Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto - J. H. Praßl - Страница 22

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Ein Schatten über der Meerjungfrau

Habt ihr Angst?

Sicher habt ihr Angst. Wir alle haben Angst. Es ist die Angst vor dem Fremden, die Angst vor dem, was wir nicht kennen, und auch nicht kennen lernen wollen. Es ist die Angst vor dem Schatten, die Angst vor dem Unbekannten, das dort draußen lauert und jederzeit zuschlagen könnte.

(LC, 1. Manifest, 2. Trideade im Drachenmond, 348 nGF)

Siralen saß mit einem Stück zugespitzter Kohle und überkreuzten Beinen auf einem zusammengerollten Tau am Vordeck und beobachtete die Mannschaft bei ihrer täglichen Schufterei. Darcean hatte sich während der vergangenen Tage in seiner Kajüte auf der Meerjungfrau eingerichtet und gab sein Bestes, sich mit der neuen Umgebung anzufreunden.

Nachdenklich ließ Siralen ihren Blick über die Decks des Güldenmaid-Seglers wandern. Die Matrosen schrubbten die Planken, schleppten Eimer mit Wasser durch die Gegend, schöpften Leck-, Schwitz- und Schmutzwasser aus der Bilge ab, hämmerten Nägel in lose Planken, befestigten Schoten oder hissten Segel …

Nachdem offenbar geworden war, dass die Kommandoschiffe von Charas Assassinen überwacht wurden, hatte Tauron Hagegard unzählige erregte Stimmen innerhalb der Seeleute zur Ruhe ermahnen müssen. Es gab kaum einen unter den Kapitänen, der sich nicht darüber empört hatte und damit drohte, die Befehle des Kommandos zu verweigern, sofern diese Maßnahme nicht eingestellt würde. Der Admiral war gezwungen gewesen, Chara zur Rede zu stellen. Siralen hatte eine natürliche Abneigung gegen jede Form der Misshelligkeit, und so hatte sie gar keine andere Wahl gehabt, als den Disput zu beobachten.

„Wie soll ich für die Sicherheit sorgen, wenn ich deinen Leuten permanent ums Maul gehen muss?“, hatte Chara gewettert. „Wir haben hier ein Verräter-Problem. Ist dir klar, was das bedeutet?“

Tauron hatte in einer Art und Weise gekontert, dass Siralen unvermittelt ein Licht aufgegangen war: Chara und Tauron hatten eindeutig eine Gemeinsamkeit. Beide waren Hitzköpfe, und selbst wenn Chara um den heißen brodelnden Kern in ihrem Inneren hart wie ein Fels war – ganz im Gegensatz zum Admiral, der von innen nach außen flammende Leidenschaft versprühte –, so war überdeutlich, dass beide dazu neigten, unkontrolliert hochzugehen. Und das war beileibe nicht das einzige Problem. Chara wie auch Tauron unterwarfen sich nicht. Sie unterwarfen sich niemandem und hörten nur auf sich selbst, oder, wie im Falle Charas, auf ihren Herrn. Das machte jegliche Kompromissfindung zu einem Tanz auf brüchigem Eis.

Dem Weltgeist sei Dank hatte Chara schließlich eingelenkt. Sie hatte auch keine Wahl gehabt. Das Wohlwollen, aber mehr noch der Gehorsam der Seefahrer waren unabdingbar. Mittlerweile stand außer Frage, dass dieses Kommando ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Vermittlungstalent benötigte, und Chara hatte weder das eine noch das andere. Also war es an Siralen, zwischen der funkensprühenden Assassinin und den anderen Mitgliedern der Kommandospitze als Brückenbauerin zu fungieren. Sie mochte eine Elfe sein, und damit war sie wohl nicht die erste Wahl, um zwischen Menschen zu vermitteln, aber dank ihrer Großmutter war sie gut darin unterwiesen worden, diplomatisch vorzugehen und ihre Worte wohlbedacht zu wählen. Auch wenn es Siralen nicht behagte, einen allzu engen Kontakt mit den Menschen zu pflegen. Zu vieles konnte dabei missverstanden werden, zu viel der Menschlichkeit auf ihr eigenes Wesen abfärben. Wer wusste besser als sie, wie leicht es geschehen konnte, sich vom eigenen Volk und seinem Wohl zu distanzieren. Ihr Vater hatte es ihr vorgemacht.

