu begrüßen. Hanno lächelt mich breit an und ich erwidere sein Lächeln automatisch. Er hat ein wirklich hübsches Lächeln. Es macht sein eigentlich grobes Gesicht so weich und sanft.

Neben Hanno steht Jana, die mir zur Begrüßung zuwinkt. Die beiden halten merklichen Abstand zu den anderen, die auch schon alle da sind und sich miteinander unterhalten. Aus den Bruchstücken, die ich hören kann, folgere ich, dass es um ein bestimmtes Thema geht: das Schaf.

»Hast du schon von der Wolfsattacke gehört?!«, werde ich dementsprechend von Fritz begrüßt, noch bevor ich bei Hanno angekommen bin.

»Man weiß nicht, ob es ein Wolf war«, antworte ich automatisch.

»Ja, das haben die in der Zeitung auch geschrieben, aber das ist doch Augenauswischerei.«

»War der Artikel von dir?«, schaltet sich Jana ein und grinst dabei breit. Ich habe das Gefühl, sie genießt es ein bisschen, Fritz auflaufen zu lassen. Ihre Körpersprache ist da überdeutlich: Sie ist extrem genervt von ihm.

»Ja.«

»Oh«, meint Fritz, kommt aber nicht dazu, noch etwas zu sagen, denn ich werde schon von Hanno belagert.

»Hallo«, sagt er leise und zieht mich in eine Umarmung, die vielleicht einen Hauch zu lange dauert.

»Hallo«, erwidere ich und drücke ihn ebenfalls. Unsere Hunde veranstalten währenddessen ein Leinenchaos, weil sie einander und uns begrüßen müssen. Ein bisschen erinnert das an eine gewisse Szene aus 101 Dalmatiner und es dauert ein Weilchen, bis wir uns lachend wieder entwirrt haben.

Nach Hanno begrüßt mich Jana mit einer Umarmung. Sie kann es sich dabei nicht verkneifen, mir zuzuzwinkern. Es war ihr sehr peinlich, dass sie sich in unser Nicht-Date gedrängt hat. Wahrscheinlich würde sie jubeln und mit Pompons wedeln, wenn es mit uns klappen sollte.

Ich werfe nun auch den anderen dreien zur Begrüßung ein »Hallo« zu, doch die sind schon wieder in ihr Gespräch vertieft.

»Das ist doch eine Sauerei! Da ist ein Wolf auf seiner Weide und die Leute behaupten, er wäre selbst schuld daran!«, ruft Fritz gerade.

»Wirklich?«, fragt Sibylle nach und sieht zu mir.

Ich nicke bloß, äußere mich aber nicht weiter dazu. Das übernimmt ohnehin Fritz für mich: »Ja! Angeblich hätte er den Zaun falsch montiert, sodass er eine Gefahr war, als die Schafe vor dem Wolf geflüchtet sind. Ich frage euch, ist das in Ordnung?!«

»Man weiß nicht, ob es ein Wolf war«, betone ich mechanisch und fühle mich ein bisschen wie Frau Weilauer gestern.

»Was soll es denn sonst gewesen sein?!«, will Fritz wissen.

»Es könnte auch ein Hund gewesen sein. Oder ein Luchs.«

»Meinst du, der Wolf, der dir begegnet ist…?«, fragt Hanno und dreht sich dabei merklich von Fritz, Edeltraud und Sibylle weg.

Ich mache einen Schritt zur Seite und zucke mit den Schultern. »Das habe ich mich auch schon gefragt. Der Bauernhof ist in der Nähe von da, wo mir Sputnik weggelaufen ist. Vielleicht hast du auch recht und es war ein Wolf. Aber auch das muss nicht heißen, dass er es war. Keine Ahnung.«

»Was für ein Wolf denn?«, will Jana wissen und ich erzähle ihr in einer Kurzfassung von meiner abendlichen Begegnung im Wald.

»Wow, krass«, meint Jana, nachdem ich meine Geschichte beendet habe.

»Mhm«, mache ich nur.

»Vielleicht solltest du das melden?«, erkundigt sie sich.

