Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto - J. H. Praßl - Страница 16

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Ein Tanz

„Seid Ihr Euch gewiss, dass Ihr die richtige Wahl getroffen habt?“

Der Elfenkönig stand an einem stillen Platz hinter zwei Säulen und griff nach einem Glas, das ihm auf einem Tablett dargeboten wurde. Kein Wein, nur Wasser …

„Ja“, erwiderte Al’Jebal.

„Es ist gefährlich, auf dem Fundament menschlichen Makels sein Haus zu bauen, Al’Jebal. Ihr nutzt ihre Schwäche, um daraus Stärke zu beziehen. Ihr wisst, dass sie schwach ist, dass sie ihrer selbst nicht Herr ist und mehr als wir es hier und jetzt berechnen könnten, die Ordnung aus dem Gleichgewicht bringen kann. Man benutzt kein Schwert dafür, um ein Schwert zu zerschlagen. Dafür braucht es einen Hammer.“

In einfachen Worten, man kann dem Chaos nicht mit dem Chaos zu Leibe rücken. Al’Jebal blickte über das Meer aus Gästen und erspähte die schwarze Silhouette unweit des Haupteinganges. „Es gibt zwei Möglichkeiten, ein Feuer zu löschen. Entweder erstickt man es, oder man lässt seine Flammen lodern, bis da nichts mehr ist, das noch brennen könnte. Der Vorteil an Letzterem ist, dass danach keine Glut mehr Funken schlagen wird.“

„Eine gefährliche Strategie. Feuer mit Feuer bekämpfen …“

„Ihr habt Eure Wege, ich meine. Und was die kommende Mission angeht, haben wir eine Übereinkunft getroffen. Ich spiele meine Figur aus, Ihr die Eure. Niemand von uns hat etwas zu verlieren.“

Das leere Glas des Elfenkönigs landete auf einem vorbeischwebenden Tablett. „Wir werden sie im Auge behalten.“

„Das ist mir bewusst.“

„Und Lucretia L’Incarto, Telos Malakin?“

„Werden ihren Dienst an der Sache tun.“ Al’Jebal sah in die mandelförmigen Augen, die ihn aufmerksam musterten. „So wie Siralen.“

Der Elfenkönig nickte. „Der Oberste der Lichtjäger hat sich freiwillig gemeldet, um an der Expedition teilzunehmen.“

„Gut.“

„Dann lasst uns die Geschäfte vergessen und das Leben zelebrieren.“

Über Al’Jebals Lippen ging ein flüchtiges Lächeln. Wir feiern das Leben gerne dann, wenn der Tod vor der Tür steht.

Es herrschte ein stimmungsvolles Treiben auf dem Platz zwischen den Säulengängen. Gemurmelte Gerüchte, energische Diskussionen, freundliche Zugeständnisse, düstere Zukunftsvisionen und oberflächliches Geplänkel zersprengten den Saal in kleine Inseln der Eintracht. Darüber hingen kleine Aroma-Wölkchen der Gerüche aller dargebotenen Speisen, dezent durchwirkt von zarten Parfum-Fäden, die den Duft nach Rosen, Lavendel, Orange, Zedernholz oder anderen ätherischen Ölen verströmten.

Chara hatte sich einen Weg durch die Menge an die lange Tafel gebahnt. Dort, nahe der Doppelflügeltür, bediente sie sich an den in verschwenderischer Vielfalt und Menge aufgetragenen Speisen. Mit einer gegrillten Lammkeule in Honigkruste und einem Brotfladen verschwand sie schließlich im Schatten eines Winkels. Sie zog sich den Mantel von ihren Schultern und warf ihn über eine Brüstung. Während sie, eingekeilt zwischen den Dad Siki Na, den Knochen abnagte, beobachtete sie das Treiben im Saal.

Die Elfen waren überraschend zugänglich und hatten sich weitestgehend unter die Menschen gemischt, ebenso wie die Zwerge, von denen sich eine Gruppe Krieger um den Kommandanten der KEZS, Jagan Kerme, drängten. Der schwule Elite-Zwergen-Söldner trug ein schmuckes Wams, über dem in auffallender Prägnanz die Kette mit den getrockneten Elfenohren baumelte. So gesehen war es das reinste Wunder, dass das unsterbliche dem kleinen Volk mit einem derartigen Gleichmut begegnete. Manche von ihnen hatten sich wohl an Kermes Aufmachung gewöhnt, die anderen waren wahrscheinlich von ihren Vertretern in der Allianz dazu aufgerufen, jeglichen Konflikt zu vermeiden. Einer dieser Vertreter unterhielt sich gerade mit dem Mann, dem Chara bis jetzt aus dem Weg gegangen war.

