Читать книгу 4467 Tage oder Der Rache langer Atem - J. U. Gowski - Страница 11
3.
ОглавлениеHauptkommissar Salvatore Hieronymus Koslowski öffnete das Fenster in seinem Wohnzimmer seiner Hinterhauswohnung, nur um es gleich wieder zuschließen. Die stickige Hitze stand schon jetzt unerbittlich im Hof. Er stöhnte auf. Was soll das bloß im August werden, grummelte er. Seine beiden alten Katzen strichen ihm mauzend um die Beine. Sie wollten was zu fressen haben. Er ging in die Küche und kramte aus dem unteren Küchenschrank eine Dose Katzenfutter hervor. Die Graue beäugte sein Hantieren misstrauisch aus nächster Nähe, wie um zu sagen: nimm die Richtige. Anders der rote Kater, der postierte sich gleich in froher Erwartung schnurrend vor dem Futternapf. Nachdem er den Katzen das Futter gegeben hatte, ging er ins Bad.
In dem alten fast blinden Spiegel über dem gesprungenen Waschbecken sah er das ganze Elend. Unter dem wirren, inzwischen angegrauten kurzen Haar, das sich schon lichtete, ein Gesicht mit einem schmalen Mund und mit zunehmenden Alter kleiner werdenden, blaugrauen Augen. Seine Lippen hatten im Mundwinkel diesen leicht verbitterten Hang nach unten. Kein Wunder, wenn man sich eine Zweizimmerwohnung allein mit zwei Katzen teilte, dachte er.
Nach der morgendlichen Prozedur, die er widerwillig abarbeitete, zog er sich an und ging wieder in sein Arbeits- und Wohnzimmer. Er schaltete seinen Laptop an, um Mails abzufragen. Es war 10.00 Uhr. Die Katzen lagen auf der Fensterbank und schliefen. Wider besseren Wissens ging er zum Kühlschrank, um zu sehen, ob sich was Essbares darin befand. Er öffnete die Tür. Außer einer Flasche Weißwein und Licht befand sich nichts darin. Den Weißwein hatte er vor drei Jahren geschenkt bekommen. Seitdem lag die Flasche da und sah sich die verschiedenen Füllstände des Kühlschranks an.
Gut, dachte Koslowski, dann eben doch gleich zu „Ecki“ und verzichtete damit auf seinen morgendlichen Kaffee. Er setzte sein Berlin Thunder Basecap auf und zog die inzwischen blassgrüne Parkajacke über, ohne die er nie die Wohnung verließ. Seine erste Anschaffung vom Begrüßungsgeld nach der Wende. Gekauft in einem Army-Shop in der Wilmersdorfer Straße. Er fand es bequemer, Schlüsselbund und Brieftasche in der Jacke zu haben, als alles in der Hose. Er schloss die Wohnungstür hinter sich. Auf der Straße empfing ihn die Hitze. Es sollte Anfang Mai noch nicht so heiß sein, dachte er. Die Sredzkistraße lag noch ruhig da. Musik klang leise aus einem offenen Fenster. Irgendwo schepperte Geschirr. Für Koslowski die üblichen Sonntagmorgengeräusche die er seit seiner Kindheit kannte und liebte. Nicht mehr lange und die ersten Gerüche von warmen Mittagessen würden durch die offenen Fenster ziehen. Er ging an dem afrikanischen Restaurant vorbei. Vor einem Jahr war es noch ein amerikanisches Diner mit einer Tex-Mex Speisekarte. Noch früher, zu DDR Zeiten, eine Werkstatt für Fotoapparate. Der Schuster, ein paar Schritte weiter, hatte vergessen das Schild ›bin gleich wieder zurück‹ von seiner staubigen Eingangstür abzuhängen. Die Schusterwerkstatt war auch ein Relikt aus längst vergangenen Tagen und seit ein paar Jahren geschlossen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis hier eine Szenekneipe einziehen würde. Koslowski bog er in die Husemannstraße ein. Die Platanen dort boten schattige Oasen, wo der Wind ein wenig kühlte. Das Licht durchdrang das Grün der Bäume und sprenkelte helle Flecken auf die Straße. Er lief an dem asiatischen Restaurant Ostwind vorbei, rüber auf die andere Straßenseite. Eckis Pub lag in der Husemannstraße, ungefähr hundert Meter vor dem Kollwitzplatz. Die einzige Kneipe im Kollwitzkiez, die man noch als solche bezeichnen konnte. Bis zur 750 Jahrfeier Ost-Berlins ein Gemüseladen, wurde es dann als Café neu eröffnet. Die ganze Straße wurde damals zu diesem Anlass restauriert. Der alte Gemüseladen passte da nicht mehr ins Bild. Nach der Wende änderte das Café den Namen und das Angebot. Es wurde ein Irish Pub. Der Wirt blieb. Hier konnte Koslowski in Ruhe sein Bier trinken, ohne von Hipstern zugetextet zu werden. Man durfte sogar mürrisch sein und schweigen. Und zugegeben, das tat Koslowski am liebsten.
