Читать книгу Liebe in den Augen des Wolfs - Iris W. Maron - Страница 13
Kapitel 8
ОглавлениеIch schlafe schlecht in dieser Nacht. Hannos regelmäßiger Atem beruhigt mich nicht, sondern erinnert mich permanent daran, dass ich nicht allein bin. Im Moment wäre ich es aber gerne. Gleichzeitig fühle ich mich so lächerlich, weil ich mir doch eigentlich nichts mehr wünsche, als meiner Einsamkeit zu entfliehen. Und jetzt ist da endlich ein Mann und er ist warm und lieb und er mag mich – und ich wäre lieber allein.
Als der Wecker auf Hannos Nachttischchen halb acht anzeigt, befinde ich, dass es jetzt okay sein muss, wenn ich aufstehe. Leise, um Hanno nicht zu wecken, schlage ich die Decke zurück und verlasse das Bett. Meine Pants klaube ich vom Boden auf, dann mache ich mich auf die Suche nach Hemd und Pullover, die ich im Wohnzimmer finde. Meine Hose weiß ich noch im Bad. Sobald ich dort angekommen bin, atme ich auf und verachte mich dafür.
Nach einer ausgiebigen Dusche und nachdem ich mich abgetrocknet habe, schlüpfe ich notgedrungen zurück in meine Pants von gestern – was ich wirklich hasse. Ich putze mir noch ausgiebig die Zähne und ziehe auch die restlichen Klamotten an, doch dann fällt mir nichts ein, womit ich weiter Zeit schinden könnte. Ich verlasse also das Bad wieder – und laufe prompt gegen Hanno. Das Lächeln, mit dem er mich begrüßt, ist mir furchtbar unangenehm.
»Hey«, brummt er und legt seine Arme um mich. »Guten Morgen.«
»Morgen, du Bär«, nuschle ich, lehne mich leicht gegen Hanno und versuche, nicht daran zu denken, dass sich das irgendwie falsch anfühlt.
Hanno gluckst leise, was ich mehr spüre als dass ich es höre. »Ich hab Frühstück gemacht, nachdem du mich so schnöde allein gelassen hast. Setz dich doch schon mal hin, ich gehe derweil schnell unter die Dusche.«
Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Hanno hat sich diesen Morgen sicher anders vorgestellt. Gemeinsam aufwachen. Einander noch verschlafen in die Augen sehen und gemeinsam merken, dass man diese Nacht nicht allein verbracht hat. Sich küssen und sich dabei nicht um den Morgenatem scheren. Miteinander kuscheln und sich in der Schlafwärme des anderen verlieren. Da fortfahren, wo man in der Nacht aufgehört hat und miteinander schlafen. Alles Dinge, die ich selber liebe – die ich aber nicht kann, wenn ich den Mann neben mir nicht auch wirklich will.
Hanno umfasst mein Kinn und neigt meinen Kopf ein Stück nach hinten. Dann haucht er mir einen zahmen Kuss auf die Lippen, ehe er im Badezimmer verschwindet. Ich marschiere unterdessen in die Küche, wo Hanno schon den Tisch gedeckt hat. So wie das aussieht, war ich ganz schön lange im Bad. Auf dem Tisch steht eine Pfanne, in der Rührei unter einem Deckel warm gehalten wird. Es gibt Käse und Marmelade und Hanno hat sogar Gurke, Paprika und Tomate aufgeschnitten und hübsch arrangiert. Offensichtlich hat er sich gemerkt, dass ich Vegetarier bin. Vor allem aber gibt es Kaffee und davon nehme ich mir gleich eine Tasse.
Als ich meine Tasse halb leer getrunken habe, kommt Hanno. Er schenkt sich ebenfalls ein und nimmt gegenüber von mir Platz.
Während des Frühstücks sind wir beide schweigsam. Hanno ist wohl kein Morgenmensch, sondern schläft noch so halb. Und ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll. Ich weiß noch nicht einmal, was ich denken soll.
»Vermisst du Sputnik?«, fragt Hanno irgendwann.