»Habe ich schon.«

»Echt?«

»Ja, ich habe es damals gleich an das Amt gemailt und auch gestern der Wildtierbeauftragten davon erzählt. Ich habe ihr auch gesagt, dass ich nicht sicher bin, ob es ein Hund oder ein Wolf war und dass er sich nicht so benommen hat, wie ein Wolf das wohl normalerweise täte. Das fand sie wiederum ziemlich beunruhigend.«

»Inwiefern?«

»Na ja, es könnte dafür sprechen, dass es – wenn es denn ein Wolf war – ein Tier ist, das die Scheu vor dem Menschen verloren hat. Vielleicht, weil es eine Handaufzucht ist, die ausgesetzt wurde, oder weil es jemand angefüttert hat. Wölfe sind ja eigentlich nicht gefährlich für den Menschen. Solche Wölfe können es aber unter Umständen sein. Bloß… Er war so freundlich. Ich kann das schwer erklären, aber ich hatte echt nicht das Gefühl, dass er irgendwie aggressiv sein könnte.«

»Aber du weißt es nicht«, meint Hanno.

»Nein, natürlich nicht. Aber ich weiß auch nicht, ob er etwas mit den Schafen zu tun hatte oder ob er überhaupt noch in der Gegend ist. Und selbst wenn er die Schafe gejagt hat: Dann hatte er eben Hunger. Auch das macht ihn nicht gefährlich. Allenfalls ein bisschen dämlich.«

»Wieso das?«

»Na ja, er war zu doof, auf einer abgezäunten Wiese ein Schaf zu fangen. Das spricht nicht für seine Qualitäten als Jäger.«

»Vielleicht ist er krank? Oder unerfahren? So als Handaufzucht«, überlegt Jana.

»Möglich. Aber das ist alles reine Spekulation.«

»Wieso hast du denn die Sichtung nicht in deinem Artikel erwähnt?«, will Jana wissen.

»Ich wollte keine Panik auslösen. Du weißt doch, wie die Leute sind, wenn es um Wölfe geht.« Ich mache eine leichte Kopfbewegung gen Fritz, der sich gerade lautstark für die Bejagung des Wolfs ausspricht. Wahrscheinlich sieht er in seinem Attila schon den Hund, der heldenhaft die wilde Bestie stellt.

Jana verdreht die Augen. »Ja, dann ist es nicht mehr weit bis zum Problemwolf.«

Ich nicke. »Eben.«

»Hallo«, ertönt es plötzlich hinter mir. »Schön, dass ihr da seid.«

Ich drehe mich um und da steht Christopher. Er lächelt uns zur Begrüßung freundlich zu und öffnet das Tor, um uns auf die Wiese zu lassen. Sputnik und Ernst liefern sich fast ein kleines Wettrennen: Beide wollen unbedingt auf die Wiese, am liebsten natürlich als Erster. Also hängen sie in ihren Geschirren, die Leinen spannen und sie ziehen uns hinter sich her. Sputnik gewinnt – was kein Wunder ist, denn er ist doppelt so groß wie Ernst, ich bin aber nur halb so breit wie Hanno.

»Sieht aus, als hätte Sputnik hier das letzte Mal Spaß gehabt«, meint Christopher neben mir mit einem Schmunzeln in der Stimme.

Ich drehe mich zu ihm und stelle fest, dass er direkt neben mir steht, also muss ich ein bisschen zu ihm aufsehen. Er ist sicher gut zehn Zentimeter größer als ich. Letzte Woche ist mir das nicht so aufgefallen, aber neben Hanno wirken alle anderen auch winzig.

»Ja, hat er«, meine ich und habe alle Hände damit zu tun, meinen Hund daran zu hindern, mich höchst unelegant auf die Wiese zu schleifen. »Ich hoffe, er ist heute ähnlich motiviert dabei wie letzte Woche. Am Rückruf müssen wir echt arbeiten.«

»Oh?«

»Er ist mir letztens im Wald abgehauen.«

»Wie das?«

»Keine Ahnung. Plötzlich war er weg. Wahrscheinlich hat er im Wald etwas gesehen.«

»Gut möglich. Rehe können schon sehr spannend sein.«

»Ja, leider.«

In diesem Moment bemerkt Sputnik Christophers Anwesenheit. Er begrüßt ihn euphorisch und wedelt dabei so heftig mit dem Schwanz, dass man ihm mit den Augen kaum folgen kann. Begeistert springt er an Christopher hoch, woraufhin der sich leicht zur Seite wendet, dabei aber breit grinst.

»Na Kleiner, dir hat es hier wirklich gefallen letzte Woche, was?«, meint Christopher und wendet sich Sputnik wieder zu, als der sich etwas beruhigt hat. Noch immer wedelt er euphorisch mit dem Schwanz. Lächelnd streichelt Christopher Sputnik zur Begrüßung. Der wiederum schmeißt sich prompt auf den Rücken und verlangt überdeutlich, am Bauch gekrault zu werden.

