Читать книгу Wenn es dunkel wird ... - J. M. Roberts - Страница 11
8.
ОглавлениеRebecca gestand sich ein, dass es hauptsächlich ihre Neugier war, die sie am Sonntag zur Kirche gehen ließ. Obwohl es auf Drago Castle eine kleine Kapelle gab, gehörte es zur Tradition, dass der gesamte Hausstand des Lords am Gottesdienst in der Dorfkirche teilnahm.
Die Malerin hatte sich absichtlich etwas verspätet, um die Ankunft Seiner Lordschaft zu beobachten. Als er aus seiner Limousine stieg, erkannte Rebecca, dass sie an jenem Abend am Meer keineswegs das Schlossgespenst von Drago Castle gesehen hatte, sondern Lord Forbes. Obwohl er den wenigen Leuten, die noch vor der Kirche standen, ein freundliches Nicken schenkte, wirkte er auf eine seltsame Weise unnahbar. Er wandte sich seiner kleinen Tochter zu, die hinter ihm aus der Limousine geklettert war, und nahm sie bei der Hand. Mademoiselle Manet, Carols Gouvernante, folgte ihnen mit den übrigen Angestellten, die in einem zweiten Wagen gekommen waren.
"Ist sie mit ihren blonden Löckchen und den strahlend blauen Augen nicht reizend, die kleine Miss?", hörte Rebecca hinter sich Emily White fragen. Sie wandte sich ihr zu und begrüßte sie. Gemeinsam mit der Wirtschafterin betrat sie wenig später die Kirche.
Lord Forbes und seine Tochter hatten abseits der anderen in der Bank Platz genommen, die seit Generationen seiner Familie vorbehalten war. Es fiel Rebecca schwer, den Blick von ihnen zu wenden. Sie überlegte, ob sie den Lord aufsuchen und ihn bitten konnte, die Bücher, die sie von ihm besaß, zu signieren. Aber vielleicht sollte sie besser damit noch etwas warten. Lord Forbes musste sich erst wieder in England einleben.
Nach dem Gottesdienst lud Mrs. White die junge Frau zum Lunch ein. An und für sich hatte Rebecca vorgehabt, zum Essen nach Land's End zu fahren, aber sie wollte Emily nicht vor den Kopf stoßen, deshalb nahm sie die Einladung an. Als sie gemeinsam das Haus betraten, wurde sie vom Rest der Familie enthusiastisch begrüßt. Sie bedauerte, keine Süßigkeiten für die Enkelkinder der White's dabei zu haben.
"Ich hoffe, Sie mögen kräftige, englische Hausmannskost, Miss Deville", sagte Lucy White, Emilys jüngste Tochter, ein hübsches Mädchen mit einer Stupsnase. "Es gibt Rindfleisch-Stew nach der alten Art, Farmers Pudding und zum Nachtisch eine Fruchtcreme."
"Klingt verlockend", meinte Rebecca, während sie sich in der Küche die Hände wusch. "Ihre Mutter sagte, dass Sie eine Arbeit suchen."
Lucy nickte. "Ich habe morgen einen Termin in Newquay. Mal sehen, vielleicht klappt es." Sie hob die Schultern. "In die Fabrik möchte ich nicht. Ich würde mich dort nicht wohlfühlen, auch wenn ich bei der Arbeit am Fließband mehr als im Haushalt verdienen könnte." Sie seufzte auf. "Hat Ihnen meine Mutter gesagt, dass mir auf Drago Castle eine Stelle angeboten wurde?"
Rebecca nickte.
"Die Versuchung lag nahe, sie anzunehmen", fuhr die junge Frau fort. "Aber ich weiß nicht ..." Sie verzog das Gesicht. "Es wird so viel gemunkelt. Nicht, dass ich an Geister und dergleichen glaube. - Nun, Sie müssen zugeben, so genau weiß niemand, ob es nicht etwas gibt."
"Die endgültige Gewissheit haben wir jedenfalls nicht", bestätigte die Malerin. "Andererseits sagt mir mein Verstand, dass es keine Geistererscheinungen geben kann."
Lucy sah sie skeptisch an. "Miss Nelli, die frühere Kinderfrau Seiner Lordschaft, hat den alten Dagobert einmal gesehen", berichtete sie. "Er stand auf dem Treppenabsatz und sah fürchterlich aus. Aus seinen Mundwinkeln rann Blut. In seinem Herzen steckte ein Messer." Die junge Frau schüttelte sich. "Es muss grässlich gewesen sein."
"Wer war dieser Dagobert?", fragte Rebecca, als sie beim Essen saßen. "Gehörte er zur Familie?"
Emilys Schwiegersohn nickte. "Dagobert Forbes lebte vor rund dreihundert Jahren", sagte er. "Er war ein Stiefbruder des damaligen Lords. Er muss nicht richtig bei Verstand gewesen sein. Eines Nachts schlich er mit einem Jagdmesser in der Hand durch das Haus und tötete fast die gesamte Familie. Nur sein kleiner Großneffe Charles überlebte, weil ein mutiger Diener sich schützend vor ihn stellte. Es gelang ihm, Dagobert das Messer zu entwinden. Beim Kampf stieß er es ihm in die Brust."