Mittlerweile war sie an einen Punkt geraten, an dem ihr die Menschen auf diesem Schiff gar nicht mehr so fremd waren, und hin und wieder ertappte sie sich sogar bei dem Gedanken, dass das Menschengeschlecht mitunter auch ganz erfreuliche Eigenschaften aufwies. Menschen mochten etwas naiv sein, sie mochten Zukunft und Vergangenheit gleichermaßen gedankenlos hinfort lachen, um dem Augenblick zu huldigen und die Sorglosigkeit zum erstrebenswerten Zustand zu erheben, aber sie lebten. Sie lebten auf eine Art und Weise, wie ihr eigenes Volk wohl nie leben würde, weil es viel zu skrupulös durch diese Welt ging. Dieser Skrupel war wichtig, nein, notwendig. Aber hin und wieder verspürte Siralen den Wunsch, selbst ein wenig mehr zu lachen und etwas weniger vorauszudenken.

Seit über einer Trideade bildete sie mit den Menschen nun eine Gemeinschaft auf engstem Raum. Die Meerjungfrau war ihrer aller Zuhause geworden. Die Kajüte, die man Siralen zugewiesen hatte, war klein und ohne Ausblick. Eine Koje mit einem Stockbett gestaltete die eine, ihre mitgebrachten Truhen die andere Hälfte. Der Tür gegenüber befanden sich ein in den Boden genagelter Tisch und ein Hocker. Sie hatte sich für das obere der beiden Betten entschieden. Vielleicht würde sie eine Schlafstatt in „luftigen Höhen“ für den Verlust der Wälder Albions im Austausch mit den beengenden Dimensionen eines Schiffs entschädigen. Und auch wenn Siralen die Wälder Albions vermisste und jeden freien Moment an Deck verbrachte, um sich vom Wind sanft das Haar streicheln zu lassen, begann sie, der See etwas abzugewinnen. Die Wasser des Ozeans waren ungezähmt, wild und irgendwo tief in Siralen verbarg sich eine heimliche Sehnsucht nach dieser Wildheit – nach einem ungezügelten, unvorhergesehenen …

Verstohlen beobachtete sie die raubeinigen Seefahrer, die teilweise nur ihre Beinkleider am Leib trugen, schwitzend ihren Arbeiten nachgingen und dabei vor sich hin pfiffen.

… dem Unaussprechlichen! Sie hatte Sehnsucht nach dem Unaussprechlichen.

Trügerisches Glück. Zerbrechliches Glück. Wo, wenn nicht im Menschenmann lauert das Unergründliche, Unaussprechliche … das Issirimen.

Die Liebe war unberechenbar, im Menschen schlummerte sie in ihrer gefährlichsten Ausprägung. In ihm lauerte zugleich der Tod für die einzig wahre Liebe – die Liebe zur Natur, ihrer Schöpfung und dem Alles.

„Schließ Aug und Mund für einen Tanz

und lausch dem Lied der Barden

du heilst mich nicht und bringst kein Glück

in meinen Seelengarten.“

In diesem Moment betrat Tauron Hagegard das Deck und Siralen verstummte. Der Admiral schloss die Tür der Steuermannskajüte und baute sich neben einem der Matrosen auf, wo er sich seinen Waffengürtel umschnallte, ein blaues Tuch über den Kopf band und prüfend über die Decks seines Schiffs blickte. Siralen wollte wegsehen, stellte aber kurz darauf fest, dass sie Tauron noch immer anstarrte.

„Dein Amt ist Kampf und Lust allein,

siehst im Moment die Ewigkeit.

Du bist schon so im Weltenrad

gefangen und befreit.

Der Zeitpunkt kommt, da man dich braucht.

Dann sei auch du bereit.

