Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto - J. H. Praßl - Страница 15
ОглавлениеDie Helden der Allianz
Ich will, dass euch klar ist, dass es ab heute kein Zurück mehr gibt. Ich will, dass ihr wisst, dass ihr von jetzt an auf euch gestellt sein werdet. Alles, was ihr bei mir gelernt habt, habt ihr für diese Mission gelernt. Alles, was ihr in meinem Namen vollbracht habt, hat euch hierher geführt.
Die Zeit drängt. Ihr steht vor einer Entscheidung. Entscheidet euch!
Siralen Befendiku Issirimen hatte sich entschieden. Warum, das war ihr selbst nicht ganz klar. Aber das Ja war da. Es war ihr über die Lippen gesprungen wie ein Tautropfen von der Spitze eines vom Wind gepeitschten Grashalms.
Al’Jebals Geheimnisse waren derer viele. Einige davon hatte er ihnen vor zwei Tagen anvertraut. Nachdem er sie vor die Wahl gestellt hatte: „Seid ihr mit an Bord?“ Das war in etwa der Inhalt seiner Frage, wenn er sie auch ganz anders formuliert hatte. Sie würden nicht nur sprichwörtlich an Bord gehen. Im Auftrag der Allianz. Für die Zukunft Amaleas …
Eines der Geheimnisse, die der Sprecher der Allianz ihnen anvertraut hatte, war, dass die Welt keine echte Grenze hatte. Oder dass es zumindest eine Möglichkeit gab, diese zu überwinden. Der Große Abgrund … Wenn man sich über eine Weltgrenze hinwegsetzen konnte, was erwartete einen danach? Neue Welten …
Siralen stand halb angekleidet in ihrer Unterkunft in einem der zentralen Sektoren Tamangs. Redlich bemüht, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, fingerte sie an den Nesteln der Kleiderärmel herum. Doch der Kopf wollte einfach nicht bei der Sache bleiben, und die Finger zitterten in beschämender Ziellosigkeit über die schmalen Bänder am Saum.
Verständlich, dass ihr Inneres in Unordnung geraten war. Was sie vor zwei Tagen erfahren hatte, war kaum mit ihrem bisherigen Weltbild in Einklang zu bringen. Sie musste alles neu überdenken. Und sie fragte sich, wohin sie in all den Jahrzehnten ihres bisherigen Lebens geblickt hatte, dass ihr all dies entgehen konnte. Wusste der Elfenrat Bescheid? Was war eine Lüge und was die echte, gehaltvolle Wahrheit?
Endlich saßen die letzten Bänder und sie konnte ihre Schultern entspannen. Hingebungsvoll massierte sie sich den Nacken und trat vor den Spiegel. Eine Seltenheit. Der Spiegel war groß und sein ovaler hölzerner Rahmen mit außergewöhnlich kunstvollen Schnitzereien geschmückt. Eindeutig nicht von Elfenhand und dennoch erstaunlich.
Siralens Spiegelbild schob sich in ihr Blickfeld – ein Gesicht, das ihr verblüfft entgegenlächelte. Was sie sah, gefiel ihr. In diesem Kleid schien alles am rechten Platz zu sein. Es war wie für sie gemacht – schlicht, von zartem, ihre Augen zum Leuchten bringendem Blauton und in einem Guss an ihren schlanken Beinen hinabfließend. Warum hatte sie es nicht schon eher getragen?
Natürlich. Sie hatte das Kleid vor langer Zeit weggeschlossen; weggeschlossen wie die Erinnerung an ihre Mutter, die es an sie weitergegeben hatte; weggeschlossen wie die Erinnerung an den Vater, der die Mutter mehr geliebt hatte als sein eigenes Volk. Aber jetzt, jetzt fühlte sich der seidige Stoff gut auf ihrer Haut an.
Sachte fuhr sie sich durch ihr silbernes Haar und begann, die Strähnen zu einem strengen Zopf zu flechten. Oh Aflih! Wo bin ich da nur hineingeraten?
So ungern sie sich an ihre Eltern erinnerte, so gerne dachte sie an ihre Großmutter. Lenyanemara hatte sie mit aller nur denkbaren Weisheit auf dieses Leben vorbereitet – ein Leben, das manchmal der Weisheit gleichgültig gegenüberstand und häufig tat, was es wollte, ohne an die Konsequenzen zu denken.