Ecki hatte schon seine Lederschürze um und war gerade dabei die Stühle und Tische herauszustellen. Es war noch etwas Zeit, bis er öffnete. Er sah nicht aus wie ein typischer Kneipier, war schlank und von mittlerer Größe. Das unauffällige Gesicht rahmte ein sorgsam gestutzter Vollbart ein, der langsam ergraute. Auf der schmalen Nase saß eine Kassengestellbrille. Für Koslowski das Abbild eines ehemaligen Offiziers, der sich nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Armeedienst den Traum von einer Kneipe verwirklicht hatte. Vielleicht war es ja auch so. Koslowski hatte ihn nie gefragt. Ecki bemerkte Koslowski, trat auf ihn zu und begrüßte ihn mit Handschlag. Sein angedeutetes Grinsen sollte wohl Freude zeigen.
»Geh schon rein, Sal. Dein Bier kommt gleich oder willst du draußen sitzen?«
Koslowski runzelte nur die Stirn.
»Ist ja gut, war nur ’ne Frage.«
Als Koslowski schon halb in der Eingangstür verschwunden war, rief Ecki fragend hinterher: »Harp oder Murphys?«
Koslowski hielt zwei Finger hoch und ging hinein. Er warf die Parkajacke über einen der Stühle an seinen Lieblingstisch im hinteren Raum am Fenster und setzte sich. Hier war es angenehm kühl. Die Einrichtung war rustikal, viel Holz. Die Längsseite gegenüber dem Tresen bestand nur aus drei riesigen Spiegeln, sodass die Kneipe größer wirkte. Nach wenigen Minuten stellte Ecki ihm das Murphys hin.
»Und willst Du noch was?« Ecki schaute Koslowski fragend an.
»Ja, mach mir zwei Buletten mit Spiegelei und Bratkartoffeln«, muffelte Koslowski. »Bitte«, setzte er eine winzige Tonlage freundlicher nach. Er hatte keine Ahnung, was er mit dem Sonntag anfangen sollte, das machte ihm sichtbar zu schaffen. Ecki verdrehte lachend die Augen, um sich dann in die Küche zu verziehen. Er kannte Koslowskis unleidliche Art.
Koslowski schaute in die Spiegel an der Wand, prostete sich zu. Er nahm einen kräftigen Schluck und schloss dabei genießerisch die Augen. Nach ein paar Minuten, kam die bestellte Mahlzeit. Als Koslowski die Bratkartoffeln mit Zwiebeln und Speck roch, merkte er erst, was für einen Riesenappetit er hatte. Mit Heißhunger machte er sich über das Essen her. Ecki verzog sich wieder hinter den Tresen, um Gläser zu spülen.
Koslowski hatte gerade die ersten Bissen zu sich genommen, da sprang die Kneipentür scheppernd auf und eine bekannte Stimme rief fragend zum Wirt: »Tach Ecki. Ist Sal hier?«
Ecki schaute fragend zu Koslowski rüber. Der nickte etwas widerstrebend.
»Sal sitzt hinten«, antwortete Ecki und zeigte mit dem Kopf in Koslowskis Richtung, um sich dann gleich wieder dem Gläserputzen zu widmen.
Tom Meyerbrinck schloss die Tür und betrat den hinteren Raum. In dem Moment als Koslowski Meyerbrincks Stimme gehört hatte, wusste er, dass sich die Frage nach der Sonntagsbeschäftigung erledigt hatte.