Und in dein Feuer, das verraucht,

wirf dich als letztes Scheit.“

Siralen blinzelte. Kopfschüttelnd beugte sie sich über ihre in Wildleder gebundenen Niederschriften und notierte:

Brigadier: Ragna MacGythrun

Regiment:

3 Brigadiersanwärter

5 Bataillone zu je 704 Mann

Bataillon:

1 Offizier

1 Unteroffizier

2 Unteroffiziersanwärter

30 Kompanien

Kompanien:

10 Schützenkompanien zu je 20 Mann

8 Aufklärerkompanien zu je 10 Mann

2 Kentaurenkompanien zu je 10 Mann

10 Infanteriekompanien zu je 40 Mann

Am Hauptdeck wurde es laut und die Kohle in Siralens Hand sprang vom Pergament zurück.

Chara. Sie war in Begleitung ihres tätowierten Anhangs aus der Luke zu den Mannschaftsunterkünften gestiegen und marschierte direkt auf sie zu. Aufmerksam studierte Siralen das blasse Gesicht, fand aber nichts darin, das ihr Aufschluss gegeben hätte.

„Hast du schon mitbekommen, dass Tauron ein Auge auf dich geworfen hat?“, bemerkte Chara, als würde sie ein missionsrelevantes Protokoll erörtern.

„Wieso denkst du, dass dieser Umstand von Interesse ist?“

Chara ließ ihre Hände in den Manteltaschen verschwinden. „Weil ich mir vorstellen kann, dass den Admiral ein kleines nächtliches Abenteuer entspannen könnte, was ihn zugänglicher machen würde, und das würde es mir wiederum erleichtern, mit ihm zusammenzuarbeiten.“

Unwillkürlich blickte Siralen zu Tauron, der noch immer am Hauptdeck stand und sie beobachtete.

„Was der Admiral denkt oder begehrt, ist für mich nicht von Relevanz“, erwiderte sie. „Und selbst wenn es so wäre, rate ich dir in aller Dringlichkeit, dich davon zu distanzieren, meine Interessen zu instrumentalisieren, um sie für deine Zwecke nutzbar zu machen.“

Chara verzog den Mund, was beinahe etwas Kumpelhaftes hatte.

„Wenn du willst. Allerdings kann man aus den persönlichen Interessen gelegentlich auch einen allgemeinen Nutzen ziehen. Es wäre fast nachlässig, das nicht zu tun. Das Ergebnis ist nämlich doppelt erfreulich.“ Ein schiefes Grinsen ließ ihren Eckzahn hervorblitzen. „Hab gehört, ein kleines Techtelmechtel kann sich bisweilen recht positiv auf den Organismus auswirken. Würde möglicherweise auch dir gut tun. Ihr Elfen seid doch der … der … na dieser … diesem Gefühlsding recht zugeneigt.“

Siralen hob ihre Braue. „Wovon sprichst du? Etwa von der Liebe?“ Sie unterdrückte ein Lächeln. „Sag, Chara, weshalb willst du dieses Wort nicht aussprechen?“

Das Grinsen aus Charas Gesicht verschwand, als hätte es der Wind mit sich fortgerissen.

„Wir sehen uns beim Abendessen.“

Ohne einen weiteren Kommentar drehte sie sich um und hielt im Gefolge der Dad Siki Na auf Tauron zu. Siralen sah ihr nach, bis ihr Blick erneut bei Tauron zum Stillstand kam.

Wie heilend kann der Liebe Licht schon sein, wenn doch so voll von Leid ihr Schatten ist?

„Stowokor“, hauchte Lucretia. Da hatte er sie schon in eine Umarmung gezogen und geküsst.

„Hab ich dir schon gesagt, dass ich dich liebe?“, flüsterte er in ihre Locken und Lucretias Magen ballte sich zu einer kleinen Faust zusammen.

„Das hast du“, versuchte sie es mit einer neutralen Antwort. Es war natürlich nicht das, was er hören wollte. Widerstrebend löste sie sich von ihm.

