Читать книгу Mirabella und die Götterdämmerung - Isabelle Pard - Страница 3

1 - Angriff ist die beste Verteidigung

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„Mira?“

Sie traute ihren Augen kaum, als sie Nikolaos über sich gebeugt sah, der sie zärtlich anlächelte. „Ich muss jetzt aufbrechen.“

Schlagartig fiel ihr die letzte Nacht wieder ein und ihr glückliches Lächeln verschwand. Loki hatte Nikolaos verhört und beinahe getötet, sie hatte ihn gerettet und in den Vesta-Tempel gebracht. Sie hatten die Nacht in einer schwebenden Blase verbracht und sich zum ersten Mal geküsst. Nun musste Nikolaos untertauchen, um sich vor Loki zu verstecken, sie durften fürs erste keinen Kontakt mehr haben.

Vor dem Einschlafen hatte sie sich fest vorgenommen, ganz tapfer zu sein, wenn sie sich verabschieden würden, aber nun schwand ihr der Mut. Schnell schlang sie ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn in leidenschaftlicher Verzweiflung zum Abschied. Er drückte sie fest an sich, entfernte dann sanft aber konsequent ihre Arme von seinem Nacken und stand auf. Mit einer schnellen Bewegung öffnete er sein Amulett, sah ihr ein letztes Mal in die Augen und verschwand von einer Sekunde auf die nächste in den Olymp.

Die Blase verschmolz mit dem Vesta-Tempel. Nikolaos musste sie nach dem Aufwachen dorthin gelenkt haben. Kraftlos blieb Mirabella auf den Knien sitzen, Tränen rollten über ihre Wange und sie schluchzte laut auf. Nachdem sie lange Zeit vor sich hingestarrt hatte, fasste sie sich langsam und ließ jede Minute der letzten Nacht vor ihren Augen lebendig werden. Sie spürte immer noch einen Teil von ihm in ihr. Wo war er jetzt? Bei Jupiter? Sie wusste, sie durfte ihm nicht nachspionieren, sollte keinen Kontakt mehr aufnehmen, aber sie war im Vesta-Tempel, er wahrscheinlich im Olymp, was konnte schon passieren?

Wie in Trance legte sie sich auf den kalten Marmorboden und konzentrierte sich vorsichtig auf die Verbindung. Bald sah sie die vertrauten griechischen Säulen des Olymps und empfand ein Gefühl des nach Hause Kommens. Vorsichtig versuchte sie unbemerkt die Szene zu beobachten. Nikolaos stand vor Jupiters Thron, in dem ein ernster Göttervater saß. „Wir schützen dich bis auf weiteres, ich werde mir einen neuen Plan überlegen müssen. Du bleibst solange inaktiv.“

Sein Sohn nickte ergeben.

„Weiß Loki, dass Mirabella dich gerettet hat?“

„Ich denke nicht… ich hoffe nicht.“

Jupiter nickte schwer. „Du kannst gehen.“

Nikolaos schritt aus dem Saal und öffnete, sich nach allen Seiten umsehend, sein Amulett. Neben einem grauen Haar Jupiters und ein paar roten Haaren, die wohl Wingni, dem verstorbenen Sohn Thors, gehörten, lag ein zarter Ring. Er setzte ihn eilig auf, drehte ihn und stand im nächsten Moment in Junos Vorzimmer im französischen Empirestil. Eine Tür ging lautlos auf und er ging hindurch. Sie befanden sich nun in den Privatgemächern von Juno, die Mirabella noch nie gesehen hatte. Der Empirestil setzte sich auch hier fort, Juno in ihrer Stola saß auf einem goldverzierten Armlehnenstuhl mit den typischen Tierpfotenfüßen. Ein Schreibtisch, mehrere Sessel und ein Tisch komplettierten das Zimmer.

„Nun, Nikolaos, was ist passiert?“

„Loki hat wahrscheinlich unseren Plan durchschaut. Sein ehemaliger Diener, der etwas über die Statue wusste, war bereits tot, als ich ankam. Loki brachte mich dann als Gefangener nach Asgard zum Verhör. Mira rettete mich, bevor er mich brechen konnte.“

„Mirabella? Wusste sie Bescheid?“

„Nein, sie spürte durch den Armreif, dass ich in Gefahr war und transportierte sich mit Ragnars Ring – wir waren gerade alle beim Skifahren – und ihrer Tarnkappe nach Asgard. Ich denke nicht, dass Loki merkte, wer ihn überwältigte.“

„Du scheinst ihr wirklich viel zu bedeuten, sehr gut, darauf müssen wir auch weiterhin bauen.“

Nikolaos schwieg dazu und Mirabella musste sich bemühen, sich nicht zu verraten. Was hatte diese Aussage zu bedeuten?