Meyerbrinck war ein paar Jahre jünger als Koslowski. Ende dreißig und gut fünfzehn Kilo schwerer, was mit seiner Körpergröße und auch den Kochkünsten seiner Frau zu tun hatte. Trotz der Größe und seines Gewichts war er, wenn es drauf ankam, der sportlichere von ihnen beiden. Ihre Charaktere und Biografien hätten nicht verschiedener sein können. Meyerbrincks rheinische Frohnatur mit der Geduld eines Dickhäuters und Koslowskis Ostberliner Kodderschnauze mit dem Hang zur morgendlichen schlechten Laune hatten sich gesucht und gefunden. Seit sieben Jahren arbeiteten sie zusammen und waren inzwischen so etwas wie Freunde geworden, wobei sich Koslowski das nie eingestehen würde. Die Gegensätze zwischen Ost und West, die seit der Wende in dieser Stadt aufeinanderprallten und von den deutschen Medien seit über zwanzig Jahren genüsslich am Leben gehalten wurden, spielten bei ihnen keine Rolle. Sie waren neugierig genug, um sich aufeinander einzulassen.
»Du hast dein verdammtes Handy ausgeschaltet.«
»Keine Ahnung«, brummte Koslowski undeutlich mit vollem Mund. »Ich habe es erst gar nicht mitgenommen. Aber du hast mich ja auch so gefunden.«
Meyerbrinck warf Koslowski einen vorwurfsvollen Blick zu.
Der ignorierte es und sagte: »Setzt dich. Du machst mich nervös, wenn du hier so rumstehst. Bestell dir einen Kaffee. Du weißt ganz genau, dass ich nicht gleich aufspringe. Ich will in Ruhe zu Ende frühstücken!«
»Frühstück? Pah«, machte Meyerbrinck und zeigte auf das Bier.
Koslowski betrachtete es als Aufforderung und genehmigte sich einen großen Schluck. Widerstrebend setzte sich Meyerbrinck an Koslowskis Tisch. Der machte Ecki ein Zeichen, schon war der Espresso in Arbeit. Meyerbrinck fuhr sich durch seine roten Haare und räusperte sich, nur um dann wieder zu schweigen.
»Sag schon, was mir den Sonntag versaut«, forderte Koslowski mit einer halben Bulette im Mund.
»Im Thälmann Park haben sie eine Kinderleiche gefunden. Ein Mädchen, ca sieben bis acht Jahre alt. Wir sollen den Fall übernehmen.«
Koslowski schwieg, kaute weiter an seiner Bulette. Ecki störte das Schweigen kurz mit leichtem Scheppern beim Abstellen der Espressotasse.
»Wieso wir?«, unterbrach Koslowski nach einer Weile das Schweigen. »Wir haben doch erst in zwei Wochen Bereitschaftsdienst?«
Er sah Meyerbrinck fragend an, leerte das Bierglas in einem Zug, rülpste und stand auf. Meyerbrinck nippte zweimal kurz an seinem Espresso, mehr gab das Tässchen nicht her.
»Krankheit und verschiedene Weiterbildungsseminare. Die haben die Einsatzstärke dezimiert, weswegen wir das übernehmen sollen.« Dann grinste er Koslowski an: »Du hast doch an Wochenenden sowieso nie was vor.«
Koslowski runzelte die Stirn und sagte nur: »Lass uns gehen.«
Er setzte sein Basecap auf, griff die Jacke und nickte kurz zu Ecki. Der stand immer noch hinter dem Tresen und polierte die Gläser. Wie immer würde Koslowski die Zeche später bezahlen. Koslowski betrat die Straße. Meyerbrinck stellte die leere Espressotasse ab und folgte ihm.