Stowokor ließ es nicht zu, dass sie ihm auswich, zog sie zum Bett und drückte sie behutsam auf die Matratze. Dann setzte er sich neben sie. „Worüber denkst du schon wieder nach, Lucretia?“

Lucretia stierte auf seine sauberen Nägel. „Ich muss mit dir über eine … eine nicht sehr angenehme Sache reden. Ich habe über die Botschaften aus giftiger Feder nachgedacht. Nach allem, was ich weiß, und nach allem, was mir Magus Primus Major Ahrsa Kasai bestätigt hat, fällt der Verdacht … er fällt …“ Sie musste schlucken, knetete betreten seine Finger. Irgendetwas verbot es ihr, Stowokor in die Augen zu sehen.

„Der Verdacht fällt, so leid es mir tut, auf dich, Stowokor.“

Die Hand in ihrer Hand versteifte sich.

„Bitte, versteh mich richtig. Ich bin sicher, dass nicht du der Botschaftenverfasser und damit ein Verräter bist. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass dein Ruf als integeres Mitglied der Zauberkundigen auf dem Spiel steht.“

„Wie, bei allen Göttern, kommst du oder Kasai auf mich?!“, stieß Stowokor bestürzt hervor und entzog sich ihrem Griff.

„Du warst die ganze Zeit in meiner Nähe“, flüsterte sie. „Du wusstest um meine Niedergeschlagenheit nach unserer Rückkehr von Isahara, und dass ich kurz davor war, meine Sachen zu packen und Billus zu verlassen. Ich war seelisch aus dem Gleichgewicht, und gerade das scheint dem Verfasser ein Motiv gewesen zu sein, mich als Ziel auszuwählen. Du hattest Gelegenheit, diese Nachricht zu schreiben und zu hinterlassen und nicht zuletzt – du hast gewusst, dass sie von einem Schattenboten übermittelt wurde. Warum hast du mir diese wertvolle Information vorenthalten?“

Der Vorwurf war da und mit der adäquaten Vehemenz über ihre Lippen gekommen. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“

„Ich wollte dich schützen“, sagte Stowokor sofort.

„Wovor denn? Du hast mich stattdessen in Gefahr gebracht.“

„Niemals! Ich war doch immer hier, hab doch jeden Tag darauf geachtet, dass du dich nicht in Gefahr bringst. Ich hab dir diese Tatsache verschwiegen, weil ich nicht wollte, dass du dich ängstigst. Immerhin handelt es sich bei dem Überbringer um einen Dämon – einen Boten der Unterwelt, den größtenteils Leute nutzen, die zur Chaosseite gehören.“ Er holte tief Luft. „Aber Lucretia, Liebes, ich habe dich keinen Herzschlag aus den Augen gelassen. Es hätte dir nichts passieren können.“

Lucretia suchte in seinem runden Gesicht nach einem Hinweis, der jeglichen Verdacht von ihm wies, und fand nichts als tiefe Zuneigung darin. Es tat weh. Doch seine Gefühle sprachen ihn noch lange nicht frei. Stowokor hatte mit seiner Verschwiegenheit Verdacht erregt und die Zauberkundigen hatten nun, da Kasai davon wusste, ein Recht darauf, diesem Verdacht auf den Grund zu gehen. Mehr noch, es war Lucretias Pflicht als Sprecherin der Zauberkundigen, dieses Verbrechen zu ahnden. Das Private war das eine, die Profession eine ganz andere Sache. Wer der Feder mächtig ist, schreibt keine Liebesgeschichte. Gefühle durften Entscheidungen nicht beeinflussen. Sie musste Härte und Entschlossenheit an den Tag legen und in aller Öffentlichkeit zeigen, dass sie mit ihrem Gefährten genauso verfuhr wie mit jedem anderen, der sich des Verdachts auf Verrat schuldig machte. Sie war kein dummes Mädchen, das man nach Belieben um den Finger wickeln konnte. Sie war Magus Secundus Minor Lucretia L’Incarto.

Langsam stand sie auf und faltete ihre Hände ineinander.

„Es tut mir leid, Stowokor. Aber als Kommandantin dieser Expedition muss ich darauf bestehen, dass du dich einer Befragung durch die Magier unterziehst.“

Aus Stowokors Gesicht wich jede Farbe. Lucretia war klar, warum.

