Читать книгу Mirabella und die Götterdämmerung - Isabelle Pard - Страница 13
11 – Thorheiten
ОглавлениеOdin sah Mirabella fragend an, sie zögerte einen Moment und schüttelte den Kopf, sie hatte keine neuen Informationen für ihn. Gerne hätte sie noch mit Baldur gesprochen, aber Odin wollte offensichtlich mit ihm reden. Sie verabschiedete sich also und schloss die Tür. Nach wenigen Schritten blieb sie stehen, holte spontan ihre Tarnkappe hervor, die sie immer mit sich trug, auch wenn sie heute lange überlegt hatte, ob sie diese zu den Zwergen mitnehmen sollte. Schnell streifte sie die Kappe über, schlich unsichtbar zurück zur Tür und presste ihr Ohr ans Schlüsselloch, welches ein altes großes mit einer richtigen Öffnung war. Leise aber deutlich hörte sie die Stimmen der beiden Götter.
Odin blickte ernst zu Baldur. „Was wissen die Zwerge?“
„Nun, sie fragen sich, ob wir für einen Krieg rüsten, wieso Loki die Riesen unterstützt. Ich habe versucht, sie zu beschwichtigen, ihnen aber auch zu verstehen gegeben, dass der Süden nachzieht.“
„Hat sich Ragnars Aussage bestätigt?“
Baldur nickte. „Unsere Agenten haben die Aufrüstung im Süden bestätigt. Sie werden dich im Detail unterrichten.“
Mirabella erschrak innerlich. Hatte Ragnar die Informationen vom Geheimbund an Odin weitergegeben? Spielte ihr eigener Bruder falsch? Ihr wurde es übel. Wenn er den Geheimbund verriet, waren sie alle verloren. Ungläubig hörte sie weiter zu.
„Sucht Loki weiter nach Nikolaos?“, fragte nun Baldur.
„Nein, er ist inaktiv, Timo, ein etwas älterer Sohn von Jupiter hat übernommen, Loki lässt ihn wohl beschatten.“
„Wieso lässt du seine Umtriebe zu, Vater?“, fragte nun Baldur mit sanfter Stimme.
„Weil ihr beide, Thor und du, euch einfach vom Süden überrennen lassen würdet. Thor interessiert sich nicht für die Politik und du, Baldur… Du warst schon immer zu gut für diese Welt, aber seit Nannas Tod hast du jegliche Härte verloren.“
Es entstand eine kleine Pause, der Vater hatte seinen Sohn offensichtlich schwer getroffen. Schließlich sprach Baldur mit ruhiger Stimme weiter. „Es besteht ein Unterschied zwischen Unterwerfung und friedlicher Koexistenz. Noch gibt es keinerlei Anzeichen für kriegerische Handlungen seitens des Südens. Ihr Aufrüsten könnte eine Reaktion auf Lokis Ausbruch sein.“
„Das Gerücht kam früher auf, es gab einen Orakelspruch, der mit Runa zusammenhängt. Finde heraus, was prophezeit wurde.“
Baldur nickte und ging auf die Tür zu, hinter der Mirabella lauschte. Schnell wich sie von der Tür und drückte sich an die Gangwand. Der Gott lief schnellen Schrittes an ihr vorbei, sah sich kurz unsicher um und ließ die Tür einen Spalt offenstehen. Hatte er ihre Anwesenheit gespürt? Er hatte sie zumindest nicht verraten. Vorsichtig schlich sie zur Tür und blickte in den Saal. Odin verließ Walhall durch die große Hintertür in die andere Richtung. Einen Moment stand Mirabella unschlüssig in der Tür, dann ging sie entschlossen zum Portal nach Thrudheim und schlüpfte hindurch, um Ragnar aufzusuchen. Sie musste ihn zur Rede stellen.
