Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto - J. H. Praßl - Страница 27

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Ein Wort zu viel

Als Chara am Morgen aus dem Schlaf fuhr, echoten die Worte noch immer durch ihren Kopf, die sie im Traum dazu gebracht hatten, heftig zu rebellieren. Die Stimme zu den Worten hatte geradezu erheitert geklungen. Und hätte sie nicht erst kürzlich etwas gefunden, das das Leben irgendwie lebenswert machte, sie hätte mitgelacht.

„Etwa Lomond?“, flüsterte ihre innere Stimme und lachte leise.

Wir werden alle sterben …, drängte sich die Stimme aus dem Traum dazwischen.

Na sicher. Aber nicht jetzt.

Wer da im Traum gesprochen hatte, konnte Chara nicht sagen. Doch spätestens jetzt, da sie den Traum zum zweiten Mal geträumt hatte, war sie sich sicher, dass es kein gewöhnlicher Traum war. Und wer, wenn nicht er, hatte den Nerv, in ihren Verstand einzudringen?

Das war nicht Dragati, versuchte sie sich vom Gegenteil zu überzeugen. Langsam setzte sie sich auf und rieb sich die Augen. Lomond war es auch nicht. Aber sonst fiel ihr niemand ein, der eine derartige Begabung hatte, abgesehen von Al’Jebal. Vielleicht war es doch Dragati.

„Doch nicht der neue Gott“, bemerkte die Stimme in ihrem Kopf belehrend.

Sag ich doch, knurrte Chara, stand auf und schlüpfte in ihre Hose.

Aber da war nicht nur eine Stimme gewesen. Später im Traum hatten viele Stimmen dasselbe gesagt, genau genommen hatten sie … gesungen.

Die Planken knarzten unter ihren nackten Füßen, als Chara zu ihrer Truhe schlurfte und ihr abgetragenes Hemd vom Deckel zog. Die Tür ging auf und Nok steckte seinen tätowierten Schädel herein. Das tat er jeden Morgen, sobald er mitbekam, dass sie aufgestanden war. Wenn er dann sah, dass alles zum Besten stand, zog er sich wieder zurück und war selig. Jedenfalls solange, bis Chara ihr sicheres Quartier verließ. Danach war grimmig noch ein Hilfsausdruck für das, was sich im Gesicht des Dad Siki Na abspielte.

Die Tür fiel ins Schloss und Chara zog sich ihr Hemd über. Während sie sich den Gürtel umschnallte, schlich sich ein Bild in ihren Kopf: Stowokor. Der tauchte in letzter Zeit öfter auf. Zur Hölle, sie würde nicht zulassen, dass ihr das Schicksal des Magiers über den Kopf wuchs.

„Es ist dir doch längst über den Kopf gewachsen, Chara. Oder kannst du etwa noch klar denken?“

„Das will ich doch meinen. Wozu hab ich dich?“

„Seit wann hörst du auf mich?“

„Seit jetzt.“

Es half nichts. Sie musste es sich eingestehen. Sie hatte sich eindeutig nicht mehr im Griff. Die Gefühle brachen über sie herein wie eine verdammte Flutwelle. Seit sie sich hatte gehen lassen … in dieser einen verhängnisvollen Nacht mit dem Vampir. Nach allem, was sie sich über die Jahre hinweg aufgebaut hatte, wollte alles aus ihr raus, was da in ihr zuckte, spuckte und schrie. Dabei war der Zorn noch das beste der Gefühle, die sie übermannen wollten. Mit dem Zorn hatte sie bereits gelebt, mit dem Zorn konnte sie umgehen. Der Rest?

Wir werden alle sterben …

Es ist jetzt nicht mehr weit.

Die Zeichen stehen auf Ende

Auch ihr seid nicht gefeit.

„Ein verdammter Männerchor war das“, fluchte Chara, schlüpfte in ihre Stiefel und verließ die Kajüte. Sofort hatten Nok und Iti sie in ihre Mitte genommen. Nok war so gut wie immer bei ihr. Chara fragte sich, wann er eigentlich schlief und ob er es je tat. Vermutlich tat er es, wenn sie sich selbst gerade unruhig im Bett wälzte, doch sie war sich ziemlich sicher, dass er auch dann häufig Wache hielt. Es stand jedenfalls fest, dass es Nok war, der das Sagen unter den Dad Siki Na hatte. Sie hatte einmal versucht, mit ihm zu reden. Aber er war noch verschlossener als sie. Was nachvollziehbar war. Immerhin musste er Das Tier in dir am Schweigen halten. Siki Ka Tri Ida Di …

Schweren Schritts stiefelte Chara durch den Korridor Richtung Mannschaftsunterkünfte. Sie hatte das Ende des Gangs gerade erreicht, da vernahm sie ein verhaltenes Gemurmel nahe der Luke und blieb stehen. Nok und Iti reagierten gewohnt geistesgegenwärtig und erstarrten in ihrem Rücken zu atmendem Stein.

Als Chara einen vorsichtigen Blick um die Ecke riskierte, fand sie eine Gruppe von Matrosen, die beieinanderstanden und sich leise unterhielten.

„Mann, Tommen, mach hier bloß keinen auf naiv“, bemerkte einer von ihnen gerade. „Du weißt so gut wie ich, dass wir das nicht überleben. Wir treiben mitten in diesem schwarzen Zeug und weit und breit kein Land in Sicht.“

Der Matrose namens Tommen zog eine Grimasse. „Die Kommandanten werden schon wissen, was sie tun. Die wissen doch viel mehr als wir. Wahrscheinlich wussten sie, dass wir in diese Gewässer geraten und sind darauf vorbereitet. Der Admiral vertraut ihnen.“

Der Dritte im Bunde grinste zynisch. „Na klar. Er wird sie wohl kaum öffentlich in Frage stellen. Das wäre ja glatt Meuterei. Nein, nein, die wissen so wenig wie wir. Und ich find’s echt zum Kotzen, dass uns gerade mal ein paar Planken von dem tödlichen Zeug trennen. Dieses götterverfluchte Wasser frisst sich in das Holz unserer Schiffe. Was das heißt, muss ich euch nicht erklären. Wir werden glasklar sinken.“

