Читать книгу 4467 Tage oder Der Rache langer Atem - J. U. Gowski - Страница 10
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Sonntag 8. Mai
2.
Frank Grabowski sah aus dem offenen Fenster. Es war sieben Uhr. Er hatte schlecht geschlafen. Wieder einmal. Das Fenster im Schlafzimmer hatte er in der Nacht offengelassen, in der Hoffnung, dass sich die Stadt etwas abkühlte. Ein Fehlurteil. Der Preis war die laute nächtliche Geräuschkulisse vom Partyvolk auf dem S-Bahnhof, Motorradgeknatter in der Berliner Straße und die S-Bahn, die am Wochenende die ganze Nacht durchfuhr. Die drückende Hitze und der laute Geräuschpegel waren aber nicht der wirkliche Grund für seine Schlaflosigkeit. Es war Sie. Sie fehlte ihm. Seit er sie verloren hatte, schlief er selten gut. Die Leere, die sie in seinem Leben hinterlassen hatte, machte ihm zu schaffen, raubte ihm einerseits die Ruhe, andererseits lähmte sie ihn. Die Kollegen kannten ihn als gelassenen, unterkühlten Ermittler. Zum Glück schaffte er es, diese Fassade im Dezernat aufrecht zu halten. Doch spätestens hier in der Wohnung fiel sie ab. Die vier Wände waren sein Gehäuse, sein Schutzraum. Grabowski ging ins Wohnzimmer, öffnete dort das Fenster. Auf dem Tisch lag die Schachtel f6. Fünfzehn Zigaretten zählte er. Das bedeutete, dass er schon fünf von seiner geplanten Tagesration geraucht haben musste. War er so oft aufgestanden? Er konnte sich nicht erinnern. Doch der Blick in den Aschenbecher ließ keinen Zweifel zu. Was soll’s. Resigniert zuckte er mit den Achseln und steckte sich eine neue Zigarette zwischen die Lippen. Das Feuerzeug klickte. Er nahm einen kräftigen Zug. Sein schmales Gesicht entspannte sich.
Achter Mai - Tag der Befreiung. Er wusste nicht, warum ihm das plötzlich in den Kopf kam. Egal. Mittlerweile kein besonderer Tag mehr, ein beliebiger Sonntag wie jeder andere auch. Er überlegte, ob er zum Hertha Spiel fahren sollte. Sie spielten in Aue. Wenn sie dort gewinnen, war ihnen der Aufstieg in die 1. Bundesliga nicht mehr zu nehmen. Aber wahrscheinlich würde er sich dazu nicht aufraffen können und wieder vor dem Fernseher versacken. Auf jeden Fall lagerten genug Flaschen Guinness in seinem ansonsten leeren Kühlschrank. Frisch gezapft schmeckte es natürlich besser. Und wenn er mal die Stimmung unten beim Türken checkte? Flora Bistro. Dort lief der Fernseher Tag und Nacht. Im Vorbeigehen hatte er schon öfter gehört, dass ein Fußballspiel übertragen wurde. Guinness gab’s da ganz sicher nicht. Er wusste nicht mal, ob die überhaupt Bier vom Fass hatten. Aber menschliche Gesellschaft strafft die Körperhaltung. Mal sehen.
Frank Grabowski ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Zurück im Zimmer, drückte er die Zigarette aus und schloss das Fenster. Irgendwo trällerte ein Vogel lautstark. Er ging hinüber in das Schlafzimmer mit dem breiten Bett. Ein kleiner Schreibtisch mit Stuhl stand vor dem Fenster. Auf dem Boden lagen Zeitschriften verstreut. Der Monitor auf dem Tisch war an. Er hatte vergessen, ihn gestern Nacht auszuschalten. Er schaltete den PC ein und setzte sich. Als der Webbrowser sich öffnete, gab er die Internetseite der Bahn ein, um die Bahnverbindung nach Aue heraus zu suchen. In die Suchmaske tippte er den Zielort ein. Nach ein paar Sekunden zeigte ihm die Seite die Streckenverbindung an. Fahrdauer etwas über vier Stunden. Wenn er pünktlich zum Spielbeginn da sein wollte, müsste er um 8:27 Uhr mit dem Zug vom Hauptbahnhof fahren. Er sah auf die Uhr, noch knapp eine Stunde. Zeit genug den Zug zu schaffen, er müsste sich nur jetzt beeilen. Zum Hauptbahnhof brauchte er über eine halbe Stunde. Schulterzuckend stellte er fest, er hatte dazu überhaupt keine Lust. Auch so eine neue blöde Angewohnheit von ihm, dieses Achselzucken. Ein Zeichen der Unentschlossenheit, die sich bei ihm eingeschlichen hatte. Trotzdem, er hatte keine Lust auf Eile. Wenigstens hatte er es versucht, redete er sich ein und lächelte schwach. Aus der Küche kamen blubbernd zischende Geräusche. Ein sicheres Zeichen, dass der Kaffee gleich fertig war. Er zog die Schreibtischschublade auf und entnahm das Foto, wie so häufig in den letzten Tagen. Er betrachtete es lange. Zärtlich strich er mit den Fingern darüber.