»Hm? Äh, ja, es ist merkwürdig, ihn so lange nicht zu sehen«, antworte ich und fühle mich schlecht, weil ich heute noch kaum an meinen Hund gedacht habe.
»Wir sollten die beiden auch bald abholen. Wahrscheinlich treiben sie Jana schon in den Wahnsinn.«
Ich schmunzle und greife Hannos Gedanken dankbar auf. »Ja, wer weiß, auf welche blödsinnigen Ideen sie zusammen kommen.«
»Eben.«
Und so beenden wir unser Frühstück rasch, um zu Jana zu fahren und unsere Hunde abzuholen.
Bei Jana angekommen, gibt es ein großes Hallo. Sputnik und Ernst begrüßen uns, als hätten sie uns Wochen nicht gesehen – und wahrscheinlich fühlt es sich für die beiden auch so an. Und so finde ich mich auf den Knien in Janas Flur wieder, während Sputnik mit den Hinterbeinen auf meinem Schoß steht und mir das Gesicht abschleckt.
»Wie war es denn?«, will ich von Jana wissen, mein Gesicht aus Sputniks Reichweite drehend, ihn aber dennoch streichelnd.
»Völlig problemlos. Die drei kommen wirklich gut miteinander klar. Sie haben noch ordentlich getobt, aber in der Nacht haben sie dann erschöpft gepennt.«
»Super. Danke noch mal!«
»Kein Ding. Hattet ihr denn einen schönen Abend?«
»Ja, sehr«, antwortet Hanno mit einem sanften Unterton in der Stimme, bei dem ich unweigerlich schlucken muss.
»Das ist schön. Mögt ihr denn noch einen Spaziergang zusammen machen?«
Ich hatte schon gefürchtet, dass Jana so etwas fragt. Normalerweise wäre ich mit Freuden dabei, aber jetzt muss ich wirklich allein sein. Ich muss nachdenken und mir darüber klar werden, was ich fühle und was ich will. Und was nicht.
»Ich kann nicht«, sage ich leise und wage es nicht, den beiden dabei ins Gesicht zu sehen. Hoffentlich fragen sie nicht nach meinem Grund. Mir fällt keine Ausrede ein. Ich will und ich kann nicht lügen.
»Schade«, meint Jana. »Und du?«
»Ich komme gerne mit«, antwortet Hanno. Vielleicht bilde ich es mir auch ein, aber ich finde, er klingt ein bisschen enttäuscht.
»Schön!«, ruft Jana und schlüpft schnell in ihre Schuhe und in ihre Jacke.
Ich schiebe derweil Sputnik von mir und greife nach seinem Geschirr. Sobald er startklar ist, richte ich mich auf. »Ich muss dann mal los…«
»Okay, mach es gut«, meint Jana und umarmt mich zum Abschied.
»Mache ich. Und danke noch mal!«
»Gerne. Jederzeit wieder!«
Dann stehe ich Hanno gegenüber und fühle mich wieder so betreten. Hanno jedoch lässt keine Befangenheit zu, sondern schließt mich sofort in seine Arme.
»Tschüss«, murmelt er und dann küsst er mich.
Ich weiß nicht recht, ob ich seinen Kuss erwidere.
»Bis morgen!«, ruft Jana mir noch hinterher, als ich mich schon zum Gehen wende.
»Morgen?«
»Hundeschule.«
»Ah ja«, erwidere ich, denn das hatte ich tatsächlich vergessen. Dann schnappe ich Sputnik und gehe los, ohne mich noch einmal umzusehen. Mit jedem Schritt wächst meine Erleichterung.
Daheim angekommen, betrete ich das Haus zu Sputniks Irritation nicht, sondern gehe mit ihm zum Auto.
»Lass uns noch in den Wald fahren«, sage ich wie zur Erklärung zu Sputnik und frage mich, wann ich einer von den Menschen geworden bin, die sich auf offener Straße mit ihren Hunden unterhalten, als würden sie erwarten, dass diese antworten.