„Und was dann los ist – Ahoi!“, machte sich Nummer Eins Luft. „Die Leute, die das Wasser berührt haben, haben schlimmste Verätzungen.“

Tommen spähte Richtung Luke und kaute nervös an seinen Fingernägeln. „Ihr habt schon recht. Es hat trotzdem wenig Sinn, Panik zu verbreiten, oder?“

Ein Schulterzucken folgte. „Wer schiebt denn hier noch keine Panik?“

Es folgte betretenes Schweigen, und Chara beschloss, der Sache ein Ende zu bereiten. Sie hatte genug gehört. Unbekümmert trat sie in die Mannschaftsunterkünfte und rief: „Kerrim, Besprechung!“

„Ah …“, vernahm sie Kerrims gereiztes Stöhnen aus dem dunklen Winkel steuerbordseitig. „Was gibt es denn jetżet schon wieder? Ich ħabe geschlafen fast überhaupt nicht.“

Entweder hatte der Kollege das genaue Gegenteil getan oder wie sie gelauscht. Jedenfalls bewies die Reaktion der drei Matrosen, dass Kerrims Gegenwart unbemerkt geblieben war. Mit einem erschrockenen Blick in seine Richtung verzogen sie sich über die Treppe aufs Hauptdeck.

„Mach schon, Kerrim. Wird Zeit, dass wir ein paar Dinge klären.“

Ein Stöhnen war zu hören, dann ein leises Poltern und schließlich schlurfte Kerrim völlig zerzaust zwischen den Hängematten hindurch auf sie zu. Das Hemd hatte sich zusammen mit dem Schal um seinen Hals gewunden, sodass sein halber Bauch im Freien lag.

„Ich ħabe geredet die ganże Żait mit den Żauberkundigen aus der Kħommandoflotte. Waißt du, wie anstrengend das ist?“, grummelte er und zerrte an seinem Oberteil. „Ich ħabe schon kħaum geschlafen in den letżten Tagen. Und jetżt sieht es ganż danach aus, dass das auch so blaiben wird in den nächsten.“

Richtig. Sie hatte Kerrim damit beauftragt, die Zauberkundigen auszuhorchen, musste etwas darüber erfahren, wie diese im Allgemeinen zu Ahrsa Kasai standen, und was sie in ihrer Freizeit so trieben. Die Verräter hatten glasklar magische Unterstützung. Kerrim war der beste Mann dafür. Niemand konnte sich so unauffällig gebärden wie er.

„Aines kħann ich dir auf jeden Fall jetżet schon flüstern: Ahrsa ist so richtig beliebt unter sainen Kħollegen. Anschainend kħann ihn jeder laiden und nach allem, was so geredet wird, ist er mehr als bemühet, saine Leute żu stellen żufrieden.“

Chara rümpfte die Nase. „Das trifft dann aber nur auf die Zauberkundigen zu. Bei allen anderen zeigt er sich vor allem begabt darin, ihnen Steine in den Weg zu legen.“

„Jedenfalls wenn es gehet um dich“, erwiderte Kerrim mit einem Schulterzucken.

„Wir haben also mehrere Verräter im Flottenverband“, rekapitulierte Chara. „Laut Al’Jebal sind es mehr als einer. Es gibt einige Mitglieder des Chaosbündnisses, die sich, hübsch getarnt, innerhalb unserer Schiffsbesatzungen frei bewegen können. Und wir können nicht das Geringste dagegen unternehmen.“

„Schauet so aus. Im Moment sind uns auf jeden Fall gebunden die Ħände. Wir kħönnen nur machen waiter mit unseren Untersuchungen und ħoffen, dass wir finden aine Spur.“

Chara nickte stumm. Dann setzte sie sich Richtung Treppe in Bewegung. Auf dem Weg zur Offiziersmesse wurde deutlich, dass das Meer unverändert schwarz war und erneut tote Fische auf der Wasseroberfläche trieben. Als wäre das nicht genug, herrschte Flaute. Nicht der Hauch eines Windes strich durch die Segel. Also waren sie in den schwarzen Wassern gefangen.

In der Messe warteten bereits alle Expeditionskommandanten. Siralen hatte Darcean zur Besprechung gebeten, und natürlich hatte sich auch der ehrenwerte Magus Primus Ahrsa Kasai eingefunden, um Lucretia, die offenbar in Trauer war, würdevoll zu vertreten. Chara hatte Telos informiert. Sie wollte ihn diesmal dabeihaben, und er war ihrem Ruf gefolgt.

Kaum, dass die üblichen Guten-Morgen-Wünsche über den Tisch hin- und hergeschoben worden waren, meldete sich auch schon die Primadonna unter den Magiern zu Wort: „Werte Anwesende …“ Pause. „… Frau Pasiphae-Opoulos …“

Ihrerseits allen Wertes enthoben, lehnte sich Chara entspannt zurück und wartete auf den Rest seines Vortrags, der auch umgehend folgte: „Wenn ich mir die Fakten der vergangenen Tage ins Bewusstsein rufe – angefangen bei der noch immer nicht gelösten Verräterproblematik …“ Kasai entfaltete seine fein-säuberlich geordneten Unterlagen und studierte, was es auch immer dort zu studieren gab. „…bis hin zu den aktuellen tragischen Vorfällen rund um das schwarz-goldene Wasser …“ Seine verkniffenen Augen wanderten akribisch in die Runde. „… bin ich der Meinung, dass heute einiges zu besprechen ist und zu Protokoll genommen werden muss.“

Es reichten diese paar Sätze, um Chara den ganzen Morgen zu versauen. Dabei ging es ihr nicht einmal darum, was Kasai sagte, selbst wenn er wie nebenbei die Arbeit der Assassinen in Frage stellte. Es ging darum, wie er es sagte und dass er mit seinem zum Großteil überflüssigen Gerede alles aufhielt.