Ihr war sofort aufgefallen, dass Al’Jebal auf seine Magierrobe verzichtet und sich stattdessen einmal mehr in Schwarz gekleidet hatte. In die Kragenspitzen seines knielangen Mantels war sein Emblem, der Silberstern, genäht. Zum zigsten Mal an diesem Abend dachte Chara an den gestrigen Morgen, als sie nach schicksalsschwerer Nacht mit Lomond ihr Zimmer betreten hatte und ihr Augenlicht in einem Meer aus weißen Rosen ertrunken war. Erneut sah sie den aus dem nahtlosen Weiß blitzenden schwarzen Punkt, spürte den Stich in ihrem Herzen, als sie sah, was Al’Jebal auf ihrem Tisch hinterlassen hatte und alle weißen Rosen dieser Welt null und nichtig machte.

Die schwarze Rose – eine Erinnerung daran, wer sie wirklich war und wohin sie gehörte.

Chara schielte auf die Dornenranken, die sie sich in Erainn auf ihre Unterarme hatte tätowieren lassen. Sie hätte nicht zulassen dürfen, dass sich die weiße Blüte öffnete, hätte verhindern müssen, dass ihr Verlangen sich Bahn schlug. Stattdessen hatte sie Lomond an sich herangelassen, hatte ihm ihr Herz und ihren Kopf geöffnet. Damit war sie nicht länger eine Unberührte, nicht länger die Ibaħie, die sie für immer hätte bleiben müssen, nicht länger samit und damit stumm.

Aus dem an und für sich nihilistischen Grundsatz der Hatschmaschin gebar sich die alles umfassende Erkenntnis, dass nichts, abgesehen von dem Willen des Meisters, in dieser Welt bewahrt, geschützt oder erreicht werden musste. Dies war das Fundament der Mulħad, der gottlosen Krieger, wie auch sie einer war. Wenn ein Mulħad damit begann, einem anderen als dem Namai irgendeine Bedeutung beizumessen, was zwangsläufig passierte, sobald man etwas oder jemanden begehrte, brach er mit der Inneren Lehre, dem Bathir, dessen Bedeutung den meisten schon bei ihrer Geburt eingebläut wurde. Genau das war mit ihr geschehen. Und Lomond hatte sie auf diesen Weg geführt. Dabei konnte sie ihm kaum einen Vorwurf machen. Er war nur seinem tierischen Instinkt gefolgt, hatte sich geholt, wonach es ihm, einem lebendigen Toten, verlangte.

Selbst jetzt spürte Chara seine Berührungen noch, fühlte sie ihn noch in sich. Beim Gedanken an das, was er mit ihr gemacht hatte, zog sich eine Gänsehaut über ihre Arme und verlieh den Dornenranken eine anschauliche Plastizität.

Chara stellte den Teller mit den abgenagten Knochen auf der Tafel ab, ließ sich ein Tuch reichen, säuberte ihre fettigen Finger und lehnte sich erneut an die Wand. Al’Jebal unterhielt sich noch immer mit dem Elfen. Der Fremde kehrte ihr den Rücken zu und war in feines Tuch gekleidet – hellgrau, mit silbernen Borten und Stickereien verziert. Sein braunes Haar fiel ihm wie ein zahmer Wasserfall über die Schultern. Alles an ihm schrie nach einem Mann von hohem Amt oder Status.

Als sich Chara gerade dazu entschloss, die Feier besser früher als später zu verlassen, erspähte sie einen Schatten neben einer der Säulen. Kerrim. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, dass sie den Kollegen mit dem verschmitzten Grinsen nicht gesehen hatte. Mit Unbehagen erinnerte sie sich an den Streit, den sie bis heute nicht mit ihm bereinigen konnte. Vor einigen Monden in Isahara …

Ihr sagt mir nichts. Ihr verschweigt mir alles. Und ich dachte, Ihr seid ein Freund. Das waren ihre letzten Worte gewesen. Danach war Kerrim gegangen und seither hatte sie ihn nicht wieder gesehen.

Kerrim sah aus, als würde er sich langweilen. Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte er an der Säule, rauchte ein Hatschmana-Pfeifchen und spähte lustlos in die Menschenmenge. Andererseits wusste man nie so genau, was sich tatsächlich in ihm abspielte. Möglicherweise amüsierte er sich gerade köstlich oder war darin vertieft, irgendjemanden auszuspionieren.

Kurz entschlossen drückte sich Chara von der Wand ab und schlenderte, Nok und Iti im Schlepptau, auf ihren Kollegen zu.

„Alles klar?“, fragte sie.

„Eh Chara.“ Er schenkte ihr ein abgerissenes Lächeln. „Fertig mit Essen?“

Aha. Er hatte sie längst gesehen. Wieso war er nicht zu ihr gekommen?

