Читать книгу Liebe in den Augen des Wolfs - Iris W. Maron - Страница 6
Kapitel 1
ОглавлениеIch bin einsam. Der Gedanke trifft mich unerwartet und mit voller Wucht. Ich sitze bei strahlendem Sonnenschein am Badesee, eine leichte Brise streicht durch mein nasses Haar, es riecht nach Sommer, nach Wasser und ein bisschen auch nach dem Frittierfett der Pommesbude, und meine Einsamkeit ist das Einzige, woran ich denken kann.
Überall um mich herum sind Menschen. Überall wird gelacht und geredet. Kinder planschen im seichten Wasser oder jagen sich über die Wiese. Eine Gruppe junger Männer spielt Volleyball. Ein altes Paar sitzt schweigend nebeneinander, beide in eine Zeitung vertieft. Eine Frau mit auffallend rotem Haar holt eine aufgeschnittene Wassermelone aus einer Kühltruhe und reicht ihrer Tochter und ihrem Mann je eine Scheibe. Drei Frauen undefinierbaren Alters mit der ledrigen Haut derer, die den ganzen Sommer am See verbringen, sitzen auf niedrigen Klappstühlen und diskutieren lautstark über die Arthritis von Monika – wer auch immer das ist.
Die Anwesenheit all dieser Menschen macht mir bewusst, wie allein ich bin.
Ich will das nicht mehr. Ich will mich nicht mehr einsam fühlen. Ich weiß, ich muss etwas ändern. Für den Moment kann ich aber die unliebsamen Gefühle nur so gut es geht beiseitedrängen und mich daran erinnern, weswegen ich heute eigentlich hier bin.
Die Nervosität und die Aufregung, die mich begleiten, seit ich vorhin aus dem Auto gestiegen bin, kehren zurück. Dass ich mich tatsächlich hierher getraut habe, wundert mich immer noch ein bisschen. Doch letztens, an meinem dreißigsten Geburtstag, der genauso war wie all die anderen – langweilig und ohne Feier, ein Arbeitstag wie jeder andere auch –, habe ich mir vorgenommen, in meinem neuen Lebensjahr mehr zu wagen. Mutig zu sein, meine Komfortzone zu verlassen. Einmal will ich ein Abenteuer erleben, etwas Neues. Und nach langer Zeit wieder körperliche Nähe, Sex. Ohne Gefühle.
Dass das Gebiet am Badesee, hinter dem FKK-Bereich, nachts zur Cruising Area wird, weiß ich schon lange. Bisher habe ich mich dort noch nie hingewagt. Heute aber, heute bin ich so weit. Ich werde bleiben, bis die Sonne untergegangen ist, und dann werde ich in den Wald gehen, zu dieser Lichtung, und einen Mann suchen, um mit ihm Sex zu haben. Einfach so.
Das Klingeln meines Handys reißt mich aus meinen Gedanken. Meine Ohren beginnen zu glühen, als ich erkenne, wer mich anruft: meine Mutter. Eine Erinnerung an das Gefühl, als Teenager beim Masturbieren erwischt zu werden, breitet sich in mir aus.
Ich atme tief durch und hebe ab. »Hallo, Mama.«
»Hallo, Schatz!«, schallt mir ihre vertraute Stimme entgegen. »Wie geht es dir?«
»Gut, danke.«
»Fein. Morgen ist der große Tag, nicht wahr?«
»Ja, genau.«
»Bist du schon aufgeregt?«
Ich muss lachen, weil ich momentan tatsächlich aufgeregt bin, jedoch nicht aus dem Grund, an den sie denkt. »Ein bisschen.«
»Hast du denn schon alles vorbereitet?«
»Ja, schon längst.«
»Und du bist sicher, dass du nichts vergessen hast?«
»Ja, bin ich. Ich habe zwei unterschiedlich lange Leinen besorgt, ein Bettchen, Näpfe, Futter, Decken, was man eben so braucht.«
»Eine Sicherung fürs Auto?«
»Klar.«
»Spielsachen? Bürsten? Eine Nagelschere?«
»Spielsachen und eine Bürste, ja. Mit der Pediküre warte ich, bis wir uns besser kennen.«
Sie lacht auf. »Hast ja recht. Ich bin nur auch schon so aufgeregt. Ein bisschen ist es doch, als würde ich morgen ein Enkelkind bekommen. Wenn auch ein sehr haariges.«
»Ähhh…« Ich winde mich unwohl. Meine Mutter wünscht sich Enkelkinder, das weiß ich, und es tut mir weh, dass ich ihr diesen Wunsch wohl nicht erfüllen werde.