Sputnik jedenfalls antwortet nicht, hüpft aber begeistert ins Auto, als ich ihm die Tür öffne. Nachdem ich ihn angeschnallt habe, setze ich mich auf den Fahrersitz und fahre los. Ein konkretes Ziel habe ich nicht vor Augen. Ich weiß nur, ich brauche Bewegung und will nirgends sein, wo ich versehentlich Hanno und Jana über den Weg laufen könnte.
Auf gut Glück fahre ich los. Ich merke, dass ich meine Standardroute Richtung Wald nehme – nicht weiter verwunderlich, für Varianten bin ich gerade zu verworren. Außerdem mag ich diese Strecke. Man kommt rasch im Wald an, fährt auf kurvigen Straßen zwischen dunklen Bäumen, die perfekt zu meiner aktuellen Stimmung passen. Weil ich dennoch das Gefühl habe, etwas Neues zu brauchen, fahre ich die Straße ein Stück weiter entlang, als ich es sonst tue. Nach einiger Zeit komme ich an einem Rastplatz an, wo ich parke. Eine Wiese liegt vor mir, darauf ein hölzerner Rasttisch mit Bank. Hinter mir beginnt der Wald.
»Hier ist es doch ganz schön, hm?«, frage ich Sputnik, der sich wieder mit seiner Antwort zurückhält. Als er dann jedoch begeistert gen Wald zieht, sobald ich ihn aus dem Auto gelassen habe, weiß ich, dass auch Sputnik zufrieden ist.
Wir finden einen Forstweg, dem wir in den Wald hinein folgen. Zum Glück hat es irgendwann in der Nacht aufgehört zu regnen. Immer noch hängen schwere dunkle Wolken über dem Schwarzwald und es ist empfindlich kalt. Es riecht nach feuchten Nadeln und nassem Waldboden.
Erst jetzt wird mir bewusst, dass meine Kleidung und meine Schuhe noch genau so wenig outdoortauglich sind, wie sie es gestern waren. Zum Glück sind letztere wenigstens über Nacht getrocknet. Ich reibe mir die Hände und schlage ein etwas flotteres Tempo an. Sputnik hüpft begeistert neben mir her, läuft mal ein Stück vor und kehrt dann wieder zu mir zurück.
Meine Gedanken wandern zurück zur letzten Nacht. Ich kenne mich gut genug um zu wissen, dass mir Sex ohne Gefühle keine wirkliche Befriedigung gibt. Den schlimmsten körperlichen Hunger stillt er, doch das viel größere seelische Verlangen tritt nur umso deutlicher hervor. Obwohl ich das weiß, habe ich mit Hanno geschlafen. Weil ich mich so sehr nach Nähe sehne und dachte, dass meine Zuneigung zu ihm ausreicht, um diese Sehnsucht zumindest ein bisschen zum Schweigen zu bringen. Tat sie nicht. Ich fühle mich jetzt nur noch viel einsamer. Und so verkorkst. Weil er da ist und ich ihn haben könnte und er toll ist und ich ihn doch nicht will.
Meine Augen brennen, ich weiß gar nicht, wie lange schon, und in meinem Hals lauert ein unheilvolles Kratzen. Meine Hände sind klamm geworden, obwohl ich sie in den Jackentaschen vergraben habe. Ich habe das Gefühl, ich kann spüren, wie meine Magensäure gegen die Magenwände ätzt.
»Verdammt, Sputnik, wieso?«, frage ich und meine Stimme klingt wie ein Winseln.
Und dann renne ich los. Als wäre jemand hinter mir her, rase ich den Forstweg entlang. Mit jedem Schritt werde ich schneller, bis ich das Gefühl habe, ich würde halb fliegen. Meine Schritte sind groß und werden vom Waldboden gedämpft, sodass sie kaum zu hören sind. Laut hingegen ist mein Atem. Ein rhythmisches Keuchen und Schnaufen im Wald. Wenigstens kein Schluchzen.
Sputnik springt erst um mich herum, an mir hoch, hält meinen Sprint für ein Spiel. Doch es dauert nicht lange, dann passt er sich meinem Tempo an. Er läuft an meiner Seite, genau neben mir. Immer wieder wirft er mir dabei einen Blick zu, ist bei mir und achtsam. Es ist, als würde er nur mich wahrnehmen und nicht die Bäume und Sträucher, die Vögel und Mäuse um uns herum. Gemeinsam laufen wir durch den Wald. Ich möchte weinen und lachen gleichzeitig.
