Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto - J. H. Praßl - Страница 19
ОглавлениеEin Versprechen
Ich bin ein Gesichtsloser, dessen Bestreben es ist, euch allen, die ihr Teil einer epochalen Veränderung seid, mit der Wahrheit zu konfrontieren. Dies ist der Beginn einer Suche. Und jedes Mitglied dieser Mission ist aufgerufen, an dieser Suche teilzunehmen.
(LC, 1. Manifest, 2. Trideade im Drachenmond, 348 nGF)
Die gigantische Felsengrotte, die in ihrem steinernen Schoß den Hafen Tamangs barg, war hell erleuchtet und voll von hektischem Leben. Matrosen verluden die letzten Fuhren Mannschaftsgepäck, Waffen, Rüstungen und Kriegsgerät, Proviant und Schiffsgut, Holz für die Reparaturarbeiten, die unterschiedlichsten Metalle für die Herstellung von Waffen sowie Schmuck, Stoffe aller Arten und Farben für den Handel – Seide aus Rawindra, Wolle aus Alba, Leinen aus Aschran, Tüll und Spitze aus den Küstenstaaten, Leder in rauen Mengen …
In dem Hauptbecken der Anlage, das von zehn kleineren zur Mitte hin offenen Felsenbecken umgeben war und von welchem zwei geflutete Tunnel wegführten, lagen hundert Schiffe der tausend Schiff großen Expeditionsarmada. Während die restlichen Teilflotten in den Nebenbecken darauf warteten, ihre Mannschaften an Bord zu nehmen und sich einer letzten Aufrüstung zu unterziehen, gingen die Hafenarbeiter daran, die Kommandoflotte auf Vordermann zu bringen. Die Drachenboote der Vallander zogen zwischen den gewaltigen Schiffsleibern der Transporter und Güldenmaid-Segler ihre Kreise und brachten Frachtgut und Besatzung an Bord jener Schiffe, die in zweiter oder dritter Reihe dümpelten. Die gesamte Armada war in zehn autarke Teilflotten gesplittet, die sich aus je zehn Kriegsschiffen, zehn Allzweckschiffen, zehn Mannschaftstransportern, fünfundsechzig Versorgungstransportern und fünf Drachen zusammensetzten. Nach dem Verlassen des Hafens würden die einzelnen Flotten in Doppelkeil-Formation gehen, wobei die Allzweck- und Kriegsschiffe in Flottillen zu je zwei oder drei Schiffen die Mannschafts- und Versorgungstransporter säumten. Die Drachen würden als unabhängige Kundschafter an den Flanken Position beziehen. An der Spitze jeder Flotte segelte das Kommandoschiff des betreffenden Vizeadmirals. Im Falle der Kommandoflotte handelte es sich dabei um das Flaggschiff der Armada, kommandiert von dem neuen Admiral Tauron Hagegard. Der stolze Güldenmaid-Segler trug den Namen Meerjungfrau, rühmte sich der anmutigen, in Bronze gegossenen Gestalt einer eben solchen am Bug und stand schon jetzt im Mittelpunkt aller Schaulustigen. Dem Abschied entgegentrauernde Angehörige hatten sich neben den Hafenarbeitern und den Besatzungsmitgliedern im Zentrum Tamangs eingefunden. Während ein Gutteil der Leute hart anpackte, sammelte sich ein anderer Teil gaffend um den Felsenkessel in der Mitte der Grotte.
Flotte Eins und Zwei waren bereits durch einen der beiden Kanäle und das von den Zwergen gefertigte, von außen gänzlich unsichtbare Hafentor auf das offene Meer der Ruhe hinausgerudert worden. Während sechs Teilflotten noch in den Leibungen der Hafenanlage auf ihren Einsatz warteten, neigte sich die Arbeit an Flotte Drei und Vier allmählich dem Ende zu.
Ein Stampfen wie von einer Horde Elefanten hallte von den nackten Felswänden wider. Die schwer gerüsteten Pioniereinheiten der Zwerge marschierten in der Hafenanlage auf und steuerten die Beckenleibung entlang auf ihre jeweiligen Mannschaftstransporter zu. Ihnen folgte Brigadier Ragna MacGythrun – ein albischer Adeliger, von dem es hieß, er wäre einer jener Rebellen aus den Reihen der MacGythruns, die sich nach ihrem Aufstand gegen ihren Clanag Adrian einst Al’Jebal angeschlossen hätten. Zusammen mit zehn Infanteriekompanien des insgesamt viertausend Mann starken Regiments der Landstreitkräfte hielt er auf die Mannschaftstransporter zu. Als handelte es sich dabei um eine Heerschau, ging ein Jubel durch die Reihen jener, die dem Aufbruch der Armada beiwohnten.