Meine Mutter beachtet meine Reaktion nicht. Sie macht direkt weiter mit ihrem Fragenkatalog. »Wie soll er denn heißen, der Kleine? Hast du dir das schon überlegt?«
»Natürlich. Ich habe ihn Sputnik genannt. Das habe ich dir doch schon erzählt.«
»Ah ja, richtig.« Sie lacht. »Wie bist du nur auf diesen Namen gekommen?«
»Hm, ich habe recht lange überlegt. Ursprünglich hieß er Justin.« Ich gebe ein würgendes Geräusch von mir. »Den Namen wollte ich auf keinen Fall behalten. Ich wollte etwas, das besser zu ihm passt – und das nicht so furchtbar ist. Die zündende Idee hatte ich erst, als ich mich mal mit einer Tierpflegerin über ihn unterhalten habe. Sie hat seinen Namen deutsch ausgesprochen. Das klang echt verstörend. Aber ich habe mal gelesen, dass man, wenn man Hunden einen neuen Namen gibt, am besten die alten Vokale beibehält. Ja, und da schoss mir dann eben Sputnik durch den Kopf. Der Name passt perfekt zu ihm. Er sieht einfach aus wie Sputnik.«
»Und du hast dir das wirklich gut überlegt? So ein Hund aus dem Tierheim… Da weiß man nie, was man bekommt.«
»Mama, wir hatten doch schon immer Hunde«, entgegne ich genervt. Die Entscheidung, mir einen Hund zu nehmen, habe ich mir schließlich nicht leicht gemacht. Ich habe viel recherchiert, unendlich viele Bücher gewälzt und lange darüber nachgedacht, welcher Hund der richtige für mich sein könnte. Rasse oder Mischling, Züchter oder Tierheim, Welpe oder Erwachsener, Hündin oder Rüde. Letztlich ist es ein erwachsener Mischlingsrüde aus dem Tierheim geworden.
»Sicher, aber das waren alles Rassehunde.«
»Auch die können ganz schön bekloppt sein. Denk nur an Fee.«
Meine Mutter seufzt. »Die gute Fee.«
»Sie war ein lieber Hund«, stimme ich zu. »Aber auch ganz schön schwierig.«
»Ja, nun, da hast du schon recht.«
»Und Sputnik ist toll. Wirklich. Wir werden perfekt zusammenpassen.«
Bei den Gedanken an den lustigen Hund muss ich lächeln. Ich bin Sputnik verfallen, als ich vor Wochen das erste Mal ins Tierheim gekommen bin. Ich glaube, er ist der hässlichste Hund der Welt. Nicht groß, nicht klein, zottig und mit undefinierbarer Fellfarbe hat er mich angegrinst – ich schwöre, er kann wirklich grinsen! – und um mich war es geschehen. Verrückterweise scheint diese Liebe auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn nachdem wir uns ein bisschen beschnuppert hatten – oder eher: er mich – war da sofort irgendwie eine Verbindung zwischen uns.
»Na schön«, meint meine Mutter. Ich kann nicht einschätzen, ob ich sie wirklich überzeugt habe. Doch meine Entscheidung steht fest. »Und mit deiner Arbeit ist alles geklärt?«, will sie noch wissen.
»Ja, ich kann Sputnik mitnehmen. Meine Chefin mag Hunde und ist schon ganz begeistert von der Idee, dass wir einen Bürohund haben werden. Sie überlegt sogar, ihm eine eigene Kolumne zu geben. Und meine Kollegen haben auch nichts dagegen.«
»Schön. Das ist wirklich viel wert.«
»Ja, ist es.«
»Woran arbeitest du denn momentan?«
»Ich habe einen Artikel über die partielle Mondfinsternis heute Nacht geschrieben.«
»Die was?«
»Den Blutmond«, seufze ich mit Grabesstimme. Ich hasse dieses Wort. Es ist so unnötig dramatisch.