Ich renne, bis mir die Lungen brennen. Und noch länger.
Irgendwann werden meine Schritte langsamer. Sputnik passt sich auch meinem neuen Tempo an. Eine Weile joggen wir noch den Weg entlang, bis ich schließlich wieder zum Gehen komme und letztlich stehen bleibe. Mein Atem geht schnell und abgehackt. Kalt und klamm ist mir definitiv nicht mehr.
Sputnik setzt sich neben mich und sieht mich aufmerksam an. Ich sinke auf die Knie und streichle meinen Hund dankbar, was er mit einem kleinen Freudentanz quittiert. Kraul mich hier, nein da, ja hier, genau da, so ist es gut!, sagt Sputnik mit seinem ganzen Körper.
»Du Schatz, du«, murmle ich und vergrabe mein Gesicht in Sputniks borstigem Fell. »Ich bin so froh, dass ich dich habe.«
Sputnik leckt mir über das Gesicht und scheint mir zuzustimmen.
»Was hältst du davon, wenn wir uns ein Plätzchen suchen, um Pause zu machen?«
Sputnik wedelt mit dem Schwanz und auch das werte ich als Zustimmung. Ich stehe also ächzend und immer noch schwer atmend auf und sehe mich um. Keine Ahnung, wie tief wir im Wald sind. Es fühlt sich ziemlich tief an. Menschen sind wir auf dem ganzen Weg keinen begegnet. Das liegt wahrscheinlich am Wetter. Es sieht immer noch nach Regen aus und da ist nur den wenigsten nach Spaziergängen und Wanderungen.
»Wo wollen wir denn hin?«
Ich sehe mich um und entdecke auf den ersten Blick nichts, wo ich mich niederlassen möchte – zumal der Boden noch reichlich feucht ist von den Niederschlägen der vergangenen Nacht. Also gehe ich wieder los, langsam dieses Mal, in der Hoffnung, dass mich bald ein hübsches Plätzchen anspringt. Ich würde mich nur ungern mitten auf den Weg setzen.
Sputnik und ich haben Glück. Es dauert nicht lange und wir kommen an einen schmalen Pfad, der vom Forstweg wegführt. Er ist zu Beginn recht steil und besteht überwiegend aus Wurzeln, die quasi Treppen formen. Auch wenn meine Schuhe nicht für solche Wege geeignet sind, erklimme ich mit Sputnik diesen Pfad. Ihm scheint es jedenfalls zu gefallen. Er klettert munter voran.
Besonders weit sind wir noch nicht vorgedrungen, da hält Sputnik an.
»Was siehst du denn?«, will ich wissen und hoffe inständig, dass es kein Reh ist. Wenn Sputnik mir jetzt wieder abhaut, würde ich nicht gut damit klarkommen.
Ich komme näher und stelle fest, dass kein Reh Sputniks Aufmerksamkeit fesselt, sondern ein großer Baum. Eine Buche, wenn mich nicht alles täuscht. Knorrig und mit zerklüftetem Stamm steht sie da, das ausladende Blätterdach mit dem goldgelben Laub zwingt die anderen Bäume zu respektvollem Abstand.
»Das hast du fein gemacht«, lobe ich meinen Hund und werfe ihm auch gleich ein Leckerli zu, das er aus der Luft schnappt.
Ich gehe auf die Buche zu und lege eine Hand auf den silbrigen Stamm. Dick wie er ist, muss der Baum schon ziemlich alt sein. Mit einem Seufzen lasse ich mich den Stamm hinabgleiten und lehne mich mit dem Rücken dagegen. Ein bisschen ruckle ich hin und her, um meine Regenjacke unter meinen Hintern zu ziehen. Auch wenn der Boden hier halbwegs trocken wirkt, ich habe keine Lust auf Flecken auf der Hose und auf einen nassen Allerwertesten.