„Du willst mich einer magischen Befragung unterziehen?“, flüsterte er. Lucretia entging nicht, dass seine Hände zu zittern begonnen hatten.

„Ja.“ Natürlich wusste Stowokor, dass es nicht irgendeine, sondern eine peinliche Befragung war und dass die Tatsache, dass diese mittels Magie durchgeführt werden sollte, selbige noch qualvoller ausfallen ließ. Dieses grauenvolle Wissen stand nun im Raum und schnitt sich, einer kalten Klinge gleich, zwischen sie und den Mann, der ihr zum treuen Begleiter und Freund geworden war.

Stowokors bebende Hand glitt zu seinem Mund. Seine Schultern sackten nach unten. Jetzt wirkte er wie ein Kind, nicht wie der fähigste Informationsmagier, der sich innerhalb dieser Flotte befand. Wäre er doch nur unfähig! Dann hätte man den nächstbesten Informationsmagier darauf ansetzen können, seine Antworten auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Mehr wäre nicht nötig. Aber da keiner der Spezialisten auf diesem Gebiet Stowokor das Wasser reichen konnte, blieb nur noch die peinliche Befragung.

„Du willst das wirklich tun, nicht?“, murmelte er mit gebrochener Stimme. Fast hätte er sie damit zum Umdenken bewegt. Fast.

„Ich muss.“ Sie verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Vielleicht, um sich selbst davor zu bewahren, ihn zu umarmen und damit Gefahr zu laufen, ihre Standhaftigkeit einzubüßen. „Ich werde Ahrsa Kasai informieren und ihn um die zu einem Verhör befähigten Zauberkundigen bitten.“

Stowokor atmete tief durch. Dann stemmte er sich schwerfällig hoch, warf ihr einen letzten Blick zu und verließ wortlos die Kajüte.

Als die Tür zugefallen war, ließ Lucretia sich auf ihren Hocker sinken, nahm ein Stück Pergament und verdrängte jeden Gedanken an den Moravi, sein Lächeln, seine Umarmungen, seine Küsse … eben alles, womit er ihre Welt ein wenig heller gemacht hatte.

Sie tunkte ihre Feder in das Tintenfass und setzte sie auf ein Stück Pergament:

Was soll das? Was wollt Ihr von mir?

Wumm machte es und Chara schreckte von ihren Aufzeichnungen hoch.

„Was ist?“, rief sie durch die Tür, die unter dem heftigen Schlag von Noks Faust erzitterte.

„Ben Yussef!“, donnerte der Dad Siki Na.

„Kann reinkommen!“ Chara beugte sich wieder über ihr kleines schwarzes Buch und schrieb den begonnenen Satz zu Ende.

Als sie erneut aufsah, war die Tür hinter Kerrim bereits geschlossen.

„Er möchte jetżet sprechen mit dir.“ Kerrim schob den Riegel vor und zog irgendein rundes Ding aus den Falten seines Gewandes. Es handelte sich dabei um eine Art Holzgestell und eine Kugel aus geschliffenem Kristall.

„Wer?“, fragte sie mit einem mulmigen Gefühl im Bauch.

„Al’Jebal.“

„Der Namai?“

„Kħennst du sonst noch jemanden, der ħaißet Al’Jebal?“ Er setzte sich auf den Boden, überkreuzte die Beine und stellte den Gegenstand vor sich ab. Die Kugel hatte einen Durchmesser von etwa einer Handbreit und lag nun auf dem einfachen dreieckigen Holzgestell, wo sie fast wie eine Einladung zum Anfassen wirkte.

„Kħomm schon, Chara!“

Sie fühlte sich ungelenk, als sie sich vom Bett erhob.

„Und jetzt?“, fragte sie und blickte unschlüssig auf ihn hinab. „Was genau soll ich tun?“

„Setże dich mir gegenüber.“

Chara warf einen prüfenden Blick zur Tür und glitt dann auf den Boden.

„Und weiter?“

„Du musst berühren die Kħugel mit dainen Fingern.“

Sie ergab sich ihrem Schicksal und tat, wie ihr geheißen. Innerlich versuchte sie, sich mit dem Gedanken anzufreunden, gleich Al’Jebals Stimme zu hören. Magie hatte schon etwas Befremdliches. Ein Kontakt mit Tamang vom weiten Ozean aus? Das konnte einem durchaus Respekt einflößen.