Nachdem die Truppen an Bord gegangen waren, hallte ein fernes Donnern in die Felsengrotte und der Jubel verstummte mit einem Mal. Die Hektik unter den Hafenarbeitern fror ein und sämtliche Gesichter wandten sich dem Tunnel zu, in dem der dumpfe Schlag mächtiger Huftiere laut geworden war. Kurz darauf tauchten zwanzig Kentauren in der Grotte auf und trabten in Zweierreihen eine der Kaizungen entgegen, die aus der Leibung des Beckens ins Wasser ragten. Beim Anblick der stolzen und seltenen Wesen ging ein verhaltenes Raunen durch die Menge. Doch kaum, dass die Pferdemenschen ihre hehre Gestalt Preis gegeben hatten, tauchten sie auch schon wieder ab und verschwanden in den Schiffsbäuchen der eigens präparierten Transporter.
Der Verlust war verschmerzbar, denn schon im nächsten Augenblick folgte ein neuer Höhepunkt: Aus der dem Flaggschiff am nächsten gelegenen Tunnelöffnung schälten sich die Konturen mehrerer Personen. Und die meisten davon waren jedem Allianzmitglied bekannt.
Flankiert von seiner Rechten und Linken Hand, Agem Ill und Assef El’Chan, und begleitet von seinem Blutsbruder Freon Eisfaust, betrat Al’Jebal die Hafenhalle. In der vertrauten Tracht der dunkelroten Robe hielt er auf den Pier und den gemauerten Steg zu, an dem die Meerjungfrau lag.
Wenige Schritte nach dem Sprecher der Allianz kamen drei Zauberkundige aus dem Tunnel, darunter eine Frau mit feuerrotem Haar an der Seite eines etwas dicklichen Magiers in nachtblauer und einem hageren in bunter Robe, den einige als einen der höchstrangigen Zauberkundigen der Allianz wiedererkannten. Sein Name war Ahrsa Kasai.
Danach betrat eine Kriegerin in grau-grüner Tunika und lederner Schwertscheide am Rücken den Hafen. Ihr silbergraues Haar entlarvte sie als eine aus dem Volk der Elfen. Hinter ihr, an der Seite einer jungen, hübschen Zauberkundigen mit strengem Haarknoten, schritt ein missgestalteter Mann in weißer Toga mit roter Schärpe, den die meisten als Oberhohepriester des Agramon Telos Malakin kannten. Und während beim Anblick der Kommandanten der Expedition neugierige und meist wohlmeinende Blicke getauscht wurden, nahm man jene Männer, die sich kurz darauf aus dem Dunkel des Tunnels schälten, mit finsterem Argwohn zur Kenntnis. Man hatte bereits von den Kriegern gehört. Sie waren von der Allianz als Verbündete im Kampf gegen das Chaos vorgestellt worden. Die Wahrheit aber war, dass die Männer, angeblich von den Kabugna-Inseln, einzig und allein dem Schutz jener Frau dienten, die zwischen ihnen die Hafenanlage betrat. Chara Pasiphae-Opoulos verschwand förmlich in der Menge der tätowierten Halbnackten, und nur das Schwarz ihrer Assassinenkleidung war ab und an zu sehen.
Alles in allem also eine aufregende Darbietung der Allianzführung einerseits und des Expeditionskommandos andererseits, was eines übereifrigen Getuschels allemal würdig war:
„Habt ihr diese Wilden gesehen? Sind eindeutig Kannibalen, wenn ihr mich fragt.“
„Wie kommt’s, dass die eine Assassinin bewachen?“
„Eine Elfenkriegerin im Kommando … na, das kann ja heiter werden.“
„Wisst ihr überhaupt, dass die Lächlerin den mächtigsten Nekromanten aller Zeiten niedergestreckt hat?“
„Das ist nicht wahr … er war nur ein Anfänger. Telos Malakin, der weiß, wie man das Chaos in den Boden hämmert. Hat den Propheten Togh Levas in die Unterwelt geschickt und ein ganzes Dorf voller Chaosanhänger ganz allein gehämmert.“
„Weiß jemand von euch, wieso man sie Sandkorn nennt? Ich meine, was hat der Name überhaupt zu bedeuten?“
„Klein, unwichtig, scheuert penetrant, wenn man es ins Auge bekommt …“
„Es heißt Sandkorn auf der Schicksalswaage – Na, klingelt da was bei euch?“
Es wurde gemunkelt, spekuliert, gepriesen und prophezeit, aber keiner ließ sich dabei die Gelegenheit durch die Lappen gehen, die berüchtigten Allianzmitglieder ganz genau in Augenschein zu nehmen.