„Und weiter?“

„Ich habe Jupiter berichtet, er will mich schützen. Ich werde die Arbeit für ihn offiziell ruhen lassen.“

„Gut, gar nicht unpraktisch, dann kannst du in Ruhe an unserem Plan arbeiten.“

Nikolaos nickte. „Mira ahnt etwas“, bemerkte er dann.

„Drück dich präziser aus.“

„Sie ahnt, dass sie nicht Olympierin ist.“

„Wen vermutet sie als Vater?“

„Sie hat keine Ahnung.“

Juno schüttelte lächelnd den Kopf. „Dabei ist es so offensichtlich.“

„Wir wissen auch nur von einem Asen. Aber gestern kam mir, dass Ragnar ihr Zwillingsbruder sein könnte.“

Juno nickte. „Das vermute ich schon länger.“

Mirabella hörte die Worte, aber verstand sie nicht. Selbst als Geist wurde ihr schwindlig. Ragnar, ihr Zwillingsbruder? Und doch, wie sonst ließ sich die Verbundenheit zwischen ihnen erklären? Aber wieso besprach Nikolaos alles mit Juno? Offensichtlich hinter dem Rücken von Jupiter!

Die Königin des Olymps sprach weiter. „Gut, wir müssen so lange wie möglich verhindern, dass sie es weiß. Irgendwann wird der Norden es ihr sagen und sie für seine Zwecke missbrauchen wollen. Ich schätze, um in den Besitz der zweiten Statue zu gelangen.“

„Wie beabsichtigst du genau, mit deren Statue vorzugehen, wenn ich sie finden sollte? Jetzt, wo Loki da ist?“

„Das ändert nicht viel. Ich möchte mir ihr Schweigen erkaufen. Jupiter darf unter keinen Umständen von Mirabellas wahrer Herkunft erfahren. Es wäre zusätzlich zur Enttäuschung eine große Schmach, auf diese Weise von Thor und dieser Helena hintergangen worden zu sein. Es könnte auch seine Machtposition schwächen.“

„Meinst du nicht, Loki wird die Statue nehmen und sich an keine Vereinbarung halten?“

„Das wäre sehr bedauerlich, dann müsste Jupiter dieses Kind der Schande wohl töten.“

Kind der Schande? Mirabellas Geist wurde wütend und sie ahnte, dass sie sich verraten hatte. Sie spürte noch, wie Nikolaos nach Junos Worten leicht zusammenzuckte, dann hörte sie seinen Geist nach ihr rufen. Sie floh aus der Verbindung, sie hatte genug gehört, alles, was sie wohl hören musste. Mit starrer Miene wachte sie im Vesta-Tempel auf und blockierte jegliche Verbindung, sie spürte, dass Nikolaos sie rief, aber sie konnte jetzt nicht mit ihm reden. Sie musste nachdenken.

Sie war keine Olympierin, sie war eine aus dem Norden. Was sie immer befürchtet hatte, war wahr. Traurig betrachtete sie ihr Amulett, ihr Armband, dachte an Palatina und Greta. Alles würde sie aufgeben müssen, wenn herauskam, dass sie aus dem Norden war. Sie würde keine Vestalin, keine Amazone mehr sein können. Keine Jupiter-Tochter. Ihr Herz krampfte sich zusammen und es fröstelte sie innerlich. Nikolaos meinte es angeblich gut, aber sie fühlte sich trotzdem hintergangen. Warum hatte er ihr nicht vertraut? Sie hätten gemeinsam einen Plan schmieden können, um die Statue und eine Lösung für ihr Problem zu finden. Enttäuscht fragte sie sich, wie lange er schon wusste, dass sie keine Olympierin war. Langsam gewann der Zorn die Oberhand, sie wurde wie ein Baby von ihm behandelt. Glaubte er etwa, sie könnte mit der Wahrheit nicht umgehen, sie könnte die Dinge nicht selbst regeln?