Der Kristall unter ihren Fingerspitzen erwärmte sich, kaum dass sie ihn berührte. Doch erst als Kerrim ihn anfasste, änderte sich seine Oberfläche wahrnehmbar. Ein blauer Lichtschimmer bildete sich um das Artefakt und schien die Kugel wie ein feines Netz einzuspinnen. Ein schwaches, verschwommenes Bild manifestierte sich im Kern, wurde allmählich schärfer, größer, breitete sich über die Einfassung hinweg aus. Etwas Rotes blitzte auf, und Charas Herzschlag setzte aus. So war das also. Sie würde Al’Jebal sehen. Er würde sie sehen.

Eine Gestalt im schwarzen Sessel nahm Kontur an … das ernste Gesicht, die unvergleichlichen Augen …

„Chara.“

„Al’Jebal.“

Kerrim zog eine Hand zurück und ließ sie in seinen Schoß fallen. Die andere beließ er auf dem Sockel des Artefakts. Als wollte er sich aus dem Gespräch rausnehmen. Und tatsächlich, Al’Jebal reagierte gar nicht auf seine Anwesenheit.

„Berichte“, drang er sofort zum Kern der Sache vor – jenen Dingen, über die sie nur ungern sprach.

„Wir haben einen Verräter in der Flotte.“

„Ja.“

Na sicher. Er bekam ja alles mit. Jedenfalls bis an die Grenze des Großen Abgrundes.

„Noch haben wir diesbezüglich keine Ergebnisse.“ Chara versuchte zu ignorieren, dass sich ihr Herz mit jedem Blick in seine Augen ein wenig mehr aufblähte.

Er beugte sich kaum merklich vor. „Chara, es ist nicht nur einer.“

Ach. „Wie viele sind es?“

„Einige. Ich weiß schon eine Weile, dass sich innerhalb der Allianz Spitzel des Chaos aufhalten. Ich musste sie loswerden.“

„Ihr sprecht vom Bündnis.“

„Waren wir beide nicht schon weiter?“

Chara wusste sofort, was er meinte. „Tut mir leid, es fällt mir immer noch schwer. Ich meine … du bist Al’Jebal.“

Ein knappes Nicken, dann kam er zum Thema zurück.

„Ja, ich spreche vom Chaosbündnis.“

„Dann ist diese Expedition nur ein Köder?“

„Die Expedition ist, was sie ist. Doch innerhalb einer Flotte sind die Verräter leichter zu finden und zu eliminieren als in einer Organisation von der Größe der Allianz.“

„Verstehe.“ Chara schluckte und wartete auf Anweisungen. Verstörenderweise kamen keine.

„Was willst du, das ich tue?“ Die Frage war nur natürlich. Umso befremdlicher war Al’Jebals Antwort.

„Das wirst du entscheiden müssen, Chara.“

Chara spürte, wie ihre Finger steif wurden. Wollte er ihr keinen Befehl erteilen? Nicht einen?

„Ich muss dir was sagen…“ Es musste endlich raus, lastete schwer wie Blei auf ihren Schultern. „Ich … ich habe eines deiner Geheimnisse verraten.“

Al’Jebal lehnte sich zurück. „Ich weiß.“

Und?

„Du hast schon so viele Fehler gemacht, Chara. Da kommt es auf einen mehr nicht an.“

Das war allerdings ein Schlag ins Gesicht. Seltsamerweise war sein Ausdruck nicht zornig, sondern sanft.

„Ich nehme an, du wirst alles in deiner Macht Stehende tun, dass er die Information nicht weitergibt“, fügte er hinzu.

Chara nickte. Sie hatte bis jetzt zu viel um die Ohren gehabt – mit den Gelehrten sprechen, Beschattungen veranlassen und dann wieder einstellen, mit Siralen an den Berichten für die Vizeadmiräle arbeiten, die Flottenliste aktuell halten …

Es wurde still in der Kajüte. Dann wurde es warm über ihrer Brust. Verwirrt tastete sie nach ihrem Hemd.