„Ich schlage vor, wir konzentrieren uns zunächst auf eine Entscheidung im Hinblick auf die schwarz-goldenen Wasser“, nahm Siralen die kurze Pause zum Anlass, das Thema in die richtige Bahn zu lenken. Chara hätte ihr einen Strauß Blumen überreicht, hätte sie einen dabeigehabt. „Der Unmut im Flottenverband wächst. Die Männer und Frauen werden sich immer einiger, dass die Götter uns bestrafen. Ich schlage vor, wir schicken eine Nachricht an die gesamte Flotte. Greifen wir ihre Angst vor den Göttern auf und entschärfen sie auf eine Art und Weise, die sie verstehen. Wir könnten ihrem Standpunkt zustimmen, aber deutlich machen, dass die Strafe der Götter nicht uns, sondern jemand anderem gilt.“

Chara lehnte sich nach vorne und ignorierte geflissentlich Kasais Inspektion ihres Gesichts. „Ich habe keine Einwände, dem naiven Glauben der Leute entgegenzukommen, wenn du denkst, die hätten das nötig. Allerdings halte ich es nicht für hilfreich, ihnen weiszumachen, dass nicht wir es sind, die von den Göttern bestraft werden. Wen bestrafen sie dann? Und warum? Die Leute sind nicht dumm. Sie sehen, dass wir uns auf den Großen Abgrund zubewegen und befürchten, dass wir uns damit zu weit in ihrer heiligen Götter Gebiet wagen.“

„Was schlägst du also vor?“, fragte Siralen.

Chara sah Telos an. „Könntest du diese Aufgabe übernehmen und ein passables Schreiben für gottesfürchtige Männer aufsetzen? Eines, in dem du als Priester die Angst, es handele sich um eine Strafe der Götter, entkräftest?“

„Tut mir leid, Chara, das kann ich nicht. Und zwar deshalb, weil ich mir selbst nicht sicher bin. Aber ich werde versuchen, die Gemüter zu besänftigen. Ich kümmere mich sofort nach der Besprechung darum.“

„Danke. Und wenn wir hier schon Aufklärung betreiben, halte doch auch fest, dass wir noch weit vom Großen Abgrund entfernt sind. Das hier ist nicht das Ende der Welt.“

Siralen nickte und sah tatsächlich zufrieden aus. Ganz sicher war sich Chara bei der Elfenkriegerin nie. Dann sagte sie etwas, das Chara in Alarmbereitschaft versetzte.

„Da du gerade vom Ende sprichst. Ich hatte in der vergangenen Nacht sehr ungewöhnliche Träume, genauer, ich hatte zweimal denselben Traum. Darin hieß es: Die Zeichen stehen auf Ende.“

Schlagartig wurde es still in der Messe und selbst Kerrim, der sich längst in seinem Stuhl eingerichtet hatte, um ein kleines Nickerchen zu halten, setzte sich gerade hin.

„Oh Agramon!“, stöhnte Telos auf. „Ich hatte es befürchtet. Auch ich hatte diesen Traum.“ Er wechselte einen Blick mit Chara und fast sah sie, wie Erinnerungen an seinem inneren Auge vorüberzogen. Es waren dieselben wir ihre.

„Wer von euch hatte diesen Traum noch?“, fragte sie in die Runde.

„Kħann schon sain, dass ich ħabe geträumt etwas Ähnliches“, gab Kerrim vage zu.

„Mir träumte, ich wär eine Taube aus Pergament und flog hinter mir her“, murmelte Darcean versunken und starrte aus dem Fenster.

Alle Blicke richteten sich auf ihn.

„Wie darf ich das verstehen, Herr Dahoccu?“, näselte Kasai nach einer Weile.

„Oh nichts. Ich hatte nur …“ Darcean warf sein Haar in den Nacken und setzte sich auf. „Ich hatte denselben Traum wie Ihr, Frau Flottenoberkommandantin.“ Die Ironie bei der Erwähnung ihres Titels war nicht zu überhören.

„Kasai?“, wandte sich Chara dem Magier zu.

„Magus Primus Major, wenn es mir erlaubt ist, darauf zu bestehen, Frau Pasiphae-Opoulos. Und ja, wenn Ihr es denn genau wissen wollt, ich hatte denselben Traum.“

„Dann sieht’s tatsächlich übel aus.“

Siralen ließ ein leises Seufzen vernehmen, von dem schwer zu sagen war, ob es Kasai galt oder den besorgniserregenden Erkenntnissen. „Wir müssen umgehend in Erfahrung bringen, wie viele diesen Traum hatten“, bemerkte sie. „Und welcher Natur diese Träume sind. Handelt es sich dabei um Magie?“

„Es könnte sich auch um das Wirken eines chaotischen Gottes handeln“, brachte Telos seine Erfahrungen zum Ausdruck. „Mächtige Priester könnten mit Hilfe ihrer Götter derartige Träume unter uns gebracht haben. Und da wir wissen, dass sich auch Chaosanhänger in unserer Flotte aufhalten …“

„Sprecht Ihr von den Verrätern, deren Identität die Interne Sicherheit noch nicht eruieren konnte, Herr Malakin?“, schnarrte Kasai und seine pfeilgerade Nase richtete sich in ansehnlicher Akribie auf Chara.

Chara peitschte ihren Zorn gegen die Mauer ihres Verstandes und blieb sachlich.

„Göttlich oder magisch. Wie Siralen schon sagte, wir müssen es herausfinden. Fühlt Ihr Euch dazu imstande, Magus Primus Major?“ … Arschloch Kasai.

„Natürlich können die Zauberkundigen für Euch ans Licht bringen, ob es sich bei den Träumen um magisch verursachte oder beeinflusste Phänomene handelt, doch selbst Euch dürfte klar sein, werte Frau Pasiphae-Opoulos, dass wir, um die Träume auf ihren Ursprung hin überprüfen zu können, auf weitere Träume selbigen Ursprungs hoffen müssen. Wir können schlecht rückwirkend ans Licht bringen, was es damit auf sich hat. Fürderhin werdet Ihr verstehen, dass ein Zauberkundiger nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten hat, göttliches Wirken als solches zu erkennen, nicht wahr?“

Es kostete sie einiges an Kraft, Kasai ausreden zu lassen, aber irgendwie kratzte sie die Kurve.

„Klar. Den Rest erledigen dann die Priester. Telos?“

Telos nickte zustimmend und Chara fand in seinem Blick den Hinweis, dass er beabsichtigte, im Anschluss unter vier Augen mit ihr zu sprechen.