Der Hund zog heftig an der Leine und wackelte aufgeregt mit seinem Hinterteil. Der Mann, der die Leine hielt, zündete sich eine Zigarette an. Verärgert nahm er einen heftigen Zug. Wieder hatte Marianne es geschafft, ihn dazu zu bringen mit dem Hund Gassi zugehen. Es reichte zu sagen: wenn du die Füße unter meinen Tisch.... Er verstand die Drohung. Der Hund war ein hässlicher Köter und ihr ein und alles. Es war ihm peinlich, mit diesem Vieh gesehen zu werden. Er konnte ihn nicht leiden, was wohl auf Gegenseitigkeit beruhte. Dieses dürre Gestell auf den dünnen Beinen, Glubschaugen und immerzu das Gekläffe. Am Rondell ließ er ihn von der Leine und schon tobte dieser blöde Köter laut kläffend los. Er setzte sich auf die Bank, neben der Rutsche. Es kam für ihn der schönste Teil des Tages. Der Hund war weg und er reckte das Gesicht mit geschlossenen Augen, dem wärmenden Sonnenlicht entgegen. Die Sonne kroch langsam zwischen den Hochhäusern empor. Alles wirkte still und friedlich. Er konnte seinen Gedanken nachhängen, seinen Träumen, seinem was-wäre-wenn. Er wusste natürlich, dass es ein was-wäre-wenn nie geben würde. Um das zu erkennen brauchte er noch nicht einmal einen seiner klareren Momente. Das unbestimmte Gefühl, vom Leben weniger zu bekommen als ihm eigentlich zu stand, begleitete ihn schon lange. Solange wie er zurückdenken konnte. Seine Entscheidung zu Marianne zu ziehen, war das Eingeständnis seiner Niederlage. Das Wissen, dass er an seiner Endstation angekommen war. Er hatte sich in eine Abhängigkeit begeben, aus der er sich nicht mehr befreien konnte. Sie hatte das Geld, die Wohnung und kochte für ihn das Essen. Er hatte nichts. Außer seine Tabletten, die ihn davor bewahrten in einer Anstalt als Fürst Romanow dahin zu vegetieren. Per Attest verschrieben von einer Ärztin, die hübsch und zu dem auch noch verständnisvoll war. Er hatte das Gefühl, sie nahm Anteil an seinem Leben. Der Gegensatz zu Marianne, der Frau, bei der er den Rest seines Lebens zu verbringen hatte. Leider sah er die Ärztin immer nur dann, wenn die Tabletten alle waren oder er vergessen hatte sie zu nehmen oder einfach nicht nehmen wollte. Wenn er sich entschloss aus dem Nebel zu treten.
Er sah auf die Uhr. Es war eine viertel Stunde her, als er den Hund von der Leine gelassen hatte und er war bisher nicht wieder aufgetaucht. Sicher er könnte ihn rufen. Aber er hörte sowieso nicht auf ihn. Und außerdem war ihm der Name peinlich: Adonis. Es war ihm unverständlich, wie man so ein hässliches Tier Adonis nennen konnte. Er stand von der Bank auf und lief in die Richtung, wohin der Hund verschwunden war. Er ging ein paar Meter, konnte ihn aber nicht entdecken. Dann hörte er das aufgeregte Gekläffe. Es kam aus der Böschung weiter vorn, da wo die jungen Birken standen. Er näherte sich dem Gebelle, konnte aber nichts erkennen. Er überlegte, ob er versuchen sollte ihn zu rufen. Er ließ es bleiben. Scheißköter brabbelte er vor sich und kämpfte sich dabei durch das Gebüsch. Als das Gebüsch sich teilte, sah er dort die Gestalt liegen. Er ging vorsichtig näher, griff sich den Hund und leinte ihn an. Dann erkannte er sie und wusste im selben Augenblick: Es war vorbei.