Ich lache auf. »Aufdringlicher Kerl.«

Christopher will etwas erwidern, da drängt sich plötzlich Fritz zu uns heran. »Was sagst du eigentlich zu dieser Wolfsattacke?«

»Welche Wolfsattacke?«, fragt Christopher irritiert.

»Na, bei Gerd Blümle am Hof war doch der Wolf und hat die Schafe gejagt, bis eines gestorben ist.«

»Ich dachte, es ist nicht sicher, dass das ein Wolf war«, meint Christopher ausweichend.

Ich nicke. »Ist es auch nicht.«

Fritz tut das mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Was soll es denn sonst gewesen sein?«

»Ich sagte doch schon, es kann auch ein Hund gewesen sein oder ein Luchs.«

»Und wenn es ein Wolf war?«, beharrt Fritz.

»Dann war das ein ganz natürliches Verhalten«, meint Christopher und richtet sich auf, was Sputnik deutlich missfällt. Er fiept leise und versucht, Christophers Aufmerksamkeit zurückzuerlangen. »Wölfe unterscheiden nicht zwischen Nutztieren und Wildtieren. Sie sehen in beiden Nahrung. Wenn ein Wolf Schafe sieht, freut er sich allenfalls, weil er die – anders als Rehe – nicht auch noch jagen muss. Wölfe müssen auf ihre Energiereserven achten und eine Schafherde erscheint ihnen nun einmal wie ein Selbstbedienungsbüfett. Vor allem, wenn sie nicht entsprechend abgesichert ist.«

»Das ist schon klar«, meint Fritz, »Aber es ändert nichts daran, dass der Schaden, den Wölfe verursachen, für die Bauern viel zu hoch ist.«

»Es ist ein Schaf gestorben«, schalte ich mich ein. »Und das nicht, weil es gerissen wurde, sondern weil es sich in einem Zaun stranguliert hat. Das ist doch wirklich noch ein bisschen früh für solche Panik. Selbst wenn es ein Wolf gewesen sein sollte. Was man, wie gesagt, nicht weiß.«

»Das denke ich auch«, sagt Christopher und nickt. Fritz' Augenrollen ignoriert er. »Aber wenn ihr mögt, können wir heute auch darüber reden, wie man sich verhalten sollte, wenn man einem Wolf begegnet. Gerade wenn man mit Hund unterwegs ist, sollte man ein paar Dinge beachten.«

Die anderen nicken und so beginnt Christopher seine Einheit mit einem kleinen Wolf-Hund-Mensch-Verhaltenskodex. Wie letztes Mal auch schon, stellen wir uns in einem großen Kreis um Christopher herum auf. Und wie letztes Mal auch, beruhigt sich Sputnik relativ rasch und setzt sich hin, während vor allem Bonnie japsend in der Leine hängt und von Ruhe gar nichts hält.

»Also, zuallererst: Es ist sehr unwahrscheinlich, überhaupt einem Wolf zu begegnen. Auch in Wolfsgebieten und wir wissen ja noch gar nicht, ob sich hier ein Wolf territorial niedergelassen hat. Wölfe leben in Rudeln, die aus einem Elternpaar und deren Nachwuchs bestehen. Ab einem bestimmten Alter verlässt der Nachwuchs das Rudel und zieht allein los, um vielleicht ein eigenes Rudel zu finden. Im Nordschwarzwald lebt ein solcher Einzelwolf, das ist nachgewiesen. Und immer wieder ziehen andere Einzelwölfe durch Baden-Württemberg. Vielleicht jetzt auch hier. Wenn es denn ein Wolf war, ist er jetzt wahrscheinlich schon wieder weg. Wölfe legen in kurzer Zeit große Distanzen zurück.«

Christopher fährt sich durch sein kurzes Haar und scheint einen Moment nachzudenken, was er als Nächstes sagen soll. Seine Stimme ist eindringlich, als er fortfährt.