Mittlerweile kannte sie sich in Thors Palast Bilskirnir ganz gut aus, sie wusste, wo die Gemächer der Halbgötter lagen, fand mühelos in den schönen Garten, wo sie mit Ragnar Bogenschießen geübt hatte, kannte die Küche mit den vielen Trollen, hatte jedoch noch nie die Gemächer ihres Vaters betreten. An den Trollen vorbei im Hof schlich sie unsichtbar zu Ragnars Räumen, fand ihn aber dort nicht vor und beschloss, Thors Räume aufzusuchen. Sie irrte ein wenig herum, fand eine Besenkammer, mehrere Toiletten und eine Bibliothek, die sie schwer beeindruckte und überraschte, nachdem ihr Vater eher als wenig vergeistigter Hitzkopf galt. Sie musste unwillkürlich an die natürlich wesentlich kleinere Bibliothek, es war nur ein schmales Zimmer, im Haus von Nikolaos denken. Sehnsüchtig erinnerte sie sich, wie sie gemeinsam dort gesessen, gelesen und gequatscht hatten. Wenn jetzt schon der Anblick von Büchern sie an Nikolaos erinnerte, was erinnerte sie nicht an ihn? Jedes Erinnern aber bewirkte einen Stich im Herzen und sie wünschte fast, sie könnte ihn vergessen, für einen Tag, für ein paar Stunden zumindest. Missmutig verließ sie den Büchersaal und suchte weiter. Schließlich kam sie an eine elegante Flügeltür mit elegant geschwungenen Türgriffen. Kein Alben-IKEA, schloss Mirabella und musste schon fast wieder grinsen. Vorsichtig lauschte sie an der Tür, sie spürte die Anwesenheit von jemand Vertrautem in der Nähe, hörte jedoch weder Stimmen noch andere Geräusche. Allen Mut zusammennehmend, drückte sie die Türklinke hinunter und spähte ins Zimmer. Ihr Blick fiel auf einen imposanten Schreibtisch, an dem ein Mann mittleren Alters im dunklen Anzug saß. Seine kurzen roten Locken fielen in die Stirn, das Gesicht war rasiert und zeigte markante Züge. Ohne von seinem Laptop aufzusehen, rief er in Richtung Tür. „Was gibt es?“
Offensichtlich hatte er das Öffnen der Tür registriert und einen seiner Trollen-Diener erwartet. Mirabella zögerte, ein Gespräch mit Thor hatte sie eigentlich unbedingt vermeiden wollen, wusste aber, dass sie die Tür nicht einfach wieder schließen konnte. Sie zog zähneknirschend die Tarnkappe vom Gesicht, stopfte sie in ihre Jackentasche und trat ein.
Nun sah Thor auf. „Runa!“ Er schien ehrlich überrascht zu sein, wirkte aber erfreut. „Was verschafft mir die Ehre?“ Er war aufgestanden und ihr lächelnd entgegengetreten.
„Hallo“, erwiderte sie schüchtern und sah sich neugierig im sechseckig geschnittenen Raum um, der wie ein modernes Bürozimmer wirkte. Abstrakte Kunstwerke schmückten die Wände, in einer Ecke stand eine Ledergruppe mit Couchtisch, in einer anderen ein großer Konferenztisch mit Stühlen. Auf dem Schreibtisch standen neben dem geöffneten Laptop ein paar Bilderrahmen, die Mirabella jedoch nur ihre Rückseite präsentierten, und eine kleine silberne Ziege.
Als sie in das Gesicht ihres Vaters blickte, errötete sie, da ihr plötzlich einfiel, wie sie ihn zuletzt abgekanzelt hatte. Eigentlich hatte es ihr auf der Zunge gelegen zu protestieren, sie würde Mirabella heißen, aber die Bemerkung blieb ihr im Hals stecken. „Ich… suche Ragnar“, sagte sie nur leise, den Blick betreten auf den Boden heftend. Das Lächeln aus Thors Gesicht verschwand. „Ach so… er ist gerade gegangen.“
„Oh“, sie sah nun auf, ihr fiel Ragnars Anliegen wieder ein, Sorge zeigte sich in ihrem Gesicht, „wird er um den Ring kämpfen?“
„Ich denke schon.“
„Hast du ihm dazu geraten?“, fragte Mirabella aggressiv.
„Ich weiß, dass du von mir als Vater nichts hältst, aber du musst mir glauben, dass ich diesen Kampf von ihm nicht fordern würde. Es hat sich jedoch in letzter Zeit herauskristallisiert, dass er lieber auf Odin als auf mich hört, mein Einfluss schwindet.“
„Wieso das?“, fragte sie verwundert.
„Vielleicht nimmt er mir mein Verhalten euch bezüglich übel? Auch scheint er seit neuestem die kriegerische Haltung meines Vaters zu bevorzugen und möchte unter gar keinen Umständen als Feigling vor Odin dastehen. Odin hat schon immer gewusst, wie er die Jugendlichen manipulieren kann.“
Mirabella sah Thor ungläubig an. „Echt? Und du bist der Friedensengel? Ich dachte, du bist der kriegerische Donnergott mit dem Hammer?“
Er lächelte leicht. „Wie jemand Schlaues von euch gesagt hat: Tempora mutantur, nos et mutamur in illis. Ich zumindest, Odin wohl nicht.“ (Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen. (Ovid))
„Jupiter und du, ihr seid euch voll ähnlich“, rutschte es Mirabella raus. Thor sah erstaunt auf, woraufhin sie sich der delikaten Thematik bewusstwurde, und errötete.