„Werdet Ihr uns auf die Expedition begleiten?“, fragte sie geradeheraus.

Kerrim nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife. „Bittet Ihr mich etwa gerade żu kommen mit?“

„Ich bitte nicht.“

„Dachte ich mir.“ Er kniff ein Auge zusammen. „Um żu sain ehrlich, ich ħabe gepackt längst maine Sachen. Ohne mich wärt Ihr ja ganż und gar geschmissen auf.“

„Wahrscheinlich bereue ich schon morgen, dass ich Euch gefragt habe.“ Chara lehnte sich neben ihn, und ein kleiner Rauchkringel aus seiner Pfeife sprang ihr ins Gesicht.

„Wahrschainelich.“

„Tut mir leid, Kerrim …“ Sie holte tief Luft. „Ich meine, das in Isahara.“

Eine Weile musterte er sie nur. Dann machte er eine wegwerfende Geste, wobei er den halben Pfeifenkopfinhalt über den Boden verstreute. „Vergessen wir das.“

„Wirklich?“, bohrte sie nach. „Ihr habt Euch von mir ferngehalten … seit dieser Sache.“

„Ihr ħabt gesagt, Ihr würdet mir nicht vertrauen. Darum ħab ich mir gedacht, besser, ich gehe Euch aus dem Weg.“

Es ging also um Vertrauen … „Ich traue Euch mehr als jedem anderen. Mal abgesehen von Al’Jebal.“ Das war nichts als die Wahrheit.

„Das freuhet mich.“

Es klang ehrlich und Chara sprach aus, was sie längst dachte: „Ich bin Chara. Nenn mich bei meinem Namen, Kerrim. Wir kennen uns lange genug.“

Ein schiefes Grinsen schob sich zwischen seine Lippen. „Ist mir aine Ehre. Ich ħaisse Kħerrim. Schätze, das hast du schon gewusst.“

Chara lächelte. Sie war froh, die Angelegenheit geklärt zu haben. Gerade wollte sie sich zu einem kleinen Drogenpfeifchen verhelfen, da richtete sich Kerrim unerwartet auf.

„Äh … glaube, ich lasse dich besser allaine jetżt.“

Chara folgte seinem Blick. Verdammt.

Durch die Menge hielt ein dunkelhaariger Mann in grauen weiten Hosen und enger, ärmelloser Tunika auf sie zu. Und noch während sie das bleiche Gesicht unter den ungezähmten Haarsträhnen suchte, legte das sanfte Pochen ihres Herzschlags ein leises Trommelwirbelsolo hin. Ein Lufthauch streifte ihren Arm, als der Mann Kerrims Platz an der Säule einnahm.

„Ich möchte mit dir tanzen“, glitt die Stimme über ihre Wange, die ihr vor Kurzem noch anzügliche Worte zugeflüstert hatte.

„Ich kann nicht tanzen“, warf sie lieblos zurück und suchte in der Menge nach Al’Jebal. Er war verschwunden.

„Da habe ich etwas anderes gehört. Man erzählt sich, du hättest mit deinem Namai getanzt.“ Er stützte sich mit der Hand an der Säule ab, blickte ihren Körper entlang und hob eine Braue. „Allerdings hast du damals ein Kleid getragen.“

„Gerüchte …“, schlug sie einen lockeren Plauderton an und ignorierte die Tatsache, dass sie zwischen dem MacDragul und der Säule in ihrem Rücken festsaß.

Lomonds Blick schnellte zu ihren Augen zurück. „Ach ja?“ Sein Gesicht rückte ein Stück näher. Kein Kuss von seinen Lippen … Es war sein Atem, der sie küsste.

„Deine Rede war … interessant“, wechselte er das Thema. „Ich könnte mir vorstellen, dass die kommende Expedition alles Mögliche für dich bereithält, nur nicht das, was du dir erwartest. Du solltest ein wenig Spaß haben, solange du noch kannst.“

„Tanzen ist für mich kein Genuss“, erklärte sie frostig.

„Du hast noch nie mit mir getanzt.“

Wahr. Und um ehrlich zu sein, war sie drauf und dran, ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Hier stand Lomond – gestaltgewordene Versuchung. Der Schatten des Todes in seinem Gesicht, das Feuer des Lebens in seinen Augen. Lomond war der lebendigste Tote, der ihr je begegnet war. Und in ihr begehrte alles auf, das leben wollte. Sie wollte ihre eiserne Selbstkontrolle gegen die Wand schmettern und ihr dabei zusehen, wie sie in tausend Splitter zerbarst.