»Wie gesagt, ihr werdet höchstwahrscheinlich nie einem Wolf in der Natur begegnen. Wölfe bemerken Menschen lange, bevor das umgekehrt der Fall ist. Und sie haben kein Interesse an einer Begegnung mit euch, werden euch also ausweichen. Solltet ihr doch einen Wolf sehen: Haltet Abstand, geht nicht auf den Wolf zu und bedrängt ihn nicht. Das gilt eigentlich für jedes Tier – mit einem Hund solltet ihr das schließlich auch nicht machen. Normalerweise wird ein Wolf abhauen, wenn er euch bemerkt. Tut er das nicht, dann macht auf euch aufmerksam, redet laut, und entfernt euch langsam. Sollte der Wolf euch in einem gewissen Abstand folgen, dann ergreift nicht panisch die Flucht, sondern geht langsam und uninteressiert weiter. Am besten ihr sprecht dabei laut. Wenn ihr ein ungutes Gefühl haben solltet, bleibt stehen, macht Lärm und macht euch groß, um den Wolf zu vertreiben.«

Christopher macht eine kurze Pause und lässt seinen Blick dabei schweifen, als würde er auf der Wiese die Worte suchen, die ihm fehlen. Dann seufzt er und spricht weiter.

»Wenn ihr mit dem Hund in Wolfsgebiet unterwegs seid, kann es passieren, dass der Wolf den Hund als Eindringling in sein Revier wahrnimmt und ihn angreift. Wie gesagt, wir wissen noch nicht, ob sich hier ein Wolf territorial niedergelassen hat. Sollte das der Fall sein, solltet ihr eure Hunde im Wald nicht unangeleint führen und sie in eurer Nähe halten. Es kann sein, dass der Wolf sich dennoch dem Hund nähert und euch ignoriert. Sollte das passieren, reagiert ihr so, wie ich es vorhin schon gesagt habe. Ihr geht langsam rückwärts, ihr macht den Wolf durch lautes Rufen und Gestikulieren auf euch aufmerksam, zur Not werft ihr mit Gegenständen nach dem Wolf. Vielleicht nicht unbedingt mit eurem Handy.«

Verhaltenes Lachen auf der Wiese. Mir jedoch ist jetzt ein wenig mulmig zumute. Ich sehe zu Sputnik, der mich anlacht und leise fiept. Wenn das wirklich ein Wolf war, mit dem er da im Wald gespielt hat, hat er riesiges Glück gehabt.

»Habt ihr dazu Fragen?«, will Christopher wissen.

Ich sehe auf und merke, dass er dabei mich ansieht. Er schenkt mir ein fragendes Lächeln, das mich irritiert, bis mir einfällt, dass er vorhin hinter mir stand. Wahrscheinlich hat er zugehört, als ich Jana von meiner eventuellen Wolfsbegegnung erzählt habe. Ich schüttle leicht den Kopf und auch die anderen scheinen momentan keine Fragen zu haben. Es ist ja auch alles sehr hypothetisch.

»Gut, dann fangen wir mit unserem eigentlichen Programm an!«, befindet Christopher und das tun wir dann auch.

Den Rest der Stunde machen wir da weiter, wo wir das letzte Mal aufgehört haben. Das heißt vor allem Rückruf und Leinenführigkeit. Sputnik ist mit Feuereifer dabei und ich hoffe wirklich, dass das Training bald etwas fruchtet.

Nach dem Training verschwindet Jana schnell, nicht jedoch ohne Hanno und mir zuzurufen, dass wir nächste Woche wieder etwas miteinander unternehmen müssen. Fritz verwickelt unterdessen Christopher in eine weitere Wolfsdiskussion, der Sibylle und Edeltraud lauschen. Hanno und ich winken den vieren zum Abschied zu und machen uns auf den Weg zu unseren Autos.

»Ich würde dich ja fragen, ob du mit mir noch einen Kaffee trinken gehen möchtest, aber ich werde bei meinen Eltern erwartet«, sagt Hanno.

Ich lächle. »Schade. Ich hätte Ja gesagt.«

Hanno seufzt theatralisch. »Streu nur Salz in meine Wunden.«

»Sorry.«

»Schon gut«, meint Hanno gespielt leidend, ehe er schon wieder lacht.

Wir sind inzwischen beim Tor angekommen und ich öffne es. Ich überlasse Hanno den Vortritt, wofür er sich mit einer Verbeugung bedankt. Dann stehen wir auch schon an unseren Autos und sind mal wieder etwas verlegen.

»Dann ist es wohl Zeit, Abschied zu nehmen, hm?«, fragt Hanno und kratzt sich am Bart.

»Ja, so ist es wohl.«

Hanno zieht mich in eine Umarmung und haucht einen Kuss auf meine Wange. »Wann sehen wir uns denn wieder?«

»Hm, diese Woche ist bei mir leider ziemlich voll. Freitag?«

Hanno schiebt mich von sich und sieht mich aus großen Augen an. Den Blick hat er wahrscheinlich von Ernst geklaut. »Noch so lange warten!«

»Dann ist die Vorfreude umso größer«, versuche ich ihn zu beschwichtigen.

