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Der Turm
ОглавлениеGenesis 11
Dies sind die Namen der Söhne Noahs:
Sem, Ham und Jafet.
Ihre Nachkommen breiteten sich
über die ganze Erde aus.
Sie entwickelten mit der Zeit
verschiedene Kulturen und Sprachen.10,1ff
Doch zu Anfang zogen sie
gemeinsam von Ort zu Ort
und sprachen alle
ein und dieselbe Sprache.
In jenen Tagen, so erzählt man,
trug es sich zu, dass die Menschen
im Osten ein Land fanden,
Schinar genannt,
ein weites und ebenes Land.
Da sagten sie zueinander.
„Hier wollen wir bleiben.
Auf! Lasst uns aus Lehm
Ziegel formen und brennen
und daraus Häuser bauen!“
Und so nahmen sie Ziegel als Steine
und fügten sie mit Erdharz zusammen.11,3
Aber die Menschen wollten noch mehr:
Sie riefen: „Auf! Lasst uns
eine große Stadt bauen!
Dann bleiben wir für immer zusammen.
Sonst werden wir
in alle Länder zerstreut.“
Und sogleich fingen sie an
und bauten die große Stadt Babel
mit einer mächtigen Mauer ringsum.11,4
Aber die Menschen wollten noch mehr.
Sie riefen: „Auf! Lasst uns
einen hohen Turm bauen,
dessen Spitze bis an den Himmel reicht.
Dann sind wir die Größten.
Und alle Welt rühmt unseren Namen.“
Und sogleich fingen sie an,
und setzten einen Stein auf den andern.
Der Turm wuchs von Tag zu Tag.
Er wurde höher und höher.
Bald ragte er über die ganze Stadt.
Aber die Menschen riefen:
„Höher! Viel höher!
So hoch wie der Himmel!“11,4
Doch Gott im Himmel
sah auf den Turm herab.
Und er sprach zu sich selbst:
„So sind die Menschen.
Sie kennen keine Grenzen
und wollen immer höher hinaus.
Und dies ist erst der Anfang
ihrer Vorhaben.
Bald wird ihnen nichts mehr
unmöglich erscheinen.
Auf! Lasst uns herabfahren
und ihre Sprache vermischen,
sodass keiner mehr den andern versteht.“11,5ff
Und so geschah es.
Bald verstanden sich
die Menschen nicht mehr.
Sie hörten nicht mehr aufeinander
und sprachen nicht mehr miteinander.
Bald sprachen sie nur noch
ihre eigene Sprache.
Da ließen die Menschen
von ihrem gemeinsamen Vorhaben ab.
Nach und nach verließen alle die Stadt
und zerstreuten sich über die Erde.
Der Turm aber blieb unvollendet zurück,
als Mahnmal für künftige Zeiten.
Babel – Verwirrung,
so lautet der Name der Stadt.
Er erinnert bis heute daran,
wie Gott dem Wahn der Menschen
für alle Zeit eine Grenze gesetzt hat.11,9
– – –
Warum treten die Völker
zum Aufstand gegen Gott an?
Warum schmieden sie gemeinsam
vergebliche Pläne?
Ihr Tun führt doch am Ende zu nichts.
Die Herrscher dieser Welt
verschwören sich und lehnen sich auf.
Sie sprechen zueinander:
Auf! Wir wollen
die Fesseln zerreißen
und die Stricke,
die uns angelegt wurden!
Aber Gott im Himmel
lacht über ihre nichtigen Pläne.
Er hält seinen Spott nicht zurück.
So nehmt endlich Verstand an,
ihr Mächtigen auf Erden,
Lasst euch warnen!
Ihr haltet über andere Gericht.
Aber Gott ist Richter auf Erden.
Beugt euch vor ihm
und seid ihm in Ehrfurcht ergeben,
damit sein Zorn
nicht über euch kommt!
Wer auf ihn baut,
ist glücklich zu preisen.
aus Psalm 2
Die Geschichte vom Turmbau zu Babel bildet den Abschluss der Urgeschichte. Sie erzählt von dem gescheiterten Versuch der Menschheit, einen gemeinsamen Neuanfang aus eigener Kraft zu schaffen. Statt des erwarteten Neuanfangs, zeigt sie an einem letzten Beispiel auf, wohin die Menschheit steuert, wenn ihr nicht Einhalt geboten wird.
Ausgangspunkt ist die Erfindung des Ziegelsteins als Voraussetzung für den Städtebau. Damit ist auch der Übergang vom Nomadentum zur Sesshaftwerdung und zur Gründung von weltlichen Machtzentren angezeigt. Mit ihnen ist eine höhere kulturelle Stufe der Menschheit erreicht. Das Streben des Menschen nach mehr Wissen und Können hat ihm tatsächlich erkennbare Fortschritte beschert (vgl. dazu auch 4,21.22; 9,20). Aber es fördert zugleich auch seinen Allmachtswahn und sein Verlangen, sich selbst an Gottes Stelle zu setzen. Dies wird hier eindrucksvoll am Beispiel der Stadt Babel aufgezeigt. Babel gilt in der Bibel als Inbegriff einer gottlosen und selbstherrlichen Stadt, deren Herrscher sich gottgleich über andere Völker hinweggesetzt haben (vgl. z.B. Ps 2 und Dan 4,27). In dem gigantischen Projekt des Turmbaus von Babel kommt das grenzenlose Verlangen des Menschen zum Ausdruck, sich selbst an Gottes Stelle ein Denkmal zu setzen (wörtl. „sich einen Namen machen“, 11,4). Aber die Erzählung in Gen 11 zeigt: Das Projekt des Menschen kann nicht gelingen, auch nicht mit gewaltigen gemeinsamen Anstrengungen. Im Gegenteil: Der Himmel – hier ein Bild für die Welt Gottes – bleibt für den Menschen unerreichbar. Die Tatsache, dass bei diesem Turm auch die Erinnerung an den berühmten babylonischen Tempelturm (Zikkurat) mitschwingt, verschärft noch die Aussage dieser Erzählung: Auch die größten gemeinsamen Leistungen der Menschheit, und seien es Tempeltürme oder andere sakrale Monumente, verfehlen letztlich ihr Ziel, wenn sie den Menschen dazu dienen, sich selbst „einen Namen“ zu machen.
Die stilisierte Form der Erzählung unterstreicht deren Dynamik noch zusätzlich. Im ersten Teil ist es der dreifache Selbstaufruf der Menschen, der ihr Vorhaben und ihre ungeheuerliche Vermessenheit von Satz zu Satz steigert, wobei Gott nicht einmal erwähnt wird. Ein Ausdruck extremer Gottvergessenheit!
Erst im zweiten Teil wird der Blick auf Gott gelenkt. Analog zum Selbstaufruf der Menschen spricht Gott: „Auf, lasst uns herabfahren.“ Sein Wort beschreibt die gegenläufige Richtung: So tief muss sich Gott herabbeugen, um den Turm überhaupt wahrzunehmen. So lächerlich und verschwindend klein ist das menschliche Machwerk aus göttlicher Perspektive!
Am Ende erreichen die Menschen genau das, was sie befürchtet haben: Sie können nicht zusammen bleiben. Die Urgeschichte endet mit einer unausgesprochenen Frage: Kann es für diese zerrissene Menschheit überhaupt noch Zukunft und Hoffnung geben?