„Nur, dass er im Olymp das Sagen hat…“, fügte er sarkastisch hinzu. „Was ihn für dich natürlich attraktiver als Vater macht.“
„Meine Zuneigung hängt nicht von der Macht einer Person ab…“, protestierte sie, „sondern von seinem Charakter und seinen Taten.“
„Na, da gewinne ich wohl auch keinen Blumentopf bei dir“, antwortete Thor bitter.
Mirabella stutzte. Sie hatte bisher über Thor wenig nachgedacht, weil sie ihn am liebsten aus ihrem Gedächtnis gelöscht hätte, aber er machte auf sie einen völlig anderen Eindruck, als sie von der Edda erwartet hätte. Er lebte abseits von Asgard und machte anscheinend lieber Geschäfte auf der Erde als sich um die Götterwelt zu kümmern.
„Du bist so anders als dein Ruf. Warum lässt du Odin alles bestimmen, wenn es dir nicht recht ist? Wozu hast du denn deinen Machtgürtel, den Hammer und diesen eisernen Handschuh.“
Der Donnergott lächelte überrascht. „Du hast dich also etwas belesen? Ich habe viel von meiner Wut verloren. In meiner Jugend habe ich enorm gegen Odin protestiert, habe versucht, seine Anerkennung zu gewinnen, aber er hat Loki wie seinen eigenen Sohn behandelt, ja, ihn sogar immer bevorzugt. Ich konnte nicht böse auf Loki sein, wir waren wie Brüder, bis er sich im Krieg völlig veränderte. Lokis Verhalten und seine Verbannung nach Utgard waren ein schwerer Schlag für meinen Vater. Ich hätte damals die Macht übernehmen können, aber das hätte ihn völlig zerstört, das wollte ich nicht.“ Er machte eine kleine Pause und sah aus dem Fenster. „Nun sitzt er weiterhin auf seinem Thron, Baldur kümmert sich um die diplomatischen Beziehungen und ich mache mein eigenes Ding.“
Thor hätte Odin stürzen können und tat es nicht, das beeindruckte Mirabella schwer. Dennoch quälte sie eine Frage.
„Hat damals Odin angeordnet, dass du meine Mutter schwängerst?“, sie musste die Frage stellen.
Thor schwieg kurz. „Es war seine Idee, seine Leidenschaft, er hat wochenlang auf mich eingeredet, mich an meine Pflichten erinnert, aber ich nehme die volle Verantwortung auf mich. Meine Motivation war die Rache für Wingni, aber ich habe die Folgen für dich nicht bedacht.“
„Hat dir Ragnar erzählt, was ich ihm über Wingni sagte?“
„Dass Mars ihn zu Tode folterte?“
Sie nickte beklommen.
„So etwas habe ich immer vermutet. Aber… das rechtfertigt dennoch nicht mein Verhalten. Runa oder wahrscheinlich bevorzugst du Mirabella?“
Das Mädchen nickte erneut. „Ich heiße von klein auf so…“, erklärte sie fast entschuldigend.
„Natürlich. Also, Mirabella…“
„Eigentlich nur Mira“, unterbrach sie ihn.
Thor nickte gutmütig und trat einen Schritt auf sie zu. „Dann, Mira, ich bitte dich erneut um Verzeihung.“
Sie schluckte und musste feststellen, dass sie ihm fast nicht mehr böse sein konnte. Sie verstand sein Verhalten besser, sie hieß es noch lange nicht gut, aber auch Götter machten offensichtlich ethische Fehler und die wenigsten baten wahrscheinlich um Verzeihung.
Zaghaft lächelte sie und sah ihren Vater mit leicht klopfendem Herzen an. Es war alles so verwirrend, würde sie je wieder ‚Vater‘ zu Jupiter sagen können?
Thor wagte es, noch einen Schritt auf sie zuzugehen. Er griff nach ihrer Hand und sie entzog sie ihm nicht. Dankbar lächelte er sie an. „Ich kann es nicht rückgängig machen und, wenn ich dich hier so stehen sehe, möchte ich das auch gar nicht. Ich bin froh, eine Tochter wie dich zu haben. Auch wenn das jetzt keine Entschuldigung sein soll!“ Er hielt ihre Hand in seiner großen rechten und strich mit der anderen Hand über ihren Handrücken. „Du glaubst, dass ich mich nie um dich gekümmert habe, aber auch ich habe dich dein ganzes Leben lang beobachtet, deine ersten Schritte, das erste Skifahren, Tanzen im Tütü und auf Spitze, die Erfolge und die Hänseleien in der Schule. Rote Haare sind ein Fluch, oder?“ Er grinste leicht und Mirabella musste tatsächlich lachen, ihr wurde es warm ums Herz. „Ich weiß auch von deinen Freunden Antonia und Lukas, natürlich auch von Bert und deiner ersten großen Liebe.“
Ihr Lächeln verschwand und sie sah alarmiert auf, fragte sich zudem, ob er Lorenzo oder Nikolaos meinte.