Energisch setzte sie sich auf. Wenn er alleine agierte, konnte sie das auch. Es war an der Zeit, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, sie durfte nicht länger vor der Wahrheit davonlaufen. Entschlossen zog sie ihre Tarnkappe über den Kopf, schwebte aus dem Vesta-Tempel und entstieg draußen der Blase, um eine Nachricht an Lorenzo zu schreiben, den sie letzte Nacht völlig vergessen hatte. Es fing gerade erst an zu dämmern und sie hoffte, dass er sich wieder hingelegt hatte. Sie ließ ihn wissen, dass sie in Sicherheit war und nachher vorbeikäme, nachdem sie nur noch eine kurze Sache zu erledigen hätte.

Ernst drehte sie an Ragnars Ring, sah den Lichtregen und war im nächsten Augenblick in Asgard. Schnellen Schrittes lief sie zu Odins Palast, sie war fest entschlossen und wütend wie selten in ihrem Leben. Sie wollte kein Spielball der Götter mehr sein, sie würde nun die Regeln mitbestimmen. Angst hatte sie keine, sollte sie wirklich Thors Tochter sein, würde ihr hier niemand ein Haar krümmen. Vor dem Palast zog sie unbemerkt ihre Tarnkappe aus, verstaute sie in der Jackentasche und betrat erhobenen Hauptes den Wallhall-Saal. Zorn sprühte aus ihren grünen Augen. Odin saß auf seinem Stuhl, neben ihm stand Thor, während Loki den beiden etwas zu berichten schien. Er hatte eine Brandnarbe in seinem schönen Gesicht, die einer von Mirabellas Blitzen in der Nacht verursacht hatte. Triumphierend unterdrückte sie ein Schmunzeln und ging auf die überraschte Troika des Nordens zu.

„Mirabella, was verschafft uns die Ehre?“, fragte Odin, sein Auge maß sie abschätzend. Loki musterte sie feindselig, während sie Odin zunickte, dann seinem Sohn. Ihr Blick blieb kurz an Thor hängen, Wut kam beim Anblick seiner roten Haare hoch, die sie nur mühsam unterdrückte. Schließlich grüßte sie Loki und tat überrascht, als sie die Wunden sah. Er maß sie einen Moment.

„Wessen Ring ist das?“, fragte er dann argwöhnisch.

„Ragnars“, erklärte Mirabella und ärgerte sich, dass sie ihn nicht in die Tasche gesteckt hatte. „Er hat ihn mir kurz ausgeliehen, weil ich eine Frage habe.“ Sie wandte sich an Thor. „Bist du mein… Erzeuger?“

Stille. Man hätte eine Stecknadel fallen hören.

Thor sah fast hilflos zu seinem Vater, der anfing zu lächeln.

„Wie kommst du denn darauf, Mirabella?“

„Ich wusste schon lange, dass ich keine Olympierin bin, aber dein Interesse an mir sowie Thors und Ragnars rote Haare legen diesen Schluss nahe.“

„Kluges Kind, das hast du nicht von deinem Vater.“

„Vielleicht von meinem Opa?“, fragte sie schnippisch.

Odin lachte tatsächlich. „Gut, hören wir mit dem Katz-und Maus-Spiel auf. Mich interessiert nur, wieso du gerade jetzt herkommst?“

„Ich dachte, es wäre an der Zeit“, sie sah zu Loki, „bevor vielleicht jemand die Wahrheit ausplaudert.“

Odin nickte. „Ich möchte dich nachher noch sprechen, nun kannst du erst einmal deinen… Erzeuger kennenlernen.“ Er deutete Thor an aufzustehen.

„Nein, danke!“, sagte Mirabella schnell. „Er hat sich bisher nicht um mich gekümmert, so soll es auch bleiben.“

Sie sah aus dem Augenwinkel, dass Thor ihr einen gekränkten Blick zuwarf.

„Das darfst du ihm nicht vorwerfen“, beschwichtigte Odin nun, „ich habe ihm den Kontakt verboten, wir wollten warten, bis du reif für diese Information bist.“

„Was ist das für ein Vater, der sich vorschreiben lässt, ob er zu seinem Kind stehen darf oder nicht?“, fragte sie aggressiv.

„Vielleicht ist das im Süden anders, aber hier hören die Kinder auf ihre Väter, insbesondere auf mich!“, sprach Odin nun gefährlich ruhig.