"Sie sehen, Miss Deville, er hat die ganze Familie niedergestochen. Man sagt, er könnte keine Ruhe in seinem Grab finden, bis auch der letzte Forbes ausgerottet ist. Sehr viele Menschen haben den alten Dagobert im Laufe der letzten Jahrhunderte gesehen." Mrs. White reichte Rebecca ein weiteres Stück Farmers Pudding. "Lady Janet war schwanger. Es wäre ein Junge geworden. Der alte Dagobert wollte sie zusammen mit dem Kind auslöschen."
"Fragt sich, ob das Kleine ein Forbes gewesen wäre", bemerkte ihre älteste Tochter anzüglich.
"Still, Ethel!" Emily White runzelte unwillig die Stirn. "Habe ich euch nicht immer gesagt, ihr sollt euch vom Dorfklatsch fernhalten? Dass Lady Janet öfter für ein paar Tage nach London fuhr, muss noch lange nicht heißen, dass sie dort einen Geliebten hatte."
"Deine Mutter hat da völlig recht, Ethel", bemerkte ihr Schwiegersohn. "Geredet wird viel. Ich meine, dass Seine Lordschaft auch ohne Klatsch schon genug Sorgen hat. Es sollte endlich ein Schlussstrich unter die ganze Geschichte gezogen werden."
"Sorgen?" Rebecca hob die Augenbrauen.
"Nun es heißt, dass Seine Lordschaft kaum die Erbschaftssteuer aufbringen kann", sagte Mrs. White. "Vermutlich wird Lord Forbes einen Teil der Ländereien verkaufen müssen. Es wird ihm nicht leichtfallen, immerhin ist der Besitz seit Jahrhunderten in der Familie."
"Ich meine, er sollte sich lieber von einigen der Kunstgegenstände trennen", warf Lucy ein. "Drago Castle soll voll alten Plunders sein, wofür manche Leute Höchstpreise zahlen. Außerdem ist da noch dieses angeblich wundertätige Heiligenbild. Ich habe gehört, dass es seit zwei Wochen wieder in der Schlosskapelle hängt."
"Das Bildnis der Heiligen Agnes wäre wohl das Letzte, von dem sich Seine Lordschaft trennen würde", meinte ihre Mutter mit einem tadelnden Unterton. "Außerdem verstehst du von all diesen Dingen nichts, Lucy." Sie wandte sich an Rebecca: "Es heißt, dass das Bildnis der Heiligen Agnes der Familie immer wieder geholfen hat, wenn sie in Not geriet. Während der Abwesenheit Seiner Lordschaft ist es in einem Banktresor aufbewahrt worden."
"Haben Sie dieses Bild schon einmal gesehen?", erkundigte sich Rebecca.
"Leider nicht", seufzte die Wirtschafterin.
"Ich wünschte, unserer Reverent könnte Seine Lordschaft überreden, das Bildnis der Heiligen Agnes wenigstens für einen Sonntag unserer Kirche zur Verfügung zu stellen", sagte Ethel. "Wir haben alle schon soviel von diesem Bild gehört, aber gesehen hat es noch keiner."
"Das stimmt nicht", widersprach ihr Mann. "Du vergisst das Personal von Drago Castle. Er zwinkerte Lucy zu. "Vielleicht solltest du die Stelle im Schloss annehmen und sei es nur, um deiner Schwester zu beschreiben, wie das Bildnis der Heiligen Agnes aussieht."
Als Rebecca am späten Nachmittag zu ihrem Haus zurückfuhr, war sie voll der Geschichten, die sich über Drago Castle und seine Bewohner in Clovelly und Umgebung erzählt wurden. Am liebsten hätte sie dem Besitz einen Besuch abgestattet. Vor allen Dingen hätte sie gerne dieses angeblich wundertätige Heiligenbild gesehen. Auch wenn sie nicht daran glaubte, dass es wirklich Wunder vollbringen konnte, so musste es interessant sein, es zu betrachten.
Nachdem aus ihrem Besuch auf Land's End nichts geworden war, hatte die junge Frau eigentlich den Rest des Nachmittags am Meer verbringen wollen, statt dessen nahm sie ihren Skizzenblock und setzte sich in den Garten. Es war nicht das erste Mal, dass sie Drago Castle skizzierte. Dieses Mal zeichnete sie aus dem Gedächtnis Lord Forbes und seine kleine Tochter dazu.
Nach einer Stunde ließ die Malerin den Zeichenstift sinken. Sie blickte zum Schloss hinauf. Es wirkte plötzlich anders. Die Mauern schienen zurückzuweichen und den Blick auf das Innere der Schlosskapelle freizugeben.
Wie in Trance griff Rebecca erneut zum Stift. Sie nahm ein frisches Blatt. Mit flinken Strichen skizzierte sie die Kapelle. Sie vergaß nicht einmal das Bildnis der Heiligen Agnes. Dann, als sie den Stift schon fortwerfen wollte, musste sie weiter zeichnen.
Vor dem mit Blumen geschmückten Altar lag eine Frau. Sie trug ein blaues, sehr einfach geschnittenes Kleid. Ihr Kopf wurde von einer Bank verborgen. Die Frau schien bewusstlos zu sein. Ein hagerer Mann, dessen Gesichtszüge die Malerin nicht erkennen konnte, beugte sich über sie. In der Hand hielt er ein funkelndes Messer.