»Ah, ja. Davon habe ich gehört.« Für einen Moment herrscht Stille. Ich wappne mich für das, was jetzt unweigerlich folgen wird. Und richtig, meine Mutter enttäuscht mich nicht. »Ich verstehe wirklich nicht, wieso du für dieses Käseblatt arbeitest.«
»Es ist kein Käseblatt«, widerspreche ich automatisch. »Die Schwarzwald-Presse ist eine seriöse Lokalzeitung.«
»Aber du wolltest so hoch hinaus! Du wolltest für eine wichtige Zeitung schreiben. Etwas bewegen.«
Ich klemme mir das Handy zwischen Ohr und Schulter und rupfe ein paar Grashalme aus. »Ich hab es doch versucht. Und es hat nicht geklappt.«
»Du hättest nicht so schnell aufgeben dürfen und es weiter versuchen müssen! Irgendwann hätte es schon noch funktioniert.«
Ich zerpflücke einen Grashalm in kleinste Stückchen und sage nichts. Meine Mutter hat einfach überhaupt keine Ahnung, was es bedeutet, einer von zahllosen Jungjournalisten zu sein, die sich alle um dieselben Jobs prügeln.
»Schau, Lukas, ich meine es doch nur gut mit dir…«
»Ich weiß, Mama.« Ich seufze. »Aber es ist ein guter Job, wirklich. Auch wenn es nicht das ist, was ich ursprünglich wollte. Ich kann auch hier etwas bewegen.«
»Indem du über die Mondfinsternis oder über Kaninchenzüchtertreffen schreibst?«
»Ich habe noch nie über Kaninchenzüchtertreffen geschrieben!«, werfe ich vehement ein. Gut, gestern habe ich über die Eröffnung des Streichelzoos geschrieben, den sich Kindergarten und Altenheim teilen, und ja, es gab Kaninchen. »Und selbst wenn, wäre daran nichts verwerflich. Tatsächlich aber plane ich eine große Artikelserie über Klimaschutz in der Region. Angefangen habe ich mit einem Bericht über das neue Solarzellenprojekt. Das ist das Prestigeprojekt des Bürgermeisters, aber es gibt auch einige kritische Stimmen. Das werde ich ausweiten. Was wird schon für den Klimaschutz getan, was kann man besser machen? Das ist so ein wichtiges und vielseitiges Thema. Es passiert ja schon viel im Kleinen, das möchte ich aufzeigen. Und gleichzeitig müsste so viel mehr passieren. Und größer. Mit der Solaranlage fängt es an, aber es gibt so viel mehr. Der Ausbau des öffentlichen Verkehrs zum Beispiel, der in der letzten Wahl versprochen wurde. Passiert ist aber nichts. Stattdessen wird eifrig an der Bundesstraße gebaut. Und dann möchte ich über die Forstwirtschaft hier schreiben, immerhin sind wir doch mitten im Schwarzwald. Generell finde ich die Art, wie wir Natur nutzen, ein wichtiges Thema.«
»Hmm«, macht meine Mutter nachdenklich. »Das klingt gut.«
»Ja. Es ist wichtig.« Dass Regina, meine Chefin, dem Projekt noch nicht zugestimmt hat, verschweige ich wohlweislich. Sie ist generell skeptisch, wenn ich mir – wie sie meint – zu viel vornehme oder Themen vorschlage, die unsere Leserschaft angeblich nicht interessieren. Oder wenn ich Themen in den Blick nehme, die wichtigen Leuten unangenehm werden könnten. In solchen Fällen gibt sie mir gerne das Gefühl, dass ich die Zusammenhänge hier nicht verstehe. Nach drei Jahren fühle ich mich dann noch immer fremd im Ort.