„Der Weg einer Kriegerin ist stets von Licht und Schatten begleitet“, hatte Großmutter ihr an jenem Tag nahegebracht, als sie ihre Ausbildung zur Kriegerin antrat. „Das Licht fällt auf den, der Leben rettet, der Schatten auf den, der Leben zerstört. Ein Krieger wird stets beides verkörpern. Vergiss das nie, Ana!“
Siralen hatte es nicht vergessen. Trotzdem hatte sie sich zur Kriegerin ausbilden lassen. Weder Großmutter, noch sonst jemand hätte sie davon abbringen können. Sie wollte kämpfen. Sie würde dafür kämpfen, ihr Volk vor seiner endgültigen Ausrottung zu bewahren. Nun, da das Chaos seine verderblichen Armeen über den Boden Amaleas schickte, war jede Frau und jeder Mann, der mit einer Waffe umzugehen wusste, dazu verpflichtet, diese auch in den Kampf zu führen. Selbst wenn Siralen vom heutigen Tage an im Namen Al’Jebals kämpfte, der Entschluss blieb derselbe. Die Elfen gehörten der Allianz an und die Allianz stand und fiel mit Al’Jebal.
Wenn der Alte vom Berg die Indizien, die er gesammelt hatte, für ausreichend befand, um eine Welt hinter den bekannten Grenzen Amaleas anzunehmen, musste seinem Ruf gefolgt werden. Die Allianz brauchte Verbündete. Und Al’Jebal war der Erste gewesen, der die Unabhängigkeit der Elfen und den Staat Albion anerkannt hatte. Er war einer der ältesten Freunde der Elfen und ihrem Volk mehr als einmal zu Hilfe gekommen. Egal, was da draußen über ihn geredet wurde, egal, was jenseits der Grenzen Amaleas lauerte, innerhalb lauerte das Chaos und die Allianz war gegründet worden, um es zu bekämpfen.
Siralen zog die Finger aus ihrem Haar. Weg mit den Gedanken an Tod und Chaos! Heute war kein Tag, um sich in düsteren Visionen zu verlieren, heute war ein Tag des Feierns und der Freude.
Ein letztes Mal betrachtete sie sich im Spiegel, blickte in die kühlen blauen Augen, die ernst zurückblickten, strich sich behutsam ein paar lose Strähnen an den Schläfen nach hinten und band sich den Gürtel mit dem schmalen Dolch um die Hüften.
Als sie die Tür hinter sich schloss, trat ihr ein aschranischer Wachmann entgegen.
„Said Ihr berait?“, fragte er und Siralen nickte.
„Dann folgt mir.“
Der rote Teppichläufer, der eine zweihundertfünfzig Schritt lange Bresche in das Gewirr aus Menschen, Elfen und Zwergen schlug, erschien ihr wie ein Signal voranzuschreiten. Weiter, immer weiter, ohne einen Blick zurück …
Unzählige Öllampen und Feuerschalen hingen an schweren Ketten von der Decke und tauchten den Weg zum Podium in ein sattes, warmes Licht. Nur im Eingangsbereich herrschte Dunkelheit.
Die Empfangshalle war von breiten Säulengängen flankiert. Und wäre der Saal nicht brechend voll gewesen, Siralen hätte sich seltsam seelenlos in diesem nackten, gigantischen Gemäuer gefühlt.
Sie stand im Rahmen der Doppelflügeltür und verschmolz mit dem Schatten im Eingangsbereich. Der Anblick der schwarzen Silhouetten auf den beleuchteten Balustraden in schwindelerregenden Höhen war wie ein Fausthieb in den Magen. Dort standen sie – jede Menge Orks in den Galauniformen der Allianz. Verbündete … und doch waren die Kreaturen, die sich vor langer Zeit Al’Jebal angeschlossen hatten, den Elfen nach wie vor ein Dorn im Auge, und das würden sie vermutlich immer sein.
Fatujen! Sie selbst hatte erst kürzlich am Pass Cunair Tarr gegen Orks gekämpft, wenn diese auch der Chaosseite angehört hatten. Und sie war nur einen Wimpernschlag davon entfernt gewesen, im Alleinen des Weltgeistes aufzugehen – sie und auch all die anderen Krieger der Allianzarmee, die an diesem Abend so zahlreich vertreten waren, dass sie die restlichen Gäste in den Schatten stellten.