Sputnik setzt sich neben mich und sieht sich zufrieden um. Sicherheitshalber leine ich ihn an – ich will einfach nicht riskieren, dass ihm unsere Rast zu langweilig wird und er sich auf und davon macht. Momentan sieht er jedoch nicht danach aus. Er sitzt neben mir und lässt sich die Ohren kraulen.
Ich versuche, auf die Geräusche des Waldes zu achten, auf das Rascheln im Laub, das Zwitschern der Vögel, das Hecheln meines Hundes, und meine Gedanken auszuschalten. Doch es gelingt mir nicht. Jetzt, wo ich hier sitze, kehrt mit aller Macht das zurück, wovor ich vorhin so erfolgreich davongelaufen bin. Ich sehe Hanno vor mir, sein Lachen und seine Lust und diesen Ausdruck in seinem Blick. Je präsenter er mir wird, desto stärker nagt meine Einsamkeit an mir. Wieso bin ich nicht in ihn verliebt, noch nicht einmal ein bisschen verknallt? Ich mag Hanno. Hanno wäre perfekt. Aber da ist nichts. Nur Leere.
Ich schlinge die Arme um meine Beine und lege den Kopf auf den Knien ab. Das Brennen in den Augen und das Kratzen im Hals, sie sind zurück. Und dann kommen die Tränen. Nicht bloß eine einzelne Träne, die elegant über meine Wange rinnt, sondern ganze Sturzbäche. Mit sich führen sie japsendes Schluchzen und eine triefende Nase. Erleichterung bringt dieser Ausbruch jedoch nicht, sondern nur immer mehr Hoffnungslosigkeit.
Ich werde einsam sterben. Und ich bin selbst schuld daran. Weil ich unfähig bin. Immer wieder hämmert mir dieser Gedanke durch den Kopf.
Ein Stupsen gegen meinen Arm bringt mich irgendwann dazu, den Kopf zu heben. Ich erwarte, Sputnik zu sehen, als ich aufblicke. Sputnik, der neben mir sitzt und fröhlich hechelt und sich langweilt. Der weitergehen will, oder mich vielleicht ablenken. Doch es ist nicht Sputnik, der mich angestupst hat.
Durch den Tränenschleier hindurch sehe ich in die hellen Augen des Wolfs.
Es dauert einen Moment, bis mein Körper auf diese Erkenntnis reagiert. Dann jedoch beginnt mein Herz zu rasen und ich zucke erschrocken zurück. Weit komme ich jedoch nicht, denn der Baumstamm in meinem Rücken hindert mich daran. Genauso heftig atmend wie vorhin nach meinem Sprint starre ich den Wolf an. Und er erwidert meinen Blick unverwandt.
Ich wünschte, ich könnte sagen, es wäre die Vernunft, die mich letztlich dazu bringt, meinen Blick abzuwenden – schließlich könnte das Raubtier mein Starren als Provokation auffassen. Tatsächlich jedoch ist es mein Hund. Sputnik rast plötzlich auf den Wolf zu und begrüßt ihn auf Hundeart, indem er direkt an dessen Hinterteil schnüffelt.
Der Wolf wendet sich Sputnik zu und begrüßt ihn ebenfalls. Dabei ist er so freundlich, wie er das bei unserer letzten Begegnung auch war. Auf Sputniks Spielaufforderung geht er jedoch nicht ein. Stattdessen kommt er wieder zu mir. Jeden Schritt beobachte ich mit größter Anspannung. Bei mir angekommen, stupst der Wolf noch einmal gegen meine Hand und schnüffelt an mir. Mein Herz rast nach wie vor und ich bin starr vor Schreck. Ein Hasenfuß war ich wohl schon immer und jetzt fühle ich mich tatsächlich wie ein Kaninchen vor, nun ja, einem Wolf.
Der Wolf hat seine Inspektion inzwischen beendet und setzt sich neben mich, lehnt sich, wie ich, gegen die Buche. Aus halb geschlossenen Augen sieht er in den Wald und ignoriert Sputnik, der den Versuch immer noch nicht aufgegeben hat, ihn zum Spielen zu bewegen, und eifrig um ihn herumscharwenzelt. Wenn Sputnik zu aufdringlich ist, dreht der Wolf nur den Kopf zur Seite, sonst maßregelt er den kleinen Hund nicht. Er wirkt so ruhig und entspannt dabei, dass sich langsam auch mein Herzschlag etwas normalisiert.