Laute Stimmen lassen mich aufsehen. Die wettergegerbten Frauen sind dazu übergegangen, Karten zu spielen. Offenbar geht das nicht ohne lautstarke Zwischenrufe und Spötteleien.
»Wo bist du denn?«, erkundigt sich meine Mutter. Die Stimmen sind wohl bis zu ihr durchgedrungen.
»Am See.«
»Ah, wie schön! Dann genießt du den letzten Tag in Freiheit?«
Während unseres Gesprächs habe ich ganz vergessen, weswegen ich eigentlich hier bin. Jetzt kommt der Gedanke an die Cruising Area mit einem Schlag zurück. Wieder glühen meine Ohren und ich bin heilfroh, dass meine Mutter es nicht sehen kann. »Äh, ja.«
»Sehr schön. Ich will dich auch gar nicht weiter stören.«
»Okay. Geht es dir und Papa gut?«
»Ja, natürlich. Aber du musst uns bald mal wieder besuchen. Wir haben dich schon ewig nicht mehr gesehen. Und wir wollen deinen Hund so bald wie möglich kennenlernen!«
Ich lächle. »Geht klar. Ich schaue, was sich machen lässt.«
»Sehr schön. Bis bald, Lukas! Hab noch einen schönen Abend!«
»Tschüss, Mama! Du auch. Und grüß Papa!«
»Mache ich. Tschüss!«
Ich lege auf und lasse meinen Blick über die Liegewiese schweifen. Inzwischen hat sie sich deutlich geleert. Die Sonne ist bereits hinter den Hügeln in meinem Rücken verschwunden, Abendstimmung macht sich breit. Nur noch wenige Leute sind im Wasser. Wo niemand schwimmt, ist die Oberfläche des Sees spiegelglatt und wunderschön.
Das Naturschauspiel droht, mich wieder melancholisch zu machen. Ich wünschte, ich hätte jemanden, mit dem ich solche Momente teilen kann. Um mich nicht wieder in diesen Gedanken zu verlieren, öffne ich die Leseapp auf meinem Handy und rufe den Krimi auf, den ich letztens zu lesen begonnen habe. Solange es noch hell ist, wird sich auf der Lichtung nichts tun, das weiß ich. Es macht keinen Sinn, zu früh in den Wald zu stapfen. Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass selbst nach Einbruch der Dunkelheit niemand auftauchen wird. Ein Teil von mir hofft vielleicht sogar, dass dem so sein wird.
Obwohl er spannend ist, kann ich mich nicht so recht auf meinen Krimi konzentrieren. Zu der Nervosität ist inzwischen eine unterschwellige Erregung hinzugekommen. Ich bin so verdammt aufgeregt.
Als ich nach einiger Zeit aufsehe und um mich herum kaum noch etwas erkennen kann, nehme ich das als Zeichen, um aufzubrechen. Ich ziehe meine lange Hose über die inzwischen getrocknete Badehose und schlüpfe in mein Shirt. Dann gehe ich zurück zu meinem Auto und verstaue mein Badetuch.
Jetzt ist es also so weit. Ich atme tief durch. Das Herz klopft mir bis zum Hals, als ich zurück an den See gehe. Je näher ich ihm komme, desto lauter wird das Quaken der Frösche und das Surren von Grillen im Gras. Geräusche, die ich kenne und die ich mag, die mir jetzt aber unheimlich sind. Inzwischen ist ein leichter Wind aufgekommen und mich fröstelt auf meinen bloßen Armen. Wahrscheinlich liegt das aber vor allem an meinen Nerven.
Ich schlage einen anderen Weg ein als den zur Liegewiese, gehe stattdessen zum FKK-Bereich und dann, dahinter, in den Wald. Man sollte meinen, es wäre still, doch das ist es nicht. Immer wieder raschelt es und dann und wann singt ein Vogel. Eine Nachtigall? Ich habe keine Ahnung von Vogelstimmen.
Mit meinem Handy als Taschenlampe folge ich einem halb von Brombeerranken zugewucherten Waldweg. Gerade bin ich wirklich froh um meine lange Hose, die ich mittags im Büro noch wegen der Hitze verflucht habe. Aber ob ich hier wirklich richtig bin?