Unter ihnen waren auch die Priester, die gemeinsam mit den Elfen die erste, schicksalsschwere Schlacht in Erainn geschlagen hatten. Siralen erkannte einige von ihnen an ihren langen Roben und fein gearbeiteten Togen. Ihre Gewänder wetteiferten mit den schmucken Festtagskleidern der Handwerker, die sich unter die Gäste gemischt hatten. Die farbenfrohen Symbole der Zünfte lockerten das zeremonielle Ambiente auf, das die Priester mit ihren prächtigen Emblemen verbreiteten. Die Schlageisen der Steinmetze spielten mit den roten Kriegshämmern des Gottes Agramon, die Hobel der Tischler duellierten sich mit Issisas Kralle, das Feuer der Schmiedeessen flackerte munter zwischen den eisblauen Wappen Monochs. Der Tod wäre erfreut, Euch zu sehen …
Ein Schauer durchzuckte Siralen. Den Gedanken an die Priesterschaft über Tod und Eis abschüttelnd, suchte sie nach den Vertretern ihres Volks. Der kleine Anteil der nichtmenschlichen Rassen ging in der Menge des kurzlebigen Volks nahezu unter, was wenig überraschend war. Doch Siralen erspähte Ihresgleichen dennoch. Die Elfen hatten sich dezent von dem kleinen, korpulenten Volk der Zwerge distanziert. Sie standen auf der gegenüberliegenden Seite des Teppichläufers – zwischen ihnen der breite, reißende Fluss unvereinbarer Gesinnungen.
Ein schwacher Vorbote von Heimweh erfasste Siralen und sie riss sich vom Anblick ihrer Brüder und Schwestern los. Vieles war hier nicht so, wie es sein sollte. Orks und Zwerge waren eine Sache. Mit ihrer Gegenwart in den Reihen der Allianz hatten sich die Elfen halbwegs arrangiert. Mit den Vertretern der Schattenwelt hingegen …
Wer dem Alleinen widersteht, ist aus dem Weltgeist gefallen. Was nicht im Weltgeist ist, ist im Nichts. Und was im Nichts ist, darf nicht sein.
Würde Al’Jebal dieses elfische Gesetz brechen? Würde er es wagen, einen MacDragul zu den Feierlichkeiten zu laden? Auf der Suche nach dem Wappen, das den ihren so verhasst war, fand Siralen jede Menge anderer Embleme, viele davon mittlerweile so vertraut wie der silberne Baum Albions. Da waren die Lilie der MacArgyll und die rote Rose der MacGythrun aus Alba, das Kriegsbeil des Schlachtenstürmers Höggningar, die roten Längsstreifen auf weißem Tuch, die das Wappen der Aeglier kennzeichnete. Sie fand den schwarzen Bären Moravods, die gekreuzten Säbel auf weißem Tuch der Tegoner und natürlich Al’Jebals Emblem – den silbernen Fünfzackstern. Aber keine drei Silberblumen auf blutrotem Grund, über welchen ein schwarzer Adler vor goldenem Firmament thronte. Kein Zeichen jenes albischen Clans, der bis heute noch aus jeder Schlacht als Sieger hervorgegangen war und den Toten so viel näher stand als den Lebenden. Gut so.
Schritte erklangen im Gang hinter ihr und Siralen drehte sich um. Helolilejen! Sie hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte. General Göttrik van de Drakeen schritt im Gefolge zweier Frauen und eines Mannes auf den Eingang zu. Damit wusste Siralen, wo ihr Platz war. Sie begrüßte den General mit einem respektvollen „Tin salu ecra“, trat aus dem Türrahmen und machte den Weg frei. Dann schloss sie sich den beiden Gestalten an, die sich im Rücken des Vollblutkriegers eingefunden hatten und sich wie Schatten und Licht um eine Dissonanz aus sattem Grün schlossen.
Die Dissonanz hieß Lucretia L’Incarto und war wie gewohnt in stilvolle Seide gekleidet. Ihre roten Locken hatte sie zu einem festen Knoten am Hinterkopf gewunden, wobei ihr zwei Strähnen in sanften Wellen auf die nackten Schultern fielen. Es hätte ihrem sinnlichen Gesicht geschmeichelt, wäre da nicht diese entsetzliche Narbe gewesen, die sich wie ein zweites, blutrünstiges Lächeln über ihre Wangen zog. Doch angesichts des Mannes, der neben ihr stand, war Lucretia nahezu eine Augenweide. Obwohl der Fremde mit dem Narbengesicht Siralen an die unfertige Büste eines Amateurbildhauers erinnerte, begleitete ihn eine sanfte, warme Aura. Sie war ihm noch nie begegnet, erkannte ihn anhand seiner tadellosen Aufmachung und der weißen, festlichen Toga aber sofort als hochgestellten Priester – es konnte sich also nur um Telos Malakin handeln. Und damit war auch klar, zu wem der Schatten gehörte, der sich in aller Schärfe vom Weiß der Priestertoga abzeichnete.