„Was haben die Untersuchungen der Gelehrten bezüglich der schwarzen Wasser ergeben?“, fragte Siralen.

Chara suchte nach den Worten des Obersten Gelehrten Garan Lefnui, den sie aufgrund seiner kooperativen Haltung kurzerhand in dieses Amt gehoben hatte.

„Die Wasser sind angeblich voll von einer unbekannten winzigen Lebensform – Kleinstlebewesen, die sich in das Holz der Schiffe arbeiten und den Teer fressen, der die Planken zusammenhält. Sie sind vom Sonnenlicht abhängig und scheinen dieses zu absorbieren, um den Überschuss nachts wieder abzugeben. Diese Eigenschaft verursacht das goldene Leuchten des Wassers. Die Tierchen zerstören nicht nur die Schiffe, sondern auch die Fische in den Gewässern. Nur die sehr großen Tiere … die mit den Tentakeln … denen können sie anscheinend nichts anhaben.“ Von diesen hatten sie am Vortag mehrere gesichtet und sie sowohl als unversehrt als auch als harmlos eingestuft. Letzteres weil sie, so sah es zumindest aus, in erster Linie mit der Paarung beschäftigt waren.

„Ich bestätige die Erkenntnisse der Gelehrten“, stimmte Kasai gönnerhaft zu.

Chara lehnte sich zurück und schniefte. „Wir haben Flaute. Wenn wir diese Todeszone nicht schnell verlassen, sinken unsere Schiffe.“

„Sollen wir dann nicht umkehren?“, brachte sich Darcean ein. „Ich fühle mich seit Tagen uneins mit dem Weltgeist. Es kommen dunkle Zeiten auf uns zu. Ich bin der Meinung, wir sollten keine unnötigen Risiken eingehen. Es stehen viel zu viele Leben auf dem Spiel.“

Chara schüttelte den Kopf. „Fakt ist, die Schiffe halten sich, sofern sich nichts ändert, höchstens noch zwei, vielleicht drei Tage über Wasser. Das sind Taurons Worte, nicht meine“, kam sie einer Widerrede seitens Kasais zuvor. „Kehren wir also um, bedeutet das unser sicheres Ende.“

„Wollte der Admiral nicht an der Besprechung teilnehmen?“, fragte Siralen einen Deut zu gleichgültig.

Da war doch was? In Siralens kühlem Gesicht … eine gewisse … Rastlosigkeit?

„Er wird schon kommen. Glaube, die gesamten Vorfälle nehmen ihn gerade ziemlich in die Mangel.“

Ein demonstratives Räuspern lenkte die Blicke aller Anwesenden auf Kasai.

„Es gibt noch eine Erkenntnis, die wir der ehrenwerten Magus Secundus Major Lucretia L’Incarto zu verdanken haben. Mit Hilfe ihrer vortrefflichen magischen Fähigkeiten konnte sie feststellen, dass sich die äußere Erscheinung der Gewässer innerhalb der nächsten achtzig VALM nicht ändern wird.“

Darcean, der offenbar gerade festgestellt hatte, dass seine Haltung zu wünschen übrig ließ, setzte sich aufrecht hin und legte seine Hände auf den Tisch. „Ich nehme an, sie hat sich dafür den allseits bekannten Zauber des Wandernden Auges zunutze gemacht.“

Chara musste ein Grinsen unterdrücken. Der Elf hatte gerade auf nonchalante Weise deutlich gemacht, dass es, entgegen Kasais Lobeshymnen, nicht gerade ein Kunststück war, was die ehrenwerte Magus Secundus da vollbracht hatte. Erfreulich wiederum, dass Lucretia Engagement zeigte.

„Wir halten dennoch Kurs“, schloss sie das Thema ab. „Wie gesagt, eine Rückkehr ist keine Option. Haben die Zauberkundigen eine Möglichkeit, mittels Wettermagie die Flaute zu beenden?“

„Nun, Frau Pasiphae-Opoulos“, kündigte sich eine weitere langatmige Erklärung Kasais an. „Vielleicht ist es Euch nicht bekannt, aber wir Zauberkundigen sind auf Ressourcen angewiesen, die wir, auch wenn Euch dies nur schwer einleuchten mag, gewissenhaft zur Anwendung bringen müssen. Für einen magischen Eingriff diesen Ausmaßes, immerhin handelt es sich hier um tausend Schiffe, würden wir …“

„Also keine Option“, kürzte Chara die Sache ab und sah zur Tür. Sie schloss sich gerade hinter Tauron Hagegard.

„Seit heute Morgen gehen gehäuft Berichte ein …“, begann er aufgebracht, „… dass die Mitglieder der Flotte seltsame Träume hatten – unheimliche Träume. Träume, die anscheinend bei allen gleich waren – bei sämtlichen Mitgliedern. Und jep, bevor ihr fragt, ich hatte auch solche Träume.“

„Wir sind bereits dran“, versuchte Chara eine weitere Verzögerung zu unterbinden. „Telos’ und Kasais Leute sehen sich die Träume an.“

Siralens kühle Stimme meldete sich zu Wort. „Außerdem werden wir in einer Nachricht an die Flotte Stellung zu den Träumen und den schwarz-goldenen Wassern beziehen.“

„Das würde ich euch auch geraten haben wollen“, gab Tauron ungewohnt harsch zurück. Er sah in etwa so aus, wie der Rest sich fühlte. „Ihr erfreut euch nicht gerade einer besonderen Beliebtheit.“

„Was, ich?“, fragte Siralen und jetzt klang sie fast schon aufgewühlt.

„Nicht Ihr.“ Taurons Stimme wurde milder. „Das gesamte Expeditionskommando. Die Seefahrer werden langsam nervös, weil sie nichts darüber wissen, was hier eigentlich abgeht. Wird Zeit, dass ihr ihnen ein wenig entgegenkommt.“

„Die sollen sich mal nicht in die Hosen machen“, ging Chara dazwischen. „Denen muss doch klar sein, dass wir bei einer solchen Mission mit ein paar Gefahren zu rechnen haben, und dass wir nicht ständig irgendwelche Trostschreiben durch die Flotte schicken können.“

Wo, verdammt noch mal, war eigentlich ihre Drogenpfeife?