Lucretia hatte sich in feines, aber zweckdienliches Tuch gekleidet. Sie trug einen kurzen Hosenrock, eine hochgeknöpfte Bluse und einen Lodenumhang. Ihr wichtigstes und sehr geschätztes Hab und Gut hatte sie in drei große Holztruhen verpackt, die bereits an Bord der Meerjungfrau geschafft worden waren. Jetzt stand sie mit einem leichten Handkoffer, den breitkrempigen Hut zwischen Finger und Henkel geklemmt und einem seltsam euphorischen Gefühl im Bauch vor dem Sprecher der Allianz. Neben ihr unterhielt sich Stowokor leise mit ihrem Berater Magus Primus Major Ahrsa Kasai.
Ein leises Räuspern, dann wandte sie sich Al’Jebal zu. „Ich danke Euch für die Unterstützung, die Ihr mir in Gestalt des Magus Primus zur Seite gestellt habt“, begann sie und nickte verhalten in Kasais Richtung. „Soweit ich informiert bin, war er es, der einen Großteil der Besatzungsmitglieder geprüft und ausgewählt hat. Und nach allem, was ich bis jetzt von ihm sehen durfte, ist er über seine magischen Fähigkeiten hinaus auch ein hervorragender Logistiker.“
Al’Jebal warf dem Magus einen kurzen Blick zu, schien in Gedanken aber woanders zu sein.
„Er ist kompetent“, lautete seine schmucklose Antwort. „Was Euch betrifft, erinnert Euch, was ich Euch gesagt habe.“
Natürlich erinnerte sie sich. Sie wusste genau, dass ihr in Erainn misslungen war, was sie sich so strikt vorgenommen hatte. Sie hatte ihre Untergebenen nicht von sich überzeugen können. Und das war es, worauf es laut Al’Jebal ankam, wenn man sich Macht erwerben wollte. Ihre magischen Fähigkeiten allein reichten dafür nicht aus. Außerdem erinnerte sie sich an die Situation im Kerker von Mon Asul. Sie war bereit gewesen, die Würde und das Leben eines Mannes zu opfern, um ihr altes, schönes Gesicht zurückzubekommen und die schreckliche Narbe endlich loszuwerden, die sie sich in Cunair Tarr zugezogen hatte. Sie hätte den infamen Helm benutzt. Doch Al’Jebal hatte es im letzten Moment unterbunden und ihr damit eine Lehre erteilt.
Ihr werdet mit Eurem Makel leben müssen. Seine Worte verursachten ihr noch immer Albträume. Was Al’Jebal offenbar nicht honorieren wollte, war, dass sie für ihn an ihre Grenzen gegangen war. Sie hatte erlebt, wie es war, sich ohnmächtig zu fühlen. Doch jetzt war es an der Zeit, voranzuschreiten und sich von dem Schmutz der vergangenen, entwürdigenden Ereignisse des Krieges reinzuwaschen. Eine Expedition versprach neue Ufer, unbekannte Dinge und Wesen, die es zu entdecken und verstehen galt, neue Herausforderungen für die Magie, die sich fortlaufend weiterentwickelte – eben alles andere als das, womit ein offener Krieg in all seinen blutigen, dreckigen und elenden Facetten aufwartete.