Chara Pasiphae-Opoulos war ganz in schwarz gekleidet. Ausnahmsweise trug sie keine Lederrüstung, sondern ein Hemd über engsitzenden Hosen unter einem langen Mantel aus Wildleder. Waffen hatte sie keine dabei, oder doch zumindest keine sichtbaren. Zwei ihrer primitiven, von Kopf bis Fuß tätowierten Krieger begleiteten sie und trugen nichts als einen Rock aus Bast und Tierhaut um ihre Hüften.
Die Assassinin blickte nach vorne und fixierte aus ihren schwarzen Augen die Empore am Ende des roten Teppichläufers. Sie schien gar nicht registriert zu haben, dass Siralen zu ihr und den anderen gestoßen war.
Sie vermag es nicht so recht, das Licht vom Dunkel zu trennen, stahlen sich Langeladeons Worte in Siralens Kopf. Sie hatte den letzten Einsatz in Isahara unter Charas Kommando miterlebt und konnte nur einen einzigen Schluss daraus ziehen: Chara war eine Frau, die niemals aufgab.
„Wenn ich es richtig sehe, haben wir nur eine Möglichkeit, in die Hauptburg einzudringen. Von oben, mit anderen Worten, aus der Luft!“
Das war Chara. Nachdem van de Drakeen die Hoffnungslosigkeit eines Einstiegs in die Festung Isahara deutlich gemacht hatte, initiierte sie kurzerhand ein Selbstmordkommando. Und damit hatte die Assassinin die Drachen auf den Plan gebracht. Von den etwa dreißig Mann der Einheit, die unter ihrem Befehl in die Feste eingedrungen war, überlebte etwa die Hälfte. Erstaunlicherweise. Das Resultat war ein Sieg und die Eroberung einer der mächtigsten und bislang unbezwingbaren Festungen Amaleas.
„Tin salu ecra“, begrüßte Siralen die Assassinin und wurde von einem finsteren Blick in Empfang genommen. Ein knappes Nicken seitens der Hatschmaschin und Chara sah erneut nach vorne Richtung Podium.
„Oberhohepriester Telos Malakin“, wandte Siralen sich dem Priester zu.
Telos ergriff ihre Hand. „Es freut mich, Euch persönlich kennen zu lernen, Siralen. Agramon hämmere Eure Feinde!“
Sie erwiderte sein Lächeln, spürte aber, dass es ihr Gesicht nicht entspannte. „Die Freude ist ganz bei mir. Ich habe viel von Euch gehört.“
„Nicht alles davon ist wahr.“ Die Narbe unter seinem Auge zuckte, und Siralen ertappte sich dabei, wie der Anblick sie faszinierte. „Und manches Wahre ganz und gar unglaublich“, erwiderte sie.
Telos Malakin sah aus wie ein Mann, der sich von allen Zweifeln befreit hatte. Andernfalls wäre es ihm vermutlich auch nicht gelungen, zum obersten Priester des Agramon in Al’Jebals Gebiet aufzusteigen. Und es war der Priester, nicht der Mann, den Telos überzeugend verkörperte.
Nachdem Siralen von Lucretia mit einem „Wie schön, dass Ihr hier seid!“ begrüßt worden war, trat ein letzter Mann durch den Gang auf sie zu. Es war Anduin Storn, Kommandant des Bataillon D’Amur.
„Na, alle wohlauf?“, fragte er, zupfte sich den Kragen seines Waffenrocks zurecht und linste über die Schultern der anderen durch die Doppelflügeltür.
„Alles bestens“, erwiderte Chara, die sich nur kurz zu ihm umdrehte und dann wieder nach vorne sah. „Bringen wir’s hinter uns.“
Alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf das Podium am Ende des Teppichläufers. Siralen erkannte aus dem Augenwinkel, wie die Zwerge den Elfen alberne Gesten zuwarfen. Die Letzte der A’e’jil war bisher nicht zu sehen gewesen, was sie wenig betrüblich fand. Dafür erspähte sie jetzt einige Kidari-Krieger, die sich um ihren General Gaan El’Schiban gesammelt hatten.
Fanfaren ertönten. Die Menge verfiel in eine Art Spalierhaltung. Trommeln wurden laut und übertönten die Blasinstrumente. Ein tiefes, hallendes Donnern hob von den Seiten des Podiums an und rollte wie eine Sturmwand über die Köpfe der Menge hinweg. Der volle Klang von Hörnern mischte sich unter die Trommeln und der Saal wurde zu einem einzigen, gewaltigen Schallkörper. Im selben Augenblick flackerte das Feuer der Kandelaber über dem Eingangsbereich auf und tauchte sie in ein sattes Licht. Als hätte jemand einen Vorhang zurückgezogen, um dahinter die eigentliche Bühne zu präsentieren.