»Hmpf. Wie sieht es denn bei dir mittags immer aus? Wir könnten doch mal Mittagessen gehen.«

»Oh, gerne! Das müssten wir aber kurzfristig ausmachen. Ich weiß nie so genau, ob und wann ich Mittagspause habe.«

»Kein Ding. Ich habe immer Mittagspause. Pünktlich.«

»Dann schreiben wir uns?«

»Machen wir. Bleibt es trotzdem auch bei Freitag?«

»Klar.«

»Sehr schön.« Hanno drückt mich noch einmal und wispert: »Ich freu mich schon.«

»Ich mich auch.«

Am nächsten Morgen klingelt mein Handy, während ich gerade meinen Kaffee inhaliere. Noch reichlich verschlafen und desorientiert greife ich danach und wünsche der Person, die mich zu dieser Zeit stört, alles nur erdenklich Üble an den Hals. Ich muss ein paarmal blinzeln, bis ich überhaupt erkennen kann, wer mich da anruft. Regina. Oje.

»Hallo?«, nuschle ich, nachdem ich abgehoben habe.

»Hallo Lukas. Pass auf, es gab wieder eine Wolfsattacke.«

Ich erschrecke mich so sehr über diesen Satz, dass ich mich an meinem Kaffee verschlucke und erbärmlich husten muss. Sofort ist Sputnik bei mir und überprüft, ob alles in Ordnung ist.

»Alles okay?«, will auch Regina besorgt wissen.

»Ja«, japse ich, sobald ich mich wieder beruhigt habe. »Sorry, ich habe mich verschluckt.«

»Okay. Also. Ich will, dass du hinfährst und darüber berichtest.«

»Ähm, okay. Gleich?«

»Nein, du kannst vorher noch in die Redaktion kommen. So schnell werden die Leute von der FVA auch nicht da sein. Es wäre gut, wenn du die gleich dazu befragen kannst, ob es denn sicher ein Wolf war.«

»Ist gut. Dann bis nachher«, sage ich, irritiert davon, dass Regina nicht noch eine Stunde damit warten konnte, mir den Auftrag zu geben.

»Bis nachher«, verabschiedet sich Regina.

Kurz darauf stehe ich erneut vor dem Kadaver eines Schafes und mache Fotos. Der »Tatort« ist dieses Mal eine Wiese, die recht entlegen im Wald liegt. Es ist kühl so früh am Tag und das Gras ist noch feucht. Schön ist es hier, fast schon klischeehaft idyllisch. Hohe Bäume rahmen die Wiese ein, tiefgrün die Nadelbäume, schon rot, golden oder braun verfärbt die wenigen Laubbäume dazwischen. Leuchtend rot ein Strauch mit Beeren, dessen Namen ich nicht weiß. Ein Bach begrenzt die Weide zu einer Seite hin. Das Wasser fließt klar über glatte Steine, die Ufer sind moosbewachsen.

Am Ufer des Bachs liegt das tote Schaf. Dieses Schaf hat sich nicht stranguliert und es wurde auch durch keinen anderen Unfall getötet. Es ist eindeutig, dass es gerissen wurde. Es liegt da, inmitten seines Bluts. Sein Bauch ist aufgerissen, ich sehe seine Eingeweide. Die Zunge hängt ihm aus dem Maul und die Augen sind gequält verdreht. Es ist ein erbärmlicher Anblick.

Ein bisschen liegt der schwere Geruch nach Eisen und Blut in der morgendlichen Waldluft. Und mit ihm Hektik, Stress und Furcht. Die restliche Herde drängt sich verstört an einer Ecke der Weide zusammen. Überall sind Menschen. Der Schäfer und dessen Familie natürlich, aber auch Nadine Weilauer, jemand von der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt und einige andere, die sich auf die eine oder andere Art betroffen wähnen.

Ich schieße ein paar Fotos von dem toten Schaf und entscheide mich dafür, nicht zu nahe heranzuzoomen. Auf billigen Splatter kann ich verzichten. Stattdessen achte ich darauf, dass der Bachlauf gut zu sehen ist. Durch den Bach ist das Raubtier gekommen – was auch immer es war. Natürlich liegt wieder das Wort »Wolf« in der Luft, aber da ich noch nicht mit den Fachleuten gesprochen habe, mahne ich mich dazu, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.

Nachdem ich die Fotos gemacht habe, gehe ich zu Hans Binninger, dem Schäfer, der gerade in ein hitziges Gespräch mit ein paar Leuten verwickelt ist.