„Das ist doch Nikolaos für dich, oder?“ Sein Blick war forschend.
Sie errötete erneut und nickte dann, es hatte wohl keinen Sinn, es zu leugnen.
„Danke, dass du nicht versuchst, mich zu belügen.“ Er ließ ihre Hand los und ging zum Fenster. Mit dem Rücken zu ihr betrachtete er den blauen Himmel. „Ein Jupitersohn…“, fügte er dann seufzend hinzu, schüttelte den Kopf und drehte sich zu ihr. „Eine schwierige Wahl, Mira. Odin wird das nie zulassen.“
„Und du?“
„Das hängt davon ab, ob er weiter für Jupiter bei uns herumspioniert.“
„Derzeit jedenfalls nicht.“
„Das ist aber nur temporär, denke ich.“ Er sah seine Tochter ernst an. „Mira, ich will dich schützen, ich möchte auch nicht, dass Odin dich ausnutzt, aber ich werde keinen spionierenden Jupitersohn vor Odin und Loki schützen können, ohne den gesamten Norden zu verraten.“
Das junge Mädchen nickte, das verstand sie schon. „Bist du für eine friedliche Lösung?“
„Ich bin nicht auf Krieg aus, aber der Süden darf nicht wieder in den Besitz beider Statuen gelangen, das wäre womöglich unser Ende. Auch das deine.“
„Das will ich auch gar nicht, am besten wäre es wahrscheinlich, wenn die beiden blöden Statuen zerstört wären.“
Thor lächelte. „Wo habe ich das nur schon mal gehört?“
Schlagartig wurde sie wieder ernst, als ihr einfiel, warum sie Ragnar suchte. „Kann es sein, dass er für Odin spioniert?“
„Odin wollte ihn anwerben, gegen meinen Wunsch. Wieso fragst du?“
„Ich habe so etwas aufgeschnappt“, antwortete sie vage.
Thor sah verärgert aus. „Ich werde mit Odin reden.“
„Weißt du, wo Ragnar vorhin hingehen wollte?“
Der Donnergott schüttelte sein Haupt. „Ich werde mich darum kümmern, aber jetzt muss ich leider los“, er sah auf sein Handy, „Termine auf der Erde.“ Er zögerte einen Moment, sah dann Mirabella lächelnd an. „Ich habe mich sehr über deinen Besuch gefreut, es wäre schön, wenn du wieder einmal vorbeikämst.“
Sie lächelte scheu. „Bis bald!“
Thor nickte, klappte seinen Laptop zusammen und war im nächsten Moment verschwunden.
Mirabella stand eine Weile regungslos da, sie war innerlich aufgewühlt und fast erschüttert, als sie feststellen musste, dass sie Thor mochte. Neugierig ging sie zum Schreibtisch und sah sich die Bilder an. Mehrere rothaarige Personen waren zu sehen, auf einem Bild waren Ragnar und Mirabella beim Skifahren abgebildet, das Foto musste Lorenzo gemacht haben. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, nun hatte sie tatsächlich drei Väter. Mit ihrem Zeigefinger strich sie über die silberne Ziege. Endlich hatte sie eine Erklärung für ihre Affinität zu Ziegen, es waren dem Thor heilige Tiere, der Sage nach zogen sie seinen Wagen. Bei ihren ersten telekinetischen Übungen im Olymp war die Belohnung für ihre Mühen eine kleine Figur gewesen. Jeder hatte das seinem göttlichen Elternteil entsprechende Tier oder Symbol vorgefunden. Nikolaos als Jupitersohn hatte einen Adler erhalten, Mirabella jedoch eine Ziege. Damals hatte sie noch nicht einmal erahnt, was sie heute alles wusste, sie hatte sich die Ziege mit dem Aigis, einem goldenen Ziegenfell, das beim Schütteln Gewitter erzeugte, erklärt. Doch das Orakel oder was es auch immer war, hatte es besser gewusst. Zum Glück hatte die Figur nur Mirabella selbst sehen können. Ihr Blick kehrte zurück zum Bild der Thor-Zwillinge, sie betrachtete nachdenklich ihren Bruder. Ragnar hatte auf sie nie kriegerisch gewirkt, wenngleich er in letzter Zeit härter trainierte. Warum wandte er sich von Thor ab und Odin zu? Ihm hatte doch Thor nichts angetan, ihm war er ein fürsorglicher Vater gewesen.
„Hm-hm“, ein Hüsteln ließ Mirabella hochfahren, sie sah zur Tür und entdeckte einen Troll. Eilig nickte sie ihm zu und verließ das Arbeitszimmer ihres Vaters. Erneut suchte sie Ragnar vergeblich in seinen Räumen, inspizierte kurz den Garten und verließ dann Bilskirmir.