Die sonoren Stimmen eines Männerchors erhoben sich, und Siralen fühlte, wie die Musik sie ergriff und in einen seltsamen Sog zwang. Als ob die Schatten der Nacht vor einem neuen Morgen ihr Knie beugten … von Leid und Heil gleichermaßen erzählend, von Tod und Verderben, aber auch von einem siegreichen Kampf, von einer Reise ins Ungewisse. Die Hymne wurde in Echos von den Wänden zurückgeworfen und toste wie der Anfang vom Ende durch den Saal. Die Trommelschläge ließen Siralens Herz schneller schlagen, die tiefen Stimmen vibrierten wie Harfensaiten in ihrem Bauch.
Dies ist die letzte Etappe,
auf unserem Weg in den letzten Kampf.
Wir kämpfen gemeinsam,
doch heute sagen wir „Leb Wohl!“
Van de Drakeen setzte sich in Bewegung, und Siralen folgte ihm und den anderen den roten Teppichläufer entlang.
Mag sein, dass wir wiederkehren
in diese Welt, wer will es wissen?
Kann sein, dass niemand die Schuld daran trägt,
kann sein, dass wir Amalea vermissen,
doch heute werden wir gehen,
dem Wunsch zu bleiben widerstehen.
Wird es je wieder sein, wie es war?
Das Donnern der Trommeln dröhnte in Siralens Ohren, als ihre hallenden Schläge die Pause zur nächsten Strophe überbrückten. Sämtliche Augenpaare waren auf van de Drakeen und sie gerichtet. Da war Neugier in den meisten Gesichtern, aber auch Ehrfurcht, ein Hauch Melancholie und … Hoffnung. Der Auftritt der Spitze des Allianzheeres und seines Gefolges ließ die Menschen hoffen. Und während sie sich durch die Gasse bewegte, spürte auch sie den zaghaften Flügelschlag der Hoffnung in ihrer Brust.
Dies ist die letzte Etappe,
der letzte Kampf!
Wir sehen dem Abgrund entgegen,
und immer noch stehen wir aufrecht.
Kann sein, dass uns jemand da draußen erwartet,
kann sein, dass er uns willkommen heißt.
Über so viele Grenzen müssen wir gehen,
und so viele Dinge gilt’s zu entdecken.
Stets werden wir aufrecht stehen
und gewiss – wir werden euch alle vermissen.
Dies ist die letzte Etappe,
der letzte Kampf,
die letzte Etappe
Ohhh oh oh ohhh …
Es ist die letzte Etappe,
unser letzter Kampf.
Wir gehen gemeinsam
und wissen,
wir werden euch alle vermissen.
Eine Abfolge schwerer Trommelschläge kündete das Finale an und schien die Takte bis zum endgültigen Ende zu zählen. Mit dem letzten Donnern stiegen sie über die Treppe zum Podium hoch. Danach wurde es totenstill im Saal.
Al’Jebal betrat die Bühne. Zwischen seiner Rechten und Linken Hand, dem obersten Kommandanten der Landstreitkräfte Agem Ill und dem Schwarzen Assassinen Assef El’Chan, bewegte er sich ins Zentrum des Podiums und blieb unterhalb des Wappens der Allianz stehen. Die goldene Lilie unter dem aschranischen Letter A prangte, eingefasst von einem Kreis aus Dreiecken, die für die verbündeten Länder der Alliierten standen, wie ein Leitspruch über dem Sprecher der Allianz.
Nachdem sich Siralen zusammen mit den anderen hinter ihm und seinem Gefolge aufgebaut hatte, trat Al’Jebal nach vorne und blickte schweigend über die Menge. Als er endlich zu sprechen begann, schien es, als würde ein Aufatmen durch die Reihen gehen.
„Wir sind heute hier, um unseren ersten Sieg gegen das Chaosbündnis zu feiern“, bahnte sich seine tiefe Stimme einen Weg zum Publikum hinab. „In der Zerstörung Isaharas zeigt sich die Macht unserer Allianz. Einige haben in der Schlacht gegen das Chaos den entscheidenden Ausschlag gegeben. Neben dem Mut, dem Durchhaltevermögen und der außerordentlichen Kampfkraft des Allianzheers ist es vor allem ihnen zu verdanken, dass wir diesen Kampf gewinnen konnten.“
Eine Pause folgte, in der sich die Aufmerksamkeit der Anwesenden zu unverhohlener Neugier emporschwang.