„Kerrim, gib mir deine Pfeife!“

„Was, jetżet?“

„Ja, jetzt.“

Widerwillig holte er das gute Stück hervor und drückte es ihr in die Hand. „Aber wehe du vergisst, sie mir żu geben żurück.“

Als Chara mit Stopfen fertig war und das Drogenkraut zum Glühen gebracht hatte, stellte sie fest, dass alle sie anstarrten. „Was?“, fragte sie gereizt. „Ich hab nur meine Meinung gesagt.“

„Ist dein gutes Recht“, erwiderte Tauron. „Ändert aber nichts an meinem Problem. Ich muss hier einen Admiral geben, der voll und ganz hinter dem Expeditionskommando oder besser, hinter der Flottenoberkommandantin steht und ihr blind vertraut. Leider ist es mit meinem Vertrauen nicht weit her. Mal ehrlich, ich bezweifle selbst, dass wir diese Wasser sicher verlassen werden, ganz zu schweigen davon, dass wir den Großen Abgrund überwinden und da draußen, mitten im Nirgendwo, Land finden werden. Wir wissen ja nicht einmal einen genauen Kurs!“

„Ich vertraue darauf, dass Ihr den richtigen finden werdet“, unterbrach ihn Siralen.

Tauron schüttelte energisch den Kopf. „Das Ende der Welt ist das Ende der Welt. Wer das in Frage stellt, muss wahnsinnig sein.“ Er sah jetzt ausschließlich Chara an, und Chara wurde bewusst, dass er gerade eine Grenze überschritten hatte. Das hieß, sie musste ein Machtwort sprechen. Im Moment aber begnügte sie sich damit, ihm einen scharfen Blick zuzuwerfen. Tauron reagierte, indem er zurücktrat und kein weiteres Wort verlor.

Wie um die ohnehin schon angespannte Situation zu komplettieren, übernahm Kasai die Kontrolle über das weitere Gespräch.

„Wo gerade dieser sehr unangenehme Punkt des unleidigen Rufs dieses Kommandos zur Sprache gebracht wurde, möchte ich diesbezüglich anmerken …“

„Bevor Ihr diesen Punkt weiter ausführt, müssen wir eine Entscheidung treffen“, unterbrach ihn Chara erneut. „Wenn hier niemand Einspruch erhebt, halten wir den Kurs. Hat jemand Einwände?“

„Ich bin ebenfalls dafür, den Kurs zu halten“, stimmte Siralen zu und Darcean machte ein besorgtes Gesicht. Auch Telos sprach sich dafür aus, auf Kurs zu bleiben. Aber einer am Tisch hatte da so seine Bedenken.

„Leider können wir diese Entscheidung nicht treffen, solange Magus Secundus Lucretia L’Incarto ihre Meinung zu diesem Punkt nicht abgegeben hat“, bemerkte Kasai.

Chara schob sich die Pfeife in den Mundwinkel. „Ist sie hier?“

„Aufgrund des erst kürzlich stattgefundenen, unerwarteten und unnötigen Hinscheidens ihres Gefährten Stowokor Olschewski, fühlt sie sich derzeit nicht in der Lage, an den Besprechungen teilzunehmen.“

„Dann entscheiden wir ohne sie. Sehen wir zu, dass wir so schnell wie möglich dieses scheiß Wasser hinter uns lassen. Tauron, können deine Leute die Schiffe zumindest notdürftig reparieren?“

„Wir werden es versuchen müssen“, knirschte der Admiral. „Das heißt, wenn wir hier lebend rauskommen. Unsere Schiffe sind kurz davor zu sinken. Die Beiboote lösen sich in dem verfluchten Wasser zu schnell auf, um sie damit aus der Todeszone zu rudern. Also müssen wir unsere Schiffe direkt rudern, und das dauert. Sollten wir diese schwarze Suppe in den nächsten drei Tagen nicht verlassen, sieht’s auf jeden Fall übel aus. Und selbst wenn, früher oder später brauchen wir Trockendocks. Das heißt, wir müssen Land finden.“

„Dann hoffen wir das Beste.“

„Sonst noch irgendwelche Befehle?“

„Nein.“

„Jep. Dann verzieh ich mich.“ Damit verschwand Tauron nach draußen, und Kasai war an der Reihe. Chara sah den Magier an, während sich Siralen auf der anderen Seite des Tisches über ihre Unterlagen beugte und damit begann, sich Notizen zu machen.

„Genaugenommen seid Ihr das Problem, das ich gerne ansprechen möchte, Frau Pasiphae-Opoulos“, begann er schneidend und legte seine Fingerspitzen aneinander.

„Was Ihr nicht sagt. Ich war der irrigen Meinung, wir beide hätten kein Problem.“

„Das wäre in der Tat äußerst erfreulich.“ Ein provokantes Lächeln zuckte um seine schmalen Lippen. „Leider ist es weder mir, noch der ehrenwerten Frau Lucretia L’Incarto unter den vorherrschenden Bedingungen im Kommando möglich, mit dessen Mitgliedern effizient zusammenzuarbeiten. Ihr entscheidet und handelt gerne über den Kopf Eurer Kollegen hinweg, nicht wahr, Frau Pasiphae-Opoulos? Allen voran über den der Kommandantin der Zauberkundigen. So lassen sich allerdings keine vernünftigen und von allen Kommandomitgliedern abgesegneten Entscheidungen treffen. Wir können es uns nicht leisten, derart willkürlich, um nicht zu sagen, chaotisch vorzugehen. Nicht bei einer Mission dieser Größenordnug und Komplexität. Es werden Vorabsprachen zwischen einzelnen Kommandanten gehalten, über deren Inhalte die anderen Kommandomitglieder nur teilweise oder gar nicht ins Bild gesetzt werden. Darüber hinaus ist der Internen Sicherheit vorzuwerfen, dass sie ihre Untersuchungen viel zu offensichtlich durchführt, was wohl auch ihre Ineffizienz erklärt. Es ist uns nicht entgangen, dass Ihr die Zauberkundigen ausspionieren lasst, Frau Pasiphae-Opoulos …“

Chara schielte zu Kerrim, der plötzlich überaus wach aussah.