Ich bin drauf und dran, wieder umzukehren, als der Weg breiter wird und mich schließlich auf eine Lichtung führt. Sofort wird es heller und ich stecke mein Handy weg. Ein paar Sterne stehen schon am Himmel, doch der Mond überstrahlt sie. Er ist riesig heute Nacht. Riesig, voll und rot. Blutmond, denke ich und dieses Mal erschauere ich bei dem Wort.
Die Lichtung muss mein Ziel sein. Laut der Beschreibungen im Internet soll diese Lichtung das Herzstück der Cruising Area sein. Noch sehe ich allerdings niemanden.
Ich bin allein.
Dieser Gedanke verursacht mir ein ungutes Gefühl. Mitten in der Nacht allein im Wald, um mit jemand Wildfremden Sex zu haben – eigentlich ist das ganz schön dämlich. Und auch nicht ungefährlich.
Ich atme tief durch. Vielleicht sollte ich doch besser wieder umdrehen.
Aus den Augenwinkeln bemerke ich eine Bewegung. Ich wende mich um und plötzlich sehe ich ein grelles Licht. Ich brauche einen Moment, um zu erkennen, dass das das Leuchten eines Handys ist. Eines Handys, das ein Typ in der Hand hält, sodass es ihn beleuchtet. Ich blinzle und beginne, Umrisse im Dunkeln zu sehen. Der Typ lehnt an einem Baum. Seine Augen sind nicht auf das Handy gerichtet, sondern geradewegs auf mich. Und Mann, ist der Typ alt. Alt und schmierig. Das sind nicht mehr charmant angegraute Schläfen, sondern schlohweiße Strähnen, quer über die Glatze drapiert. Er ist sicher jenseits der 70 und dieser Ausdruck in seinen Augen im bläulichen Licht seines Handys ist derartig unheimlich, dass ich automatisch den Kopf schüttle, den Blickkontakt unterbreche und schaue, dass ich davonkomme.
Ich kann nur hoffen, dass er mir nicht folgt.
Mir scheint, das trockene Gras knirscht ohrenbetäubend laut unter meinen Füßen. Alle meine Sinne sind angespannt. Da! War das nicht ein Schritt? Und spüre ich nicht sogar schon den Atem des Alten im Nacken?
Ich werfe einen Blick zurück. Da ist niemand. Und doch rast mein Herz. Meine Erregung ist inzwischen längst verschwunden.
Ich sollte wieder umkehren. Nach Hause fahren. Das hier ist nichts für mich. Das hätte mir eigentlich vorher klar sein müssen. War es vielleicht sogar.
Ein kleiner, jedoch sehr vehementer Teil in mir protestiert, dass ich nicht immer auf meine Ängste hören soll. Schließlich bin ich doch hierhergekommen, um etwas zu wagen. Ich atme tief durch, atme den würzigen Duft des nächtlichen Waldes ein und schließe einen Kompromiss mit mir selbst: Einmal werde ich um die Lichtung herumgehen und dann wieder abhauen, sollte nicht plötzlich jemand Perfektes meinen Weg kreuzen.
Nun, es taucht natürlich niemand Perfektes auf.
Ich stöbere einen weiteren alten Mann mit mehr als dubioser Ausstrahlung auf, vor dem ich gleichfalls die Flucht ergreife, und dann stoße ich auf ein Paar. Ich höre sie, bevor ich sie sehe. Schmatzen und Stöhnen, leise Anfeuerungsrufe.
Ich gehe einen Schritt, einen weiteren, und dann sehe ich sie. Dank des hell strahlenden Mondes kann ich die beiden recht deutlich erkennen. Ein etwas untersetzter Typ lehnt gegen einen Baum. Vor ihm kniet ein breitschultriger Mann, auf dessen Glatze sich das Mondlicht spiegelt. Die eindeutigen Bewegungen seines Kopfes und die schmatzenden Geräusche, die er von sich gibt, lassen keinen Zweifel daran, was er gerade tut.