„Wir ehren heute jene, die zu Recht als Helden gelten.“
Auf ein Zeichen hin trat der General nach vorne und positionierte sich neben Agem Ill.
„Der General der Allianzarmee Araguari Hathor Göttrik van de Drakeen!“, kommentierte Al’Jebal und seine Hand schwang kaum merklich in Richtung des Kriegshelden. Unter tosendem Applaus schüttelte Agem Ill dem General die Hand und legte ihm einen Orden um den Hals, woraufhin lauter Jubel ausbrach.
Siralen versuchte einen Blick auf das goldene Medaillon zu erhaschen und erkannte auch dort das Allianzwappen.
„Meine Güte, wenn ich das gewusst hätte, ich hätte diesen Tag nicht überstanden“, murmelte Lucretia an ihrer Seite. „Den Mächten sei Dank, hat Al’Jebal uns nichts über den eigentlichen Grund dieser Feier gesagt.“
Siralen wusste nichts darauf zu sagen. Im Augenblick hatte sie selbst alle Hände voll damit zu tun, die Fassade des Gleichmuts zu wahren. Al’Jebal inszenierte hier offensichtlich eine Art Kulisse der Glorie, um einen unausweichlichen, beängstigenden Krieg in einem ermutigenden Licht erstrahlen zu lassen. Er malte Pathos in das Grauen, von dem anzunehmen war, dass das Menschenvolk es nötig hatte, um das dräuende Schicksal anzunehmen. Und vermutlich tat er gut daran.
Nachdem van de Drakeen zur Seite getreten war, setzte Al’Jebal seine Ansprache fort: „General Göttrik van de Drakeen hat die Allianzarmee zum Sieg geführt. Doch den Weg zum Sieg ebneten diejenigen, die der Armee vorausmarschierten.“ Al’Jebals Hand glitt erneut zur Seite. „Die Speerspitze der Allianz!“
Wie mechanisch machte Siralen einen Schritt nach vorne. Ebenso wie Lucretia, Telos, Chara und Storn.
„… darunter der Kommandant des Bataillon D’Amur, Anduin Storn und die Kommandantin der Elfen Siralen Befendiku Issirimen Desin Suren Illju Kogena Senambra.“
Das war ihr Stichwort, wenn auch ein reichlich langes. Agem Ill schenkte Siralen einen respektvollen Blick, als er ihr die Hand reichte und ihr gratulierte. Ein Orden wurde ihr nicht umgehängt, worüber sie nicht unglücklich war. Sie gehörte ja auch nicht zum Kommando der Speerspitze.
Nachdem auch Anduin Storns Leistung mit einem Handschlag gewürdigt worden war, erklang erneut tosender Applaus, in den sich der eine oder andere eifrige Zuruf seitens Storns Bataillonskrieger mischte.
„Die Kommandanten der Speerspitze!“, kam Al’Jebal auf den Rest der Ehrengäste zu sprechen.
Siralen wandte sich um und sah, wie sich Lucretia nervös ihren Rock zurechtzupfte, den Kopf in den Nacken warf und zusammen mit Telos an die Seite des Allianzsprechers trat. Danach wurde es still und alle Augenpaare richteten sich auf Chara. Die Assassinin hatte sich nicht von der Stelle bewegt.
Al’Jebal drehte sich um. Die Flamme einer der Fackeln an der Rückwand knackte laut. Chara sah ihren Namai an. Der Namai musterte seine Assassinin. Schließlich zog Chara die Hände aus den Manteltaschen und bezog neben Telos Position. Sofort nahmen die beiden goygoischen Krieger sie in ihre Mitte und präsentierten demonstrativ ihre primitiven Stabkeulen.
„Telos Malakin, Oberhohepriester des Agramon“, setzte Al’Jebal ohne Umwege fort, „Schlächter von Urdhaven!“
Telos’ Gesicht blieb ohne erkennbare Regung, als er den Orden und den Applaus entgegennahm, der ihm von unterhalb der Bühne entgegendonnerte. Erst als sich die Stimmen seiner Glaubensanhänger aus der Menge erhoben und ihm zujubelten, erlaubte er sich ein bescheidenes Lächeln.