Als der Wolf sich schließlich hinlegt und dabei seufzt, wie es auch Sputnik manchmal macht, atme auch ich tief durch. Und irgendwie fühlt sich das großartig an. Ich weiß nicht, was es ist, doch der Wolf strahlt etwas Sanftes aus und eine Ruhe, die auf mich übergreift. Sogar auf Sputnik scheint der Wolf beruhigend zu wirken, denn er legt sich neben meine Füße, seinen Hintern dem Wolf zugewandt. Der bewegt daraufhin seinen Kopf ein paar Zentimeter zur Seite, was mich schmunzeln lässt.
»Was bist du nur für ein verrücktes Tier«, wispere ich.
Die Ohren des Wolfs zucken bei meinen Worten, sonst regt er sich nicht. Die Augen hat er geschlossen und er atmet tief und regelmäßig. Er ist wunderschön.
Erst jetzt bemerke ich, wie viele Farben sein Fell hat. Beim letzten Mal dachte ich, er wäre einfach nur grau, so wie ein Wolf das nun einmal ist, doch da habe ich mich gründlich getäuscht. Am Rücken, um die Wirbelsäule herum – da, wo Schäferhunde ihren Sattel haben – ist er fast schwarz. Seine Schnauze ist hell, fast weiß, was einen hübschen Kontrast zur schwarzen Nase schafft. Am Schnauzenrücken und an den Ohren ist sein Fell rötlich, über den Augen ist eine der wenigen Stellen, die tatsächlich richtig grau ist. Auch hier jedoch finden sich die unterschiedlichsten Schattierungen, von ganz dunkel bis ganz hell. Diese Farben ziehen sich auch durch sein restliches Fell, das mal bräunlich ist, mal heller, mal fast silbrig grau. Wahrscheinlich könnte ich ihn stundenlang ansehen und würde doch immer noch neue Nuancen erkennen.
Und er ist groß. Ein starkes, kräftiges Tier. Als ich die Krallen an seinen Pfoten betrachte, schlucke ich unweigerlich. Der Wolf scheint das zu bemerken, denn er öffnet ein Auge und wirft mir einen unergründlichen Blick zu, ehe er sein Auge mit einem erneuten Seufzen der Entspannung schließt.
Ich lächle leicht und schüttle immer noch ungläubig den Kopf.
»Du bist echt ein netter Kerl, hm?«, wispere ich leise, fast tonlos, weil ich den Wolf nicht verschrecken will. Dessen zuckende Ohren verraten, dass er mich hört, doch sonst bleibt er entspannt neben mir liegen. »Wieso bist du denn so zutraulich? Kennst du Menschen? Bist du eine Handaufzucht? Oder vielleicht so ein Wolf-Hund-Hybrid? Weißt du, es ist nicht gut, wenn du so nah zu Menschen kommst. Versteh mich nicht falsch, ich finde es schön, dass du hier bist. Echt schön… Aber wenn du so zutraulich bist, könnten manche Menschen denken, dass du gefährlich bist. Und dann… machen sie vielleicht dumme Dinge.«
Ich seufze und fahre mir mit einer Hand durchs Haar. Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert, wenn der Wolf auf Leute wie Blümle und Binniger zugeht und sie mal eben anstupst.
»Du solltest hier nicht bleiben, weißt du? Es wäre natürlich schön, wenn du hier ein Revier finden würdest, in dem du dich wohlfühlst. Und vielleicht auch eine nette Wölfin, damit du nicht mehr allein bist. Ich fände es auch toll, wenn ihr hier ein Rudel gründen würdet. Aber irgendein Idiot könnte auf die Idee kommen, dich zu jagen. Die Leute können so engstirnig sein.«
Den Gedanken, dass dem Wolf etwas zustoßen könnte, finde ich furchtbar. Wölfe sind zwar streng geschützt, doch zu illegalen Abschüssen kommt es immer wieder. Und wer weiß, ein Wolf, der so wenig scheu ist wie dieser, könnte zum Problemwolf erklärt und offiziell zum Abschuss freigegeben werden.