Höflich will ich mich abwenden – da erkenne ich plötzlich den Mann, der an dem Baum lehnt. Kein Zweifel: Das ist mein Bäcker. Sein Gesicht ist lustverzerrt, die Stirn glänzt von Schweiß so wie sonst, wenn er aus seiner Backstube kommt. Auch wenn er nicht hässlich ist und ich ihn immer ganz nett fand: In diesem Zustand will ich ihn nicht sehen. Im Gegenteil, mir ist die Situation unfassbar peinlich.
Ein Ast knackt unter meinem Fuß, als ich einen Schritt zurück mache. Der Bäcker öffnet die Augen und sieht mich an. Ich nehme an, er erkennt mich, denn er erstarrt. Das irritiert seinen Partner. Immer noch kniend wendet er sich mir zu. Er ist ein gutes Stück jünger als der Bäcker und trägt – getreu der Regel, dass, wenn das Kopfhaar ausfällt, das Barthaar sprießt – Vollbart. Mit einem breiten Grinsen taxiert er mich von oben bis unten, dann macht er eine einladende Handbewegung.
»Komm doch zu uns.« Seine Stimme ist tief und etwas heiser.
Ich bringe ein wackliges Lächeln zustande, schüttle den Kopf – und suche mein Heil in der Flucht.
Die Lichtung lasse ich Lichtung sein, stattdessen schlage ich mich in den Wald. Es dauert eine Weile, bis ich den Weg wiederfinde. Bei meiner Runde um die Lichtung habe ich die Orientierung verloren und auch wenn ich versuche, mich zu beruhigen, fühle ich mich doch unwohl.
Es ist, als wäre ich allein weit und breit. Bei mir ist nur das Geräusch meiner Schritte auf dem Waldboden. Nur manchmal höre ich einen Vogel oder, weit entfernt, ein Auto. Ganz geheuer ist mir dieser Weg nicht.
Erschrocken zucke ich zusammen, als ich plötzlich etwas Neues höre. Ein Rascheln. Ich bleibe stehen, lausche. Erst ist da nichts. Doch dann höre ich es wieder.
Ein Knacken im Unterholz. Eine Bewegung im Dunkeln.
Ein Urinstinkt in mir springt an und mein Herz schlägt schneller. Ich fahre herum. Hektisch versuche ich zu erkennen, woher das Geräusch kam, doch ich sehe nichts. Eine Wolke hat sich vor den Mond geschoben und was vorhin noch ein deutlich erkennbarer Waldweg war, ist jetzt ein Meer aus finsteren Schatten. Mir ist unheimlich zumute und ich fühle mich beobachtet.
Ich versuche, meine fliegenden Gedanken zur Ruhe zu zwingen, doch es gelingt nicht. Mein Herz rast, meine Ohren dröhnen. Ich sehe nichts, höre nichts, doch ich weiß: Ich bin nicht allein.
Da ist es wieder: Es raschelt. Kein Lufthauch ist zu spüren, der mich das Geräusch dem Wind zuschreiben lassen könnte. Dort ist jemand. Etwas. Und beobachtet mich. Wartet. Lauert.
Nur ein weiterer Kerl, versuche ich mich zu beruhigen. Doch es gelingt mir nicht. Wieso macht er nicht auf sich aufmerksam wie der Alte mit seinem Handy? Wieso versteckt er sich und lauert mir auf?
Mit zitternden Fingern fische ich mein Handy aus meiner Hosentasche. Wenn ich nicht über eine Baumwurzel stolpern will, brauche ich mehr Licht.
Noch ein Rascheln. Diesmal war es wohl wirklich der Wind. Mit sich bringt er ein lang gezogenes Ächzen. Auch wenn ich weiß, woher das kommt, läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Vor Schreck zittern meine Hände noch stärker und ich lasse mein Handy fallen.
Mein Herz rast, als ich auf die Knie sinke, um nach meinem Handy zu tasten. In diesem Moment verzieht sich die Wolke, die den Mond verdeckt hat. Im Mondlicht leuchten Augen auf, keine zwei Meter von mir entfernt. Sie starren mich an.
Raubtieraugen.
Ich schaffe es gerade noch, mein Handy einzusammeln, bevor ich endgültig fliehe.