„Telos Malakin hat mehrfach bewiesen, dass er ein würdiger Vertreter Agramons ist“, warf Al’Jebal in die Menge. „Für seine Leistungen und seinen Einsatz im Kampf gegen Caeir Isahara, verleihe ich ihm den Titel Held der Allianz.“
Jetzt stand Telos der Stolz ins Gesicht geschrieben, und selbst Siralen freute sich für ihn, obwohl sie den Oberhohepriester kaum kannte. Dies hier war ein Zeremoniell, wie es den Menschen allzu eigen war. Und doch, die Euphorie und die Zuversicht, die alle Anwesenden ausstrahlten, mussten selbst das Herz einer Eisskulptur zum Schmelzen bringen. Allerdings stand die Freude in kaum einem der Elfengesichter zu lesen, und einen Lidschlag lang bedauerte Siralen diese Tatsache.
„Magus Secundus Minor Lucretia L’Incarto!“, fuhr Al’Jebal fort. „Sie hatte das Kommando über die Schlacht in Cunair Tarr. Ihre magischen Fähigkeiten ermöglichten es dem Allianzheer, die Tür nach Isahara zu öffnen. Sie ist der Schlüssel zu Caeir Aun’Isahara. Und eine Heldin der Allianz.“
Lucretias Wangen waren feuerrot, als sie unter allgemeinem Applaus von Agem Ill ihren Orden um den Hals gelegt bekam und sich neben Telos stellte.
Es wurde wieder still und die Blicke wanderten erneut zu Chara. In vielen der Gesichter zeichneten sich stumme Fragezeichen ab. Warum ist ausgerechnet eine Assassinin unter den Würdenträgern?
Einen Moment lang schien Charas steinerne Miene in Bewegung zu geraten. Doch das war ein Trugschluss, der wohl dem flackernden Licht der Fackeln und Feuerschalen geschuldet war.
„Chara Pasiphae-Opoulos!“, entließ Al’Jebal den Namen der Assassinin schnörkellos in die Menge und seine Hand wies kaum merklich in ihre Richtung. „Das Sandkorn auf der Schicksalswaage.“
Ein leises Raunen ertönte im Saal. Getuschel hob an, verebbte aber sofort wieder, als Al’Jebal fortsetzte: „Der Krieg gegen Caeir Isahara hat ihr die Namen Verteidigerin von Cunair Tarr und Todesverächterin eingebracht. Unter ihrem Kommando gelang es der Speerspitze, in die Festung Isahara einzudringen und dem Allianzheer auf diese Weise Zutritt zu verschaffen. Ihrer Entschlossenheit und ihrer Vorgehensweise ist es zu verdanken, dass eine uneinnehmbare Festung einnehmbar wurde. Auch ihr verleihe ich heute den Titel Heldin der Allianz.“
Der Applaus kam reichlich verhalten. Doch nach und nach wurde er lauter und am Ende war überdeutlich, dass es keine Rolle spielte, was Chara war. Es zählte nur noch, was sie geleistet hatte. Jedenfalls für den Augenblick.
Chara erhielt ihren Orden nicht von Agem Ill, sondern von Assef El’Chan. Als er ihr gegenübertrat und ihr das Allianzwappen um den Hals legte, ging ein stummer Blickwechsel zwischen den beiden vonstatten, den Siralen nicht deuten konnte. Es entging ihr allerdings nicht, dass Chara den Orden umgehend unter ihrem schwarzen Hemd verschwinden ließ.
„Der Krieg hat begonnen“, setzte Al’Jebal fort. „In den nächsten Tagen wird eine Flotte aus Tamang aufbrechen. Sie wird sich auf eine Expedition begeben, deren Ziel es ist, weitere Verbündete zu finden und den Sieg der Allianz in diesem Krieg zu sichern.“
Schlagartig wurde es unruhig unterhalb des Podiums. Expedition? Mit welchem Ziel? Hatte Al’Jebal nicht längst alle Winkel Amaleas nach Verbündeten abgesucht?
„Die Helden der Allianz werden diese Expedition anführen“, fuhr Al’Jebal fort und die Menge verstummte. „Wenn es ihnen gelingt, sie zum Erfolg zu führen, wird Amalea einer neuen Zukunft entgegenblicken können. Unser Schicksal liegt in ihren Händen. Während sie fort sind, werden wir kämpfen und auf ihre Widerkehr warten. Möge die Zukunft unter dem Zeichen der Allianz stehen!“
Noch während Siralen darüber nachdachte, wie wahrscheinlich es wohl war, dass sie den Großen Abgrund überwinden würden – eine Tatsache, die Al’Jebal wohlweislich verschwiegen hatte – nahm der Sprecher der Allianz sie und die anderen Helden ins Visier.