„Ihr behauptet, meine Assassinen würden ihre Arbeit nicht gut machen?“, erwiderte sie so ruhig, wie sie es eben vermochte. „Ihr seid es doch, der Lucretia eingeredet hat, die Magier müssten die Vizeadmiräle überwachen, was Lucretia dann auch prompt veranlasst hat. Und nun drehen die Seefahrer alle durch. Ihr habt also ohne mein oder das Einverständnis eines anderen Kommandomitglieds eine für alle offensichtliche Überwachungsaktion losgetreten und es danach so aussehen lassen, als wäre der Befehl von mir gekommen. Euretwegen habe ich einen ausgewachsenen Zwist mit den Piraten, die sich von mir hintergangen fühlen.“

„Seid Ihr denn auf einmal daran interessiert, dass man Euch als Flottenoberkommandierende respektiert? Das wäre mir neu, zumal Ihr auch während der letzten paar Glas deutlich gemacht habt, dass Ihr nicht sehr viel Wert darauf legt, die erhitzten Gemüter der Seeleute zu besänftigen …“

„Das ist nicht der Punkt, Kasai.“

„Für Euch immer noch Magus Primus Major Kasai. Und ich bin anderer Meinung als Ihr, Frau Pasiphae-Opoulos. Thema dieses Gesprächs ist Eure Inkompetenz, die wir gerade dabei sind, in allen Facetten zu erörtern.“

„Thema ist, dass Ihr dabei seid, klammheimlich Lucretias Posten zu übernehmen und nebenbei versucht, meinen Stellenwert zu untergraben.“

„Das ist Verleumdung!“

„Das ist offensichtlich. Ihr werdet Euch jetzt auf Eure eigentliche Arbeit konzentrieren und diesen heimlichen Botschaftenverfasser ermitteln, und zwar, ohne dass sich Eure Leute dabei an die Admiralität hängen. Ich verstehe nicht, was genau Ihr ans Licht bringen wollt, indem Ihr die Vizeadmiräle beschatten lasst. Das ist Aufgabe der Assassinen. Eure Zauberkundigen sollten sich vielmehr darauf konzentrieren, in ihrem näheren Umfeld zu prüfen, ob Magie gewirkt wird, die unter den Bereich der Dämonenbeschwörung fällt. Denn wir wissen bereits, dass das verdeckte Chaosbündnismitglied, das die Botschaften an Lucretia verfasst hat, diese mittels Schattenboten übermittelt hat. Und Schattenboten werden mit Hilfe von Beschwörungszaubern gerufen. Ebenso ist es möglich, dass die Träume mit magischen Mitteln geschickt wurden. Auch hier sollen Eure Leute sich darauf konzentrieren, magische Aktivitäten aufzuspüren und ihnen bei Verdacht nachzugehen. Das ist der Weg, wie man den Verrätern, ob nun Schreiber oder Traumwirker, auf die Spur kommt.“

Kasai lächelte fast schon mitleidig. „Sieh an. Ihr seid wohl neuerdings in der Zauberkunde bewandert. Oder wie kommt Ihr sonst auf die Idee, Ihr wüsstet darüber Bescheid, wie man in solch einer Angelegenheit vorgeht?“

„Das sagt mir mein Hausverstand.“

„Oh, ich verstehe, Euer Hausverstand …“ Er lehnte sich zurück und faltete seine schlanken Hände in seinem Schoß. „Wenn das so ist, dann werdet Ihr mit Unterstützung Eures Hausverstandes gewiss auch verstehen, dass die Zauberkundigen in diesem Fall keine weiteren Untersuchungen im Hinblick auf die Verräter unternehmen können. Wenn man uns den Freiraum nicht zugesteht, der für unsere Arbeit erforderlich ist, sodass wir selbst entscheiden können, wie wir im Falle des Falles vorgehen …“

„Es ist Eure verdammte Pflicht, Euch, wie jeder andere auch, für diese Mission ins Zeug zu legen“, fuhr Chara ihn an. Sie war kurz davor, Feuer zu speien und wäre sie Waron, stünde die Messe jetzt in Flammen. Nie hatte jemand sie derartig in Rage gebracht wie dieser kleinkarierte Spießer, der es schaffte, ihr jedes verdammte Wort im Mund umzudrehen, womit er nichts weiter tat, als von seinen hinterfotzigen Spielchen abzulenken.

„Nicht, solange sich die Dinge im Expeditionskommando so indiskutabel verhalten wie im Augenblick“, schnarrte er. „Im guten Willen und um die aggressive und damit gefährliche Situation innerhalb des Kommandos zu entschärfen, stelle ich den Antrag, hier einige Gesetze einzuführen. Wird der Antrag abgelehnt, sehen sich die Zauberkundigen gezwungen, sich mit tiefstem Bedauern aus dem Kommando und dieser Mission zurückzuziehen.“

Es wurde still in der Messe.

„Nun“, mischte sich Darcean ein. „Als Rechtsgelehrter bin ich gerne bereit, ein Protokoll über die genaue Gesetzeslage zu erstellen, möchte aber anmerken, dass es sich bei Eurer Ankündigung in punkto Rückzug der Zauberkundigen um Erpressung handelt.“

Netter Versuch, aber leider ließ sich Kasai davon nicht aus dem Konzept bringen.

„Die Missstände in diesem diktatorisch geführten Stab müssen beseitigt werden. Ansonsten sehe ich nicht, wie die auf uns zukommenden Aufgaben bewältigt werden könnten. Ich beantrage daher folgende Gesetze einzuführen:

Keine Vorabsprachen einzelner Kommandomitglieder. Keine Einmischung in die Kompetenzbereiche der jeweils anderen Kommandanten. In Zukunft gilt eine demokratische Entscheidungsfindung. Das bedeutet – nur um es auch denen begreiflich zu machen, die sich lediglich auf ihren Hausverstand berufen können …“ Seine spitze Nase schwenkte zu Chara. „… Ausschließlich die vereinte Stimmgewalt führt zur Gültigkeit einer Entscheidung. Darüber hinaus tritt das Recht der Zauberkundigen in Kraft, sich bei einem Verstoß gegen die Regeln aus der Mission zurückzuziehen. Werden die geforderten Gesetze abgelehnt, betrachte ich dies als eine Gefahr für Leib und Leben sowie für Hab und Gut der Zauberkundigen, und sehe mich gezwungen, jede weitere Zusammenarbeit selbiger mit dem Kommando dieser Expedition zu unterbinden.“

Siralen hatte ihre Feder zur Seite gelegt und sah nun zum ersten Mal richtiggehend besorgt aus. Sie erhob sich und schob ihren Zopf in den Nacken.