Lucretia zupfte sich eine Locke aus der Stirn und sah Al’Jebal aufrecht in die Augen. „Ich erinnere mich an Eure Lehren und werde ihrer gedenken“, sagte sie mit allem Ernst, der ihr innewohnte. „Ich werde hart an mir arbeiten.“ Lucretia fühlte, wie allein durch diese Worte neue Zuversicht in ihr zum Leben erwachte. „Lebt wohl, Al’Jebal.“
„Viel Erfolg, Magus Secundus“, antwortete Al’Jebal, und Lucretia machte sich auf den Weg zur Planke. Der neue Titel eines Magus Secundus klang ihr wohlig in den Ohren. Nach ihrer letzten Ausbildung hatte sie der oberste Zauberkundige Gemiramel Weißfels in den nächsthöheren Rang einer Magierin aufsteigen lassen. Neben ihrem Ehrentitel war dies eine Bestätigung dafür, dass ihre Leistungen nicht unbemerkt geblieben waren.
Als sie die Planke betrat, streifte Lucretias Hand über die Lederrolle an ihrem Gürtel.
Was wollt Ihr? Wir können Euch helfen.
Sie hatte die Botschaft aus unbekannter Feder beantwortet oder besser, eine Frage zurückgeschickt, in der Hoffnung, mehr über den Verfasser zu erfahren. Die Antwort war nicht gerade hilfreich gewesen: Jemand, der Euch geben kann, was Ihr Euch wünscht.
Sie hatte sich vorgenommen, einstweilen nicht darauf zu reagieren, erst einmal abzuwarten. Noch hatte sie mit Stowokor nicht über ihr Antwortschreiben gesprochen. Und irgendetwas mahnte sie davor, es in nächster Zeit zu tun.
„Wir bitten um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen!“, rief sie dem Admiral zu, der in eben diesem Moment an Deck der Meerjungfrau erschien und ihr selbstbewusst entgegenpfefferte: „Erteilt!“
Lucretia stieß ein leises Seufzen aus und winkte Stowokor und Ahrsa Kasai heran, die zusammen mit ihr das Schiff bestiegen.
Chara stand hinter Telos, seiner Geliebten, Sarah El’Rohir, und Siralen und schielte zwischen deren Schultern zu Al’Jebal, der sich gerade von Lucretia verabschiedet hatte. Über ihrer Schulter hing ihr kleiner Lederrucksack und eine wasserdichte Lederrolle, in der sie die schwarze Rose verwahrte. Ihre Waffen trug sie alle bei sich, darunter ihre Zweililie, drei Nahuas, zwei Dolche, zwei Wurfmesser, drei Wurfsterne und die Peitsche. Ihre magische Rüstung hatte sie zusammen mit ihrer spärlichen Garderobe, einigen Gebrauchsgegenständen, darunter eine ganz beachtliche Menge an Hatschmana und Jhu-Ju, und fünf ihrer kleinen, noch unbeschriebenen schwarzen Bücher in eine Truhe verfrachtet.
Nachdem sie den Hafen betreten hatte, war auch Kerrim aufgetaucht und hatte sich an ihre Seite gedrängt.
„Aufgeregt?“, hatte er gefragt und ihr dabei draufgängerisch zugezwinkert. Als sie nur ein grummelndes „Hm“ zur Antwort gab, hatte er es dabei belassen und vertrieb sich nun die Zeit damit, die Hafenanlage mit seinen Blicken zu erkunden.
Vierzig weitere Dad Siki Na … Chara sah nach ihren neuen Leibwachen. Dreißig davon verteilten sich über den Hafen und suchten die ihnen zugewiesenen Schiffe der Kommandoflotte, während dreiundzwanzig zusammen mit ihr und den anderen Expeditionsmitgliedern an Bord des Flaggschiffs gehen würden.
Die Aussicht darauf, in Zukunft von sagenhaften dreiundfünfzig Stammeskriegern verfolgt zu werden, war nicht gerade erhebend. Überhaupt war ihr der Gedanke daran, dieses Schiff zu besteigen und auf den weiten Ozean zu segeln, eine regelrechte Drangsal. Zum ersten Mal verspürte sie das brennende Bedürfnis, Al’Jebals Befehl zu verweigern – nicht indirekt, wie sie es bereits getan hatte, sondern von Angesicht zu Angesicht. Einfach vor ihn hintreten und „Nein“ sagen. Nein zu diesem Auftrag, Nein zu ihren neuen Leibwachen, Nein zu ihrer Kommandoposition, Nein zu seinem Entschluss, sie ins Nirgendwo zu schicken, während er hier gegen das Chaosbündnis in den Krieg zog. Die Expedition war wichtig, sicher. Sie selbst hatte während der Allianzfeier klar gemacht, wie wichtig sie war. Aber sie, Chara, konnte nicht viel zu ihrem Gelingen beitragen. Sie war hier in Tamang besser aufgehoben.