„Einer von uns sollte etwas sagen“, murmelte Lucretia aufgeregt. „Wie wäre es mit dir, Chara? Immerhin bist du das Sandkorn, was auch immer das heißen mag …“ Sie verstummte und ihr Ausdruck wurde demonstrativ, woraufhin auch Al’Jebal Chara fixierte.
Die Geste reichte, um die Assassinin in Bewegung zu versetzen. Sie trat zwischen Al’Jebal und Assef El’Chan an den Rand der Tribüne und taxierte die Gesichter in der Menge.
„Richtig … ich sollte etwas sagen. Immerhin bin ich jetzt eine Heldin“, begann sie und ein paar Matrosen beugten sich unwillkürlich nach vorne. „Ich glaube, ich habe euch noch nicht erzählt, dass man mich unter anderem auch Chaosbringerin nennt.“
Wieder schwoll ein Raunen an und finstere Blicke schossen in Richtung Bühne. Chara schien die Entrüstung regelrecht willkommen zu heißen. Aller Erwartung zum Trotz lag der Anflug eines Lächelns auf ihren Lippen.
„Namen …“, setzte sie leise fort. „Sie sind so bedeutungslos wie ich und jeder einzelne der hier Anwesenden, der etwas bedeuten will. Wir sind nicht hier, um uns gegenseitig auf die Schulter zu klopfen. Wir sind nur aus einem Grund hier: Wir erfüllen einen Zweck. Und nur solange wir einen Zweck erfüllen, haben wir das Recht, überhaupt hier zu sein. Die kommende Expedition entscheidet alles. Jeder von euch, der mehr sein will als ein bloßer Name, hat jetzt die Gelegenheit, sich dieser Mission anzuschließen. Wir brauchen jeden einzelnen, der mit Mut und vor allem Rückgrat ausgestattet ist. Denn …“, sie trat noch einen Schritt nach vorne, „… scheitert diese Mission, wird Amalea untergehen.“
Die Mienen der Zuhörer reichten nun von Missachtung, über Besorgnis bis hin zu Neugier. Siralen spähte zu Al’Jebal. Der Begründer der Allianz hatte Chara im Blick, wirkte aber weder beunruhigt, noch zornig. Und doch hatte Chara gerade seine Rede in Frage gestellt. War ihr das bewusst? Sie sah nicht danach aus. Vielmehr vermittelte sie den Eindruck, als hätte sie sich gerade freigeredet. Als wäre sie für einen vergänglichen Augenblick nicht Al’Jebals Assassinin, sondern einfach nur Chara – eine Frau, die sagte, was sie dachte, ohne an die Konsequenzen zu denken.
Chara fuhr sich über ihr schwarzes Stoppelhaar und verlagerte ihr Gewicht von einem auf das andere Bein.
„Alles, was sich die Allianz bis jetzt aufgebaut hat, wird null und nichtig sein, wenn diese Mission scheitert. Alles, was sich die Allianz bis jetzt aufgebaut hat, wird Sinn ergeben, wenn sie erfolgreich ist. Diejenigen unter uns, die leben und für den Sieg der Allianz kämpfen, werden fortleben, wenn wir erfolgreich sind. Diejenigen unter uns, die leben und für den Sieg der Allianz kämpfen, werden sterben, wenn wir scheitern. Ist die Mission erfolgreich, gibt es eine Zukunft für die Allianz. Scheitern wir, stirbt unser Gestern, unser Heute und unser Morgen.“
Sie verstummte und steckte ihre Hände zurück in ihre Manteltaschen. Niemand regte sich.
„Im Namen des hier anwesenden Expeditionskommandos fordere ich euch dazu auf, euch für die kommende Mission freiwillig zu melden!“
Damit kam Chara abrupt zum Ende. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und kehrte an ihren Platz in der Reihe zurück.
Siralen runzelte die Stirn. Die Assassinin hatte in ihrer Rede so ziemlich jeden diplomatischen Missgriff begangen, der ihr einfiel. Doch eines konnte man nicht abstreiten – ihre Rede zeigte Wirkung. Sie wurde auf zweierlei Art honoriert: Mit einem tiefen, unangenehm berührten und zum Teil zornigen Schweigen auf der einen und jeder Menge neugieriger Blicke auf der anderen Seite. Schwer zu sagen, wer welcher Seite angehörte.
Schließlich übernahm erneut Al’Jebal das Wort und änderte damit binnen eines Herzschlags die Stimmung im Saal. „Die Feier ist eröffnet!“