„Ohne die Unterstützung der Zauberkundigen sind uns anderen die Hände gebunden. Das ist Euch bewusst, oder, Magus Primus Major?“

„Das ist ihm sogar sehr bewusst“, bemerkte Chara. In ihrem Rücken spürte sie die Anspannung Noks und Itis.

Siralen nickte ernst. „Ich verstehe Eure Sorge um diese Mission und Euer Ansinnen, im Kommando und auch im restlichen Flottenverband für Ordnung zu sorgen, Magus Primus Major. Und ja, wir haben hier noch einiges zu verbessern. Dennoch befinde ich die Art und Weise, wie Ihr Euren Willen durchsetzt, für ähnlich undemokratisch, wie Ihr es Chara vorwerft.“

Jetzt kam Bewegung in den schwarzen Stoffberg, der Kerrim hieß und sich bislang kaum zu Wort gemeldet hatte.

„Nur so aine Frage, Kħasai … Sind das aigentlich Frau L’Incartos Forderungen oder die von Euch?“ Er schnappte sich wie nebenbei seine Pfeife aus Charas Hand und verhalf sich zu einem innigen Lungenzug.

„Werter Herr Ben Yussef“, näselte Kasai, „ich spreche natürlich alle hier von mir vorgebrachten Anträge mit Frau Lucretia L’Incarto ab, bevor ich sie zur Diskussion stelle.“

„Ah natürelich! Ist es wahr, dass Lucretia sich fühlet nicht ganż wohl und dass das auch ihre gaistige Verfassung betrifft ain bisschen …“

„Wollt Ihr Frau L’Incarto etwa unterstellen, sie wäre nicht bei Verst…“

„Nain, gar nicht. Es freut mich nur, dass Ihr Euch so vortreffelich kħümmert um Lucretia – wo sie doch gerade ist beschäftigt so sehr mit der Trauer um Olschewski – und abnehmt ihr die Last, ganż allain żu treffen Entschaidungen. Seher löblich.“

Womit klar war, dass es einen gab, der wusste, wie man jemandem wie Kasai das Maul stopfte. Jedenfalls wurde es endlich ruhig in der Messe.

„Ich schlage vor, Darcean setzt den Gesetzestext auf“, meldete sich erneut Siralen zu Wort. „Im Endeffekt haben wir keine andere Wahl, als Euren Forderungen nachzukommen, Magus Primus.“

Das Major in seinem Titel fiel ganz nebenbei unter den Tisch. Die Höflichkeit, mit der Siralen Kasai begegnete, schrumpfte mit jedem Satz. Noch einer mehr und Kasai war bis zu einem einfachen Magus degradiert. Auch eine Möglichkeit.

„Dir ist klar, dass er uns damit vollends in der Hand hat, oder?“, sagte Chara.

„Wir haben keine Wahl.“

„Genau davon rede ich.“

Ein beschwörender Blick seitens der Elfenkriegerin, und Chara lenkte ein: „Also gut. Gebt ihm, was er will. Ich werde unterzeichnen.“

Sie stand auf und wandte sich Kasai zu, woraufhin Nok und Iti sofort Haltung annahmen. „Ich gebe Tauron Bescheid, dass die Überwachung der Vizeadmiräle sofort eingestellt wird. Die Zauberkundigen werden die Admiräle nicht länger behelligen. Halten sie sich nicht daran, wird es hässlich. Und mein Hausverstand sagt mir, dass Ihr nicht der Typ seid, der auf Schlägereien abfährt, Kasai.“

Damit ging sie zur Tür und hörte, wie sich Telos und Kerrim knarzend aus ihren Stühlen erhoben.

Als sie kurze Zeit später ihre Kajüte betraten, fühlte Chara sich leicht betäubt.

Kerrim lehnte an dem kleinen Tisch gegenüber der Tür und Telos stand etwas verloren mitten im Raum.

„Ihr kħönnt sagen żuerst Chara, was Euch nicht passet“, überließ Kerrim ihm den Vortritt.

„Wie geht es dir, Chara?“, kam die erwartete Frage, und sie fühlte sich sofort an alte Zeiten erinnert.

„Ich arrangiere mich mit den Tatsachen.“

Die Narbe unter Telos’ linkem Auge knitterte. „Du darfst den anderen nicht das Ruder überlassen. Es könnte sein, dass der eine oder andere daran interessiert ist, deine Autorität zu untergraben.“

„Einer ganz sicher.“

„Die Zauberkundigen dürfen nicht zum Zünglein an der Waage werden.“

„Ich tue mein Bestes.“

Telos nickte. „Ich stehe hinter dir. Du kannst auf mich und die Agramon-Priesterschaft zählen. Das weißt du, oder?“

„Jetzt schon.“

„Das war immer so und wird immer so sein. Wir arbeiten zusammen.“

„Es fällt mir zwar schwer, es zu sagen, aber ich bin froh, das zu hören.“

Telos’ Ausdruck hatte plötzlich etwas Defensives. „Allerdings denke ich darüber nach, mein Amt an Oberhohepriester Laurin MacArgyll abzugeben.“

„Was? Wieso?“ Laurin MacArgyll war nicht gerade ein Verfechter ihrer Person, und das war noch untertrieben.