Mirabella tat unbeeindruckt. „Ich möchte dir einen Deal vorschlagen, Großvater. Ich besorge euch die zweite Statue, dafür bleibe ich offiziell Jupiters Tochter.“

Loki lachte zufrieden. „Na, was ein Zufall, den Handel wollten wir dir auch vorschlagen.“

Sie ignorierte ihn. „Ich spreche mit Odin.“

„So machst du dir keine Freunde hier, mein Kind“, gab Odin vorsichtig zu Bedenken.

Das Mädchen sah Odin finster an. „Ich habe genug Freunde, ich möchte auch nicht mit jedem befreundet sein.“

Sie spürte Lokis zornigen Blick. „Wenn du falschspielst und uns versuchst auszutricksen, dann bringe ich dich persönlich um!“

Nun stand Thor auf und baute sich drohend vor Loki auf. „Das wirst du nicht wagen, Loki! Sie ist immerhin meine Tochter!“

Mirabella sah gebannt zwischen den beiden Göttern hin und her und war heilfroh, dass zumindest nicht Loki ihr Vater war.

Der Gott der Zwietracht schnaubte wütend und verließ den Saal. Aufstehend ergriff Odin wieder das Wort und reichte Mirabella die Hand. „Lass uns die Abmachung besiegeln.“

Sie schlug ein und Odin verließ ebenfalls den Saal.

Nun stand Mirabella ihrem Vater gegenüber, seine roten Haare wurden durch die einfallende Sonne beleuchtet und strahlten wie ein goldroter Kranz um sein Haupt. Sein kurzer Vollbart bedeckte große Teile des männlichen Gesichtes, das eher von rauher Schönheit war, am Anziehendsten waren seine tief blauen Augen, die sie nun freundlich, fast schüchtern musterten. Mirabella verschränkte ihre Arme und sah ihn immer noch zornig an. Insgeheim musste sie sich eingestehen, dass er keinen unsympathischen Eindruck auf sie machte, aber sie musste sich nur vor Augen halten, wie er Jupiter betrogen hatte, um ihre Wut aufs Neue zu nähren.

„Ragnar hat schon viel von dir erzählt. Es freut mich, dass ihr beide euch versteht“, versuchte nun der Gott, ein Gespräch zu beginnen.

„Er weiß nicht, dass ich seine Schwester bin?“

Thor schüttelte sein Haupt. „Nein, das wissen nur wir drei, die hier eben anwesend waren.“

„Ich kann nicht begreifen, dass ihr mit so jemandem wie Loki verbündet seid. Er wollte mich umbringen.“

„Zu seiner Entschuldigung muss man fairerweise sagen, dass er dachte, du wärst Jupiters Tochter.“

„Und was ist mit Baldur und Nanna?“

„Mirabella, es war nicht meine Entscheidung, Loki wieder in unsere Mitte aufzunehmen. Wir waren einst gute Freunde, er half mir einmal Mjöllnir, meinen Hammer, von den Riesen zurückzugewinnen, aber er half einmal und enttäuschte hundertfach. Ich werde ihm nie mehr trauen können. Ich muss mich jedoch dem Willen Odins beugen.“

„Weil nur Loki weiß, wo die geklaute Statue ist?“

Thor sah leicht überrascht auf. „Du scheinst gut informiert zu sein.“

„Ich bin Vestalin und kann drei und drei zusammenzählen. Ich frage mich nur, ob er sie euch je geben wird.“

„Er wird versuchen, beide in seinen Besitz zu bekommen, so wie ich ihn kenne. Ich bin mir aber sicher, dass auch Odin dies bewusst ist.“

Sie nickte unwillig. „Ich werde jetzt zu ihm gehen.“

Ihr Vater machte eine kleine hilflose Geste. „Mirabella, es tut mir leid, dass die Umstände für das erste Kennenlernen nicht besser sind.“

„Mir auch“, erwiderte sie kühl.

„Habe ich nicht wenigstens eine Chance verdient? Ob du es willst oder nicht, ich bin dein Vater.“

„Nein, das bist du nicht!“, fauchte ihn Mirabella an. „Jupiter ist mein Vater. Er hat sich um mich gekümmert, er hat mich ausgebildet und er liebt mich. So wie er meine Mutter geliebt hat. Und du hast ihn hintergangen, das werde ich dir nie verzeihen!“

Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und rannte zur Tür hinaus.

Mirabella und die Götterdämmerung

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