Ich seufze. »Oder versuch zumindest, die Schafe zu ignorieren, hm? Schaf schmeckt doch bestimmt auch nicht so gut wie Reh. Erst muss man durch diese ganze Wolle durch, das ist doch bestimmt eklig und fusselig im Maul. Und dann sind die Viecher doch sicher zäh. So ein Reh hingegen, das hat viel kürzeres Fell und es ist fit und ständig in Bewegung und bestimmt saftig. Ich esse schon seit Jahren kein Fleisch mehr, aber Wild mochte ich immer gern. Klar müsstest du dich dafür mehr anstrengen, aber du bist ja stark und so ein bisschen Sport ist auch sehr gesund.«
Der Wolf hebt den Kopf und sieht blinzelnd zu mir auf, dann seufzt er und lässt sich auf die Seite fallen. Den Rücken schmiegt er gegen mein Bein, alle viere streckt er von sich. Und ich bin fassungslos und irgendwie auch gerührt über diesen Vertrauensbeweis. Dabei ist mir nur zu bewusst, dass es nicht das normale Verhalten eines Wildtieres ist, das den Wolf so anschmiegsam macht.
Vorsichtig lege ich meine Hand auf sein Fell und streiche über seine Seite. Nur mit den Fingerspitzen berühre ich sein Fell. Es fühlt sich rau an und doch auch weich. Dass der Wolf sich tatsächlich streicheln lässt, erfüllt mich mit einer solchen Ehrfurcht, dass meine Augen wieder zu brennen beginnen.
»Danke, dass du zu mir gekommen bist«, flüstere ich. »Du hast mich wirklich getröstet. Hast du gemerkt, dass ich traurig bin?«
Natürlich antwortet der Wolf nicht. Täte er das, würde ich mir wirklich ernsthafte Sorgen um meinen Geisteszustand machen.
»Weißt du, was das Schlimmste ist?«, flüstere ich nach einer Weile. »Dass ich nicht weiß, ob ich Angst habe oder nicht will. Manchmal ist das so schwer zu unterscheiden.«
Wahrscheinlich bilde ich es mir nur ein, doch mir kommt es vor, als würde der Wolf sich daraufhin noch etwas enger an mich schmiegen.
Wir bleiben noch lange so sitzen, Sputnik, der Wolf und ich. Ein lautes Knurren schreckt uns irgendwann auf. Es kommt nicht von dem Raubtier neben mir und zum Glück auch nicht von einem sich anpirschenden Wolfsrudel – sondern von meinem Magen. Ich habe seit dem Frühstück nichts gegessen und da habe ich schon kaum etwas heruntergebracht. Weinen aber macht mich immer hungrig, genauso wie Sprints im Wald. Ich sollte wohl langsam nach Hause fahren, etwas essen und mich aufwärmen. Den Wolf lasse ich aber nur ungerne zurück. Ich bin ihm so dankbar. Und ich bin immer noch voller Ehrfurcht vor seiner Ruhe, seiner Kraft und seiner Freundlichkeit.
Ich überlege gerade, wie ich aufstehen und mich von dem Wolf entfernen soll, da springt er auf und schüttelt sich. Noch einmal sieht er mich intensiv aus seinen hellen Augen an. Wie vorhin kann ich mich auch jetzt seinem Blick nicht entziehen. Was für eine faszinierende Farbe seine Augen haben. Wie heller Honig sind sie, der sich über einen blassblauen Himmel legt.
So abrupt wie er gekommen ist, dreht sich der Wolf um und trottet davon. Ich weiß nicht genau, was mich dazu bewegt, doch ich fische mein Handy aus der Hosentasche und mache noch schnell ein paar Fotos von dem Wolf. Kurz darauf ist er auch schon im Wald verschwunden. Ob er mein leises »Tschüss« noch hören kann, weiß ich nicht.