„Weil er der Bessere ist, wenn es darum geht, den Priesterschaften vorzustehen. Das ist eine Tatsache, an der ich nicht vorbeikomme. Agramon weiß das.“ Er ließ seine linke Faust in der rechten Hand verschwinden. „Einer der Gründe, warum er der Geeignetere von uns beiden ist, liegt in seinem neutralen Verhältnis zu den Kommandanten dieser Expedition. Ich bin befangen, weil ich dich als Freundin betrachte.“

„Und er ist befangen, weil er mich als Feindin betrachtet.“

Chara fuhr sich aufgebracht durch ihr Haar. Telos würde sich nicht umstimmen lassen. Er hielt immer an seinen Entscheidungen fest. „Wenn du denkst, das ist der richtige Weg …“

„Noch bleibt alles beim Alten. Wir werden sehen, wie sich die Dinge entwickeln.“ Er legte ihr die Hand auf die Schulter. „Wie gesagt, ich werde dich unterstützen, wo ich kann. Du weißt, wo du mich findest. Agramon hämmere deine Feinde, Chara.“

Nachdem er gegangen war, sah Chara Kerrim an.

„Und, was hast du mir zu sagen?“

Kerrim kaute auf seinem Pfeifenholm herum und zuckte mit den Schultern. „Nur, dass du dich vor Kħasai nehmen musst in Acht.“

„Ist mir klar.“

„Nain, ich glaub nicht, dass dir das wirkelich ist kħlar, Chara.“ Er zog die Pfeife aus dem Mund und verschränkte die Arme vor der Brust. „Der Magus Primus versucht żu żersägen dainen Kħommandostuhl. Das wird dir żwar bewusst sain, aber was du übersiehst, ist, dass er ist sehr mächtig. Nicht nur, was betrifft saine Fähigkaiten als Żauberkundiger. Erstens verstehe ich nicht, wie er finden kħonnte ħeraus, dass ich die Magier ausspioniere. Ich waiß, wie man so etwas macht, ohne dass es Verdacht erreget. Und żwaitens – die Żauberkundigen stehen alle ħinter ihm. Er war es nämlich, der ausgesucht ħat sie für diese Mission. Jeden Ainżelnen.“

Chara hob eine Braue. „Wieso weiß ich nichts darüber?“

„Ich ħabe es dir doch gesagt gerade.“

„Und wieso hat Al’Jebal das zugelassen?“

„Was żugelassen?“

„Dass ausgerechnet dieser pedantische Arsch die Magier für diese Mission aussucht.“

Kerrim zog ein unbekümmertes Gesicht. „Wahrschainelich ħat Al’Jebal entschieden so, wail Kħasai ist der fähigste Magier nach Gemiramel Waißfels.“

Chara löste den Waffengürtel von der Hüfte und warf ihn aufs Bett. „Ich halte ihn für einen Verräter, Kerrim.“

Eine Weile sah er sie nur an. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich waiß nicht, Chara. Nur, wail er versucht, dich żu werden los … ich maine, dich żu machen weg … ah verdammt!“ Er rieb sich genervt das Kinn. „Du waißt schon, wie ich es maine … dich żu bringen żum Schwaig…“

„Mich entmachten will“, half sie aus.

„Das ist es, was ich wollte sagen. Nur wail er das will, ħaißt das noch nicht, dass er ist ain Verräter.“ Er schob sich erneut die Pfeife in den Mund. „Aber wenn du mainst, wir sollen ihn machen weg, dann machen wir das.“

Chara spürte, wie ein Lächeln über ihre Lippen zuckte. Nicht wegen Kasais gerade in greifbare Nähe gerückten Versterbens, wenn dieser Gedanke auch verlockend war, sondern weil sich Kerrims Solidarität gut anfühlte. Sie brauchte den Assassinen, um in dieser Flotte bestehen zu können, und ihr war bewusst, dass es mehr als Solidarität war, was sie für ihn fühlte. Vielleicht war er ja die Lösung aller Probleme. Vielleicht konnte sie mit Kerrims Hilfe ihre Gefühle wieder in den Griff bekommen. Die langsam sich einschleichende Einsamkeit, die sich allmählich aufstauenden Bedürfnisse. Immerhin war er Al’Jebals Mann und als solcher dem Namai ebenso treu ergeben wie sie. Im Gegensatz zu allen anderen stellte er keine Gefahr für sie da. Wie sollte sie sich von Al’Jebal entfremden, wenn sie sich mit einem Kerl zusammentat, der wie sie mit Al’Jebals Wort stand und fiel? Kerrim könnte ein richtiger Freund sein.

Chara setzte sich aufs Bett und stützte die Arme auf ihren Schenkeln ab.

„Sag mal, wie ist das eigentlich? Wie verschaffst du dir Abhilfe, wenn du mal … also, du weißt schon, wenn du mal …“

„Wenn ich mal muss? Dann ħole ich ħervor mainen Nachttopf und lasse rinnen es.“

Alles klar. Ein Wink mit dem Zaunpfahl half hier wohl nichts.

„Wenn du vögeln willst, Kerrim.“

Ein Gespräch unter Freunden …

Jetzt wurde er sichtlich nervös. „Was mainst du, Chara?“

„Was an ‚Vögeln‘ verstehst du nicht?“

Sie konnte sich nicht erinnern, ihn je sprachlos erlebt zu haben. Vielleicht damals in Isahara, als sie ihm ihren Handel mit MacArgyll gestanden hatte.

„Äh …“, stammelte er. „Wieso fragst du mich das?“

„Weil ich’s wissen will. Du bist wie ich ein Hatschmaschin. Und ich frage mich, wie du damit umgehst, keine Partnerin zu haben.“

„Wer sagt, dass ich nicht ħabe aine Partnerin?“

„Kerrim.“

„Chara.“

Sie schnaubte auf. „Ich weiß, dass du niemanden hast. Also sag schon, was tust du, wenn es dich überkommt?“

Kerrim fuhr sich gestresst durch seine zerzausten Haare und steuerte den Ausgang an.

„So gehet das nicht. In dieser Situation … Ich kħann nicht reden mit dir über solche Dinge.“

„Wieso nicht?“

„Wail … ich nicht will … es dich nichts gehet an … das nichts ist, worüber wir reden müssten … es nichts tut zur Sache.“ Er öffnete die Tür und verschwand nach draußen.

Dann eben nicht.

Chara setzte sich auf ihr Bett, löste das kleine schwarze Buch von ihrem Waffengürtel und nahm die Feder zur Hand.

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto

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