Die Zweililie an ihrem Rückengurt drückte unangenehm gegen ihre Wirbelsäule, als sie einen weiteren Schritt in der Reihe nach vorne machte. Telos würde hoffentlich länger mit Reden brauchen als Siralen, die sich, ihrer Rasse kaum angemessen, sparsam verabschiedet hatte.
Ein Blick auf ihren Lehrmeister Assef El’Chan signalisierte ihr, dass der Schwarze Assassine sie im Auge hatte – sie und Kerrim. Das magische Artefakt, das Al’Jebal erwähnt und Kerrim überantwortet hatte, jenes Ding, das ihr auf unbestimmte Zeit die Kommunikation mit dem Namai ermöglichen sollte, war der Beweis für Al’Jebals Vertrauen in ihren braunäugigen Kollegen.
Telos und Sarah traten zur Seite und die tiefrote Robe schob sich in Charas Blickfeld. Mit einem seltsam hohlen Gefühl im Bauch trat sie vor den Sprecher der Allianz. Einst hatte sie geglaubt, in ihm der Weisheit letzten Schluss erkannt zu haben. Und noch immer war sie überzeugt davon, überzeugt von dem Namai in ihm, der über allen Dingen stand.
„Chara“, empfing Al’Jebal sie ruhig. „Dein Wille zum Kampf scheint sich diesmal in Grenzen zu halten.“
Chara schluckte. Ihre Kehle war wie ausgetrocknet. „Ich bin nur nicht besonders scharf darauf, endlos, vielleicht sogar sinnlos auf dem Ozean herumzusegeln, während der eigentliche Kampf hier ausgetragen wird.“
Zugegeben, das klang aufmüpfig. Aber das war ihr im Augenblick egal. Sollte er sie doch festnehmen und in einer Zelle schmoren lassen. Dann bliebe sie wenigstens in Tamang und die vermaledeite Mission hätte sich für sie erledigt.
„Wie lautet deine erste Maxime?“
Chara verzog das Gesicht. Tatsächlich musste sie kurz nachdenken.
„Finde einen Zweck, der es dir erlaubt, dein Leben dem Tod vorzuenthalten und erfülle diesen Zweck.“
Ein kaum merkliches Nicken. „Du hast deinen Zweck noch nicht gefunden, auch wenn du das glaubst“, antwortete er. „Deine Bestimmung wirst du erst jenseits des Großen Abgrunds finden.“ Sein Blick zuckte zu Kerrim und es schien, als würden die beiden sich auch ohne Worte einwandfrei verstehen.
„Na, dann werde ich ainmal verabschieden mich“, meinte Kerrim. Er ließ sich von Al’Jebal alles Gute wünschen und schlenderte pfeifend zur Laufplanke.
Chara war schon drauf und dran, ihm zu folgen, doch Al’Jebal hielt sie zurück.
„Sieh mich an, Chara.“
Sie folgte der Anweisung widerstrebend.
„Versprich mir, dass du zurückkehrst.“
Sie schluckte erneut. Ein Versprechen? Wieso befahl er es ihr nicht einfach?
Chara hätte gerne „Nein“ gesagt, nur um irgendetwas in ihm auszulösen, obwohl sie wusste, dass das unmöglich war. Nicht sie. Nicht bei einem wie ihm.
„Ich verspreche es“, sagte sie hohl.
„Gut.“
Da war sie wieder – diese seltsame, abstruse Nähe zwischen ihnen, die sie schon bei ihrem letzten Gespräch gefühlt hatte. Näher!, hätte sie am liebsten geschrien, nur um ihn im selben Atemzug ans Ende der Welt zu wünschen.
„Pass auf dich auf, Chara.“
Und damit endete der Abschied und eine seltsame Leere ergriff Besitz von ihr. Al’Jebal wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und schritt mit Assef El’Chan zu Agem Ill und Freon Eisfaust. Betäubt starrte sie ihm hinterher. Ein letztes Mal nahm sie den vertrauten Anblick des Magiers in roter Robe in sich auf, fühlte das Band, das die Assassinin so unwiderruflich an ihren Meister fesselte, und brach schließlich den Bann, in den Al’Jebal sie jedes Mal zog, wenn er ihr so nahe war wie jetzt gerade.