»Und stimmt, ich hab an Wochenenden selten was vor«, wandte sich Koslowski an Tom, während er sich seine Jacke überzog. »Doch wie sieht es mit dir aus? Deiner Familie? Kann mir vorstellen, dass Charlotte nicht gerade glücklich darüber ist, dass du so leichtfertig deine kollegiale Hilfe anbietest.«
Koslowski brauchte Meyerbrinck nur kurz anzusehen, um zu wissen, dass er Recht hatte. Meyerbrincks hatte seinen fünf Jahre alten Volvo auf der Straße in der zweiten Reihe geparkt. Sonntagvormittag war das noch kein Problem. Meyerbrinck zog sein Jackett aus, warf es auf die Rückbank. Sie stiegen ein. Meyerbrinck meldete über Funk an die Zentrale, dass sie auf dem Weg sind. Langsam fuhren sie los. Er bog links in die Wörtherstraße ein, vorbei an dem Kollwitzplatz, der schon wieder voller Menschen war. Erwachsene lagen auf ausgebreiteten Decken auf der Wiese. Ihre Kinder tollten laut kreischend umher. Wie ein Ostseebad im Sommer, dachte Koslowski genervt. Für viele alleinerziehende Mütter und Väter schien der Platz eine beliebte Informations- und Kontaktbörse zu sein. Ein Glück, dass er ein Stück weiter weg wohnte. Kinderlärm am frühen Morgen, das wäre für ihn die Hölle und würde ganz sicher nicht seine notorisch schlechte Morgenlaune verbessern. Sie kreuzten die Kollwitzstraße und dann die Rykestraße. An der Prenzlauer Allee mussten sie bei Rot halten. Sie schwiegen, jeder in sich versunken.
Meyerbrinck dachte an seine Frau, wie sie seinen Job verfluchte. Bei dem Gedanken daran musste er lächeln. Und Koslowski dachte an das tote Mädchen.
Es wurde grün, der Volvo überquerte die Kreuzung. Das Kopfsteinpflaster der Marienburger Straße erlaubte nur ein mäßiges Tempo. Sie fuhren an einem in der zweiten Reihe stehenden, leeren Streifenwagen vorbei. An der Kreuzung vor der Kaiser’s Kaufhalle standen ein paar Punks mit bunten Haaren und bettelten die wenigen Passanten wegen ein paar Euro an. Ihre Hunde genossen derweil die Freiheit, in die ausgestellten Blumentöpfe zu pinkeln. Stiefmütterchen für 2,50. Ein Werber der Berliner Morgenpost wollte die Sonntagsausgabe an den Mann bringen, schien aber zu merken, dass das ein vergebliches Unterfangen war. Er wirkte leicht verzweifelt. Den Punks tat er leid. Sie boten ihm eine Dose Bier an. Koslowski musste schmunzeln. Der Volvo bog gerade links in die Winsstraße ein, da krächzte das Funkgerät los. »Hier Zentrale.«
»Koslowski! Was gibt’s«, meldete er sich ungeduldig durch das Sprechgerät, die weibliche Stimme am anderen Ende unterbrechend.
»Fahrt doch bitte auf eurem Weg an der Marienburger Straße 9 vorbei. Todesfall. 3. Etage. Wahrscheinlich Suizid.«
Meyerbrinck hielt den Volvo an.
»Toll, da sind wir gerade dran vorbei gefahren. Könnt ihr nicht jemand anderen dahin schicken?«
Koslowski verzog dabei genervt das Gesicht.
»Erstens: Ich habe Bitte gesagt«, entgegnete die Stimme energisch. Auf eine Art, wie es nur Frauen können. »Und zweitens: Wozu? Es ist Sonntag. Ihr seid in der Nähe und die Leiche im Thälmann Park läuft euch nicht weg. Ihr müsst dort ohnehin auf die Spurensicherung warten. Also seid nicht albern«.
Koslowski spürte förmlich, wie die Person am anderen Ende der Leitung ob seiner Renitenz die Augen verdrehte.
»Gut.« Er gab resigniert auf. »Ich lass mich da absetzen. Ende!«
Koslowski klinkte das Sprechgerät in die Halterung und sagte »Hast ja alles gehört. Lass mich hier raus.«
Meyerbrinck öffnete das Handschuhfach, reichte Koslowski ein paar Wegwerfhandschuhe und Asservatenbeutel. Ohne eine Erwiderung abzuwarten stieg Koslowski aus und knallte die Tür zu.
»Hey das ist kein Panzer«, rief Meyerbrinck und trat aufs Gaspedal.