Die schwarze Rose drängte sich vor ihr inneres Auge und schottete das charismatische Gesicht des MacDragul ab. Doch da fasste Lomond sie an der Hand, zog sie auf die Tanzfläche und das Bild der Rose verpuffte.

„Loslassen!“, zischte sie ihn an.

„Das wollte ich dir auch gerade empfehlen.“

Als sie die Tanzfläche erreicht hatten, drehte er sie zu sich herum, packte ihre Hüften und zog sie an sich. Sein Herz klopfte gegen ihres. Langsam schob er seine Hände auf ihre Lendenwirbel und presste ihren Unterleib gegen seine Mitte.

„Spürst du das, Chara?“, flüsterte er. „So fühlt es sich an, wenn ich loslasse. Wenn du loslässt, ist es einfach … köstlich. Weißt du, wie du riechst?“

„Will ich nicht wissen“, presste sie hervor und wich seinem Blick aus.

„Ich sag’s dir trotzdem. Du riechst nach Feuer, nach Geburt und Leben … Du riechst so heiß, dass ich allein bei deinem Geruch in Ekstase gerate. Ich will dich noch immer, Chara. Noch mal. Bevor es für eine sehr lange Zeit zwischen uns vorbei sein wird …“

„Ich kann nicht.“

„Du hast es bereits getan. Tu es noch einmal. Tu es für dich.“

Hätte sie nicht gewusst, dass es keine Selbstgefälligkeit war, die ihn solche Dinge sagen ließ, sie hätte ihm eine übergezogen und wäre abgehauen. Stattdessen ließ sie es zu, dass Lomond ihren Mundwinkel küsste. Seine Hände auf ihrem Rücken glitten nach unten, wanderten über ihren Hintern, bis sie sich fest um ihre Schenkel schlossen. Sie spürte seine Finger zwischen ihren Beinen.

„Lomond …“

„Ich bin hier“, flüsterte er. Ungeniert schob er seine Hände unter ihr langes schwarzes Seidenhemd und strich über ihren Bauch nach oben. Seine Linke schloss sich um ihre Brust. Die andere Hand glitt zurück auf ihren Rücken, presste sie fester an sich … entlockte ihm ein leises Stöhnen.

„Wie kann es sein, dass du etwas fühlst, wenn du doch eigentlich tot bist?“, flüsterte sie an seinen Lippen.

„Ich bin nicht tot, Chara. Ich bin untot.“ Er nahm ihre Hand und schob sie unter sein Hemd bis hinauf zu seinem Herzen. „Spürst du das?“

Na sicher.

„Mein Herz schlägt. Nicht so laut wie deines natürlich.“ Er lächelte. „Aber es schlägt. Meine Haut ist warm, nicht kalt wie gefühlloser Stein. Mein Atem wird schneller … Du weißt, dass er schneller werden kann. Es spielt keine Rolle, wie tot ich bin, wenn es das Leben ist, das über mich bestimmt. Die Frage ist, was muss passieren, dass ich zum Leben erwache?“

Sein Lächeln verschwand, als hätte es ein Windstoß fortgetragen. „Viel“, zischte er. „Es muss verdammt viel passieren, dass mein Herz schlägt wie deines und meine Haut so warm wie deine wird, dass ich atme oder schneller atme als ein Schlafender.“

Seine Finger legten sich um ihren Nacken.

„Verstehst du, was ich dir sage?“

Verstand sie es? Sie war sich nicht sicher. Wie sollte sie sich auch auf seine Worte konzentrieren, wenn er nicht damit aufhörte, ihren Körper in einen brodelnden Vulkan zu verwandeln?

„Ich glaube …“ Sie hatte noch nicht zu Ende geredet, da waren seine Lippen wieder auf ihren, und diesmal war sein Kuss nicht fordernd, sondern wie der erste Atemzug nach einem drohenden Erstickungstot. Als er seine Hand unter ihrem Hosenbund nach vorne schob und kurz davor war, sie in Besitz zu nehmen, sagte sie: „Gehen wir.“

In diesem Augenblick fiel ein Schatten auf ihr Gesicht und Lomond zog seine Hände zurück. Ein Schritt und er befand sich in einem sittsamen Abstand zu ihr.

„Wollt Ihr mit ihr sprechen?“, fragte er gelassen, noch bevor er die Gestalt sah, die sich ihm von hinten genähert hatte.

Chara sah die beiden silbernen Sterne aufblitzen und biss sich auf die Lippe.

„Nein, mit Euch“, antwortete Al’Jebal. Der Vampir blickte zur Seite und nickte knapp. „Gut. Wir sehen uns, Chara.“ Ein letztes lomondsches Lächeln. Dann verschwand er zusammen mit dem Namai in der Menge.

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto

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