Behäbig drehte sie sich um, schob den Gurt ihres Rucksacks zurecht, ließ sich von Nok und Iti in die Mitte nehmen und stiefelte über die Laufplanke Richtung Reling.
„Kann ich an Bord kommen?“, knurrte sie Tauron Hagegard entgegen, als sie einen Fuß bereits auf dem Hauptdeck hatte.
„Ja doch, Flottenoberkommandantin!“, kam es leicht ungehalten zurück. „Schätze, die Frage gilt auch für deine Jungs, was? Jep, kommt nur alle auf mein Schiff. Ist ja genug Platz hier.“
Chara ignorierte ihn und steuerte, gefolgt von dreiundzwanzig Dad Siki Na, die Luke zu den Unterdecks an.
„Die Treppe runter, durch die Mannschaftsunterkünfte in den Korridor Richtung Heck, erste Tür Steuerbord!“, rief ihr Tauron hinterher. „Keine Ursache! Immer wieder gern!“
Tauron verdrehte die Augen und wandte sich an seinen Kapitänsanwärter. „Elende Landratten sind das. Es wird Monde dauern, bis die den Unterschied zwischen abtakeln und abseilen kapieren.“
Gardwain Arkos schüttelte lächelnd den Kopf und machte sich daran, die Matrosen an ihre Plätze zu scheuchen. „Los los los! Ich seh’ hier noch keinen schwitzen!“
„Taue lösen!“, brüllte Tauron, während er, zwei Stufen auf einmal nehmend, zum Poopdeck hochsprang. „An die Riemen! Bringt dieses prachtvolle Weib auf die See hinaus!“
„Aye Käpt’n … Admiral!“
„Das will ich doch meinen. Sobald wir durch das Hafentor sind, Formation einnehmen!“
Tauron ließ seine Augen über den Pier gleiten. Hände und Taschentücher gingen nach oben und flatterten den aus dem Hafen gleitenden Schiffen hinterher. Zurückgelassene Ehefrauen und -männer verabschiedeten sich in traditioneller Manier – manche von ihnen mit ihren Kindern an der Seite. Irgendwo zwischen all den Leuten, da war er sich ziemlich sicher, stand auch die Kleine, mit der er sich gestern Nacht die Zeit vertrieben hatte, was recht vergnüglich, aber nicht sonderlich nachhaltig gewesen war. Ihm selbst war ganz und gar nicht nach Abschiedsschmerz oder gar Tränen zumute. Vor ihm stand das größte Abenteuer, die größte Herausforderung, der er sich je gestellt hatte, und er liebte Herausforderungen.
„Ho sing ich, wenn ich die Segel hisse“, brummte er und stützte sich mit dem Ellbogen auf das Geländer des Poopdecks, von wo aus er einen herrlichen Blick über das Hauptdeck bis hin zum Bug der Meerjungfrau hatte.
„Ho, wenn auf See ich meinen Schatz vermisse“, nahm Gardwain, der gerade an seine Seite getreten war, das alte Seemannslied auf.
„Ho treibt mein Ruf und Wort die Mannschaft an. Ho rufen sie und ziehen die Wanten an.“
Das linke Bein Gardwains begann zu wippen und der Stiefelabsatz schlug einen rasanten Rhythmus an.
„Ho, das Lied der See ist meine liebste Weise, und keine Frau der Welt verdirbt mir diese Scheiii … fenblase.“ Einmal breit gegrinst, einmal tief Luft geholt und der Kapitänsanwärter fand seinen Rhythmus wieder. „Hoja, so lässt sich allen Wettern trotzen, auch wenn uns unsere Köche in das Essen rotzen …“
Und noch während er am Poopdeck sein Liedchen trällerte, fielen die Piraten unten in den Beibooten, wo sie gerade damit begannen, den schweren Schiffsleib der Meerjungfrau auf den Ozean hinausrudern, in den Gesang ein.
„Jaaaaa, das ist es.
Ja, das wollen wir.
Ja, da halten wir zusaaammen!
Das Meer ist unser,
die Weiber können uns,
es gibt auch anderes zum Raaamme … l … n!“
So dröhnte es euphorisch über die Hafenbecken, während das Kommandoschiff, gefolgt von den restlichen neunundneunzig Schiffen der Kommandoflotte, durch den Wassertunnel und das gewaltige Felsentor aufs offene Meer hinausglitt.