Al’Jebals Blut … Die Flüssigkeit in der kleinen Phiole hatte sich spürbar erwärmt.

Sie blickte auf und sah ihm in die Augen.

„Du musst vorsichtig sein, Chara. Das Ende der Welt ist nicht mehr weit. Ich weiß nicht, wie lange wir danach noch die Verbindung halten können.“

Ein unwirklicher Schleier schob sich vor ihr Augenlicht. Irgendetwas in ihr regte sich, schnappte nach Luft, verhalf sich zu einer Stimme: „Hinter der nahen Grenze wartet die Fremde. Dort bin ich meinen Wurzeln entrissen. Dort bin ich leer und ohne Weisung … Dort ist der Meister nicht mehr als ein schwaches Pulsieren über meinem Herzen.“ Sie griff nach der Phiole zwischen ihren Brüsten. Etwas tastete nach ihren Gedanken und begann, damit zu spielen. Etwas, das fremd war und doch mehr Chara war, als irgendetwas sonst. Die Worte flossen ohne Halt aus ihr heraus – wie ein breiter Strom, dessen Quelle tief in ihr verborgen lag.

„Doch alles, was ich in der Fremde tun werde, ist sein. Denn er hat mich geschaffen und zu ihm werde ich zurückkehren. Aber wenn ich wiederkehre, und der Meister ist tot, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um diese Welt in den Untergang zu führen. Denn wenn man mich berührt an den Wunden meiner Torheit, dann öffne ich die Tür zu einer Welt aus Schmerz und Angst.“

Ein Beben durchzuckte ihren Körper. Der Schleier vor ihren Augen löste sich auf. Über Al’Jebals Lippen glitt ein Lächeln.

„Ich werde hier sein.“

Das Licht um die Kugel erlosch und Chara sank erschöpft gegen den Bettrahmen.

„Eh, Chara?“, vernahm sie vage Kerrims Stimme. Sie hatte ganz vergessen, dass sie nicht allein in ihrer Kajüte war.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte er und hob das Artefakt auf.

„Ja.“

„Ich schätże, es wird sain besser, wenn ich dich lasse allain jetżt.“ Er ließ die Kugel samt Gestell unter seinem Umhang verschwinden und ging zur Tür.

„Ich bin froh, dass du hier bist, Kerrim.“

„Ich waiß.“

„Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Chara.“

Die Tür fiel klickend ins Schloss und Chara starrte an die Wand über dem Türrahmen. Sie hatte das Gefühl, als würde sie ihr entgegenkippen. Alle Wände schienen plötzlich nach innen zu kippen.

Kurz entschlossen schüttelte sie die Betäubung ab, stand auf, griff sich eines ihrer noch unbeschriebenen kleinen, schwarzen Bücher und setzte sich an den Tisch. Dort zog sie Feder und Tinte aus einer Gürteltasche und schickte ihre Gedanken auf Reisen.

Wann hatte alles begonnen? Wo hatte sie jene Abzweigung genommen, die sie zu Al’Jebal geführt hatte?

Eine Wüste schälte sich aus ihren Erinnerungen. Eine Gruppe Reisender auf Pferden. Ein Kriegspriester, ein vallandischer Barbar und ein Waldläufer aus Alba.

Chara senkte die Federspitze auf die erste Seite und schrieb: Thorn Gandir

Dann zog sie ein Stück Kohle aus ihrer Gürteltasche und begann zu zeichnen. Schwarze scharfe Linien und weiche Schatten füllten das Pergament. Während Thorns Silhouette langsam Gestalt annahm, zogen die Straßen, Gassen und prunkvollen Bauten der Stadt Valianor vor ihrem inneren Auge vorüber. Und dort, in einer Taverne, die für ihre Fischsuppe berühmt war, fand sie den Helden des Valianischen Imperiums. Er hatte sein langes braunes Haar mit einem Lederband im Nacken zusammengefasst und unterhielt sich leise mit einem Fremden. Plötzlich sah er auf, und ihre Blicke kreuzten sich.

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto

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