»Entschuldigen Sie bitte«, sage ich. »Lukas Feuerbach von der Schwarzwald-Presse. Dürfte ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

»Natürlich«, sagt der drahtige Mann und wendet sich mir zu.

»Danke. Ist es in Ordnung, wenn ich unser Gespräch aufnehme?«

Binninger nickt und ich zücke mein Diktiergerät, das ich auch gleich einschalte.

»Können Sie mir erzählen, wie Sie das tote Schaf gefunden haben?«

»Um sieben bin ich hergekommen, um nach den Schafen zu sehen. Mir ist sofort aufgefallen, dass etwas nicht stimmt. Die Herde war ganz unruhig, richtig panisch. Schauen Sie sich das an, die haben sich ja immer noch nicht beruhigt. Ich bin dann die Weide abgegangen und da habe ich gleich gesehen, was passiert ist. Das Schaf lag da, ganz zerfetzt und zerfleischt.«

»Wie fühlen Sie sich denn jetzt?«

»Na, wie werde ich mich schon fühlen? Wütend bin ich natürlich! Da hat sich ein Wolf auf meine Weide geschlichen und hat unter meinen Schafen gewütet! Haben Sie eine Ahnung, was das für mich bedeutet? Der kann doch jederzeit wiederkommen. Jetzt muss ich die Schafe von hier wegbringen oder in einen neuen Zaun investieren.«

»Für den Zaun können Sie Förderung beantragen, Herr Binninger«, flötet Nadine Weilauer, die wohl schon mit der Reaktion des Schäfers rechnet: einem verächtlichen Augenrollen und einem genervten »Pah!«, dem ein recht langer Monolog über die Bedrohung Wolf folgt.

Ich höre mir das eine Weile an, bis ich mich Frau Weilauer zuwende. »Weiß man denn schon, welches Tier das war?«

»Am besten, Sie fragen bei Matthias Thrietzke nach«, erwidert sie und deutet auf den Herrn von der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt.

»Mache ich, danke.«

Ich überquere die Weide erneut und gehe zurück zu dem Kadaver. Neben dem toten Schaf kniet Matthias Thrietzke und nimmt gerade Proben.

»Entschuldigen Sie, ich bin von der Schwarzwald-Presse. Dürfte ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«, wiederhole ich meinen Spruch.

»Klar«, sagt Thrietzke und richtet sich auf. »Sie wollen sicher wissen, ob das ein Wolf war.«

»Ja. Und? War es einer?«

Thrietzke neigt den Kopf hin und her. »Vermutlich. Die Bisswunden deuten darauf hin und auch die Spuren in der Böschung und auf der Wiese. Aber Sicherheit wird erst der Gentest bringen. Ich habe Proben der Bisswunden genommen, die werden jetzt untersucht. Bis das Ergebnis da ist, können wir nicht ausschließen, dass es nicht vielleicht doch ein Hund war.«

»Wie lange dauert es denn, bis das Ergebnis da ist?«

»Zwei bis drei Wochen.«

»So lange?«

»Das hier ist nicht CSI, sondern die Realität.«

Ich schmunzle verlegen. »Ich weiß. Nur werden in der Ungewissheit viele Gerüchte entstehen.«

»Ja, vermutlich.« Thrietzke nickt.

»Hätte es denn verhindert werden können?«, frage ich, auch wenn ich die Antwort ziemlich offensichtlich finde.

»Ja«, bestätigt Thrietzke dann auch. »Die Weide ist nur zu drei Seiten mit einem Zaun abgesichert. An der vierten Seite wird sie von diesem Bach begrenzt. Das hindert zwar die Schafe daran, abzuhauen, es hindert aber keinen Beutegreifer am Eindringen.«

Ich nicke. »Danke, dass Sie meine Fragen beantwortet haben.«

»Gerne.«

Ich lasse noch einmal meinen Blick über die Weide schweifen, dann beschließe ich, dass ich hier nichts Sinnvolles mehr tun kann. Ich sollte ins Büro fahren und meinen Artikel schreiben. Also verabschiede ich mich und gehe zu meinem Auto. Ich habe ein ungutes Gefühl, als ich einsteige.

»Ach, Sputnik«, sage ich und drehe mich nach hinten zu meinem Hund, der auf der Rückbank sitzt und mich mit schief gelegtem Kopf ansieht. »Ich glaube, dein Kumpel bringt sich gerade wirklich in Schwierigkeiten.«

Liebe in den Augen des Wolfs

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