Als sie endlich aus dem Hafen waren, lenkte Tauron Hagegard seinen Blick Richtung Horizont.
„Beiboote einholen!“, rief er übers Deck und fühlte, wie der Anblick der endlosen Wasser ihn überwältigte. „Wanten lösen und Segel hissen! Formation einnehmen und Kurs Richtung Nordwesten! Am Ende der Bucht – Kurswechsel Richtung Süden!“
Er zog seinen Admiralshut vom Kopf, ließ ihn um seine Hand rotieren und lächelte.
„Admiral Tauron Hagegard“, murmelte er leise und fuhr sich genießerisch durch sein dichtes braunes Haar. Ja, das ist es.
Als Chara ihren Rucksack in den Winkel ihrer neuen Kajüte geschleudert, ihre Zweililie abgelegt und sich samt Stiefel auf ihr Bett hatte fallen lassen, war ihr, als hätte sich gerade ihr Sargdeckel geschlossen. Eine Tür, eine Truhe, ein kleiner, auf den Planken festgenagelter Tisch und zwei Stühle, zwei Stockbetten … Nok und Iti standen links und rechts der Tür, steif wie zwei jungfräuliche Priester vor ihrer ersten Liebesnacht. Vermutlich fragten sie sich, ob sie heute auch brav ihr Frühstück gegessen und die Drogen rationiert hatte. Überraschend, dass sie nicht täglich ihren Nachttopf prüften, um anhand ihrer Scheiße etwaige Verdauungsprobleme auszuschließen. Auf der anderen Seite der Tür hielten zwei weitere Dad Siki Na Wache. Kurz, ihr Sargdeckel hatte sich geschlossen. Die Segel waren gesetzt, die Luken verriegelt, die Anker gelichtet. Es gab kein Zurück.
„Sik!“, knurrte Nok und machte einen Schritt auf sie zu.
„Was?“, fauchte Chara.
Da war er auch schon neben ihr, zog irgendetwas von ihrem Kopfpolster und wedelte damit vor seiner Nase herum.
„Was ist das?“ Chara setzte sich auf.
„Hoi!“
„Gib her.“ Sie griff nach dem Gegenstand, aber Nok riss ihn an sich.
„He, das lag auf meinem Kopfpolster! Mein Kopfpolster, mein … Ding, alles klar?“
Offenbar stufte Nok den Gegenstand als ungefährlich ein, denn nach einem weiteren, forschenden Blick sagte er „Od!“, drückte ihr diesen in die Hand und verzog sich wieder neben die Tür.
Argwöhnisch öffnete Chara ihre Finger. Ein gläsernes Gefäß dunkelvioletter Farbigkeit kam zum Vorschein, eine kleine, schmale Phiole. Sie war mit irgendeiner Flüssigkeit gefüllt, die etwas dicker als Wasser war, einen Hauch sämiger. Folglich handelte es sich nicht um Gift. Was dann? Eine Art Heiltrank? Mit Heiltränken kannte sie sich nicht aus.
Da war kein Verschluss. Das Glas war verschweißt. Sie hätte die Phiole schon zerschlagen müssen, um an den Inhalt zu kommen. Suchend spähte Chara auf ihr Kissen und fand ein kleines Pergamentröllchen. Sie nahm es an sich und entfaltete es. Es war Al’Jebals Handschrift. Sie erkannte die feine Linienführung sofort.
Du bist mein.
Es war also nicht vorbei. Er mochte sie fortgeschickt haben, und doch ließ er sie nicht gehen.
Dies ist ein Teil von mir. Kehr heil zu mir zurück. Al’Jebal.
Chara hob die Phiole vor ihr Gesicht und kniff die Augen zusammen. Blut … Es war Blut! Nicht irgendeines, es war sein Blut. Und es hatte nur deshalb diese tiefviolette Färbung, weil der Behälter aus indigoblauem Glas war. Rot und Blau … Das Resultat war ein tiefes, sattes, Feuer und Eis einendes Violett.
Sie schloss die Finger fest um die Phiole, ließ sich auf die Matratze fallen und starrte an die Decke. Der Zorn, der sie den ganzen Tag über begleitet hatte, stahl sich auf leisen Sohlen davon.
Kehr heil zu mir zurück …
Chara schob den Unterarm über ihre Augen. „Ich verspreche es.“