Читать книгу 4467 Tage oder Der Rache langer Atem - J. U. Gowski - Страница 14

6.

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Als sie zwei Stunden später in der Keithstraße ankamen, sie hatten auf Drängen Koslowskis noch an einem Imbiss gehalten, empfing sie der Wachtmeister vom Dienst mit kurzatmiger Stimme: »Und habt ihr schon was?«

Er war ein verschwitzter übergewichtiger Mann von Mitte dreißig. Nach der Gesichtsfarbe zu urteilen, mit zu hohem Blutdruck. Bei dem Bauchumfang kein Wunder, dachte Koslowski. Er gab ihm eine Lebenserwartung von nicht mal fünfzig Jahren.

»Nein«, antwortete Meyerbrinck.

»War sicher einer von diesen Ausländern, davon haben wir ja jetzt reichlich in Berlin«, bemerkte der Dicke abfällig. »Dort ist bestimmt eine Flüchtlingsunterkunft in der Nähe.«

Koslowskis Augen funkelten gefährlich. Er wollte sich erst beherrschen, doch dann platzte es aus ihm heraus: »Von welchem Dorf kommst du denn? Immer schön die Fremden nicht rein gelassen bei euch. Hast du deine Cousine oder deine Schwester gevögelt und dann geheiratet?«

Das Gesicht des Wachtmeisters lief bedrohlich rot an. »Willst du was in die Fresse, Koslowski?«

»Ja, komm her du Arschloch!«

Meyerbrinck stellte sich zwischen die beiden und schob Koslowski mit der Hand ein Stück in den Flur.

»Jetzt ist gut. Wir haben andere Sorgen.«

»Scheiß Nazi!«, grummelte Koslowski.

»Auch Polizisten dürfen blöd sein. Deswegen ist er noch lange kein Nazi.«, versuchte Meyerbrinck zu beschwichtigen.

Vergeblich.

»Bist du da sicher?« Koslowski warf Meyerbrinck einen bösen Blick zu und sagte, während sie in Richtung ihres Büros gingen: »Zu DDR Zeiten gab es ja angeblich keine Nazis bei uns, aber einen schönen Spruch: Ich bin nichts, ich kann nichts, gebt mir eine Uniform!«

Meyerbrinck lachte auf. Das Büro war groß und geräumig. Ihre beiden Schreibtische hatten sie mitten im Raum zu einer Insel zusammengestellt. Koslowski warf die Jacke achtlos auf seinen Stuhl und schaute zu dem Regal mit den Ablagefächern. In der Ablage warteten schon zwei große Umschläge. Einer enthielt die Fotoausdrucke vom Tatort. Der andere die Liste und den vorläufigen Bericht der am Tatort sichergestellten Spuren.

Koslowski reichte Meyerbrinck den Umschlag mit den Fotos. Er selber schob die Jacke auf dem Stuhl etwas beiseite, setzte sich an seinen Schreibtisch, und fing an die Liste zu studieren. Meyerbrink holte die Fotos aus dem Umschlag, sah sie sich an. Dann ging er zur Pinnwand und heftete die dort an. Auf der einen Seite die Fotos von dem Mädchen, auf der anderen Seite die der aufgenommenen Spuren. Er trat ein paar Schritte zurück, um noch einmal das ganze zu begutachten. Koslowski stand auf und trat neben .

»Wir haben nicht wirklich viel, oder?«

Meyerbrinck schüttelte den Kopf.

Das Telefon klingelte. Koslowski ging zurück zum Schreibtisch und hob das Mobilteil hoch, während er auf die Rufannahmetaste drückte.

»Koslowski«, brummte er in den Hörer. Am anderen Ende der Leitung hielt man sich kurz. Koslowski war es recht. Ein kurzer Grunzer zum Abschied, dann legte er auf.

»Die Mutter. Sie ist aufgetaucht.«

Er griff sich seine Parkajacke und ging zur Tür. »Wollen wir?«

Die schaulustige Menge am Thälmann-Park hatte sich inzwischen aufgelöst. Sie liefen den Weg hoch bis zu dem Hauseingang, vor dem ein uniformierter Polizist stand, um sie in Empfang zu nehmen. Er deutete kurz nach oben. »Im 4. Stock, eine Kollegin ist bei ihr. Klingelt bei Ankert.«

Sie betraten den Hausflur. Der war schmal mit weißen Wänden. Ab und zu eine kleine Krakelei. Eine noch schmalere Treppe mit einem Eisengeländer das vibrierte, wenn man daran wackelte, führte nach oben. Ihre Schritte hallten beim Hinaufsteigen der Treppe.

»Sehr hellhörig hier«, stellte Meyerbrinck fest und dachte: typisch Neubau. Im vierten Stock angekommen, musste Koslowski erst einmal etwas durchatmen. Meyerbrinck schmunzelte. Obwohl er mehr wog, war der Aufstieg an ihm fast spurlos vorübergegangen, wenn man mal von den Schweißflecken am Hemdkragen absah.

Koslowski drückte die Klingel. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann öffnete sich die Tür. Koslowski hielt seinen Ausweis hin. Eine uniformierte Polizistin um die vierzig, mit rotgefärbten kurzen Haaren und ernster Miene ließ sie ein.

»Kommen sie. Sie ist im Wohnzimmer.«

Die Polizistin ging voran durch den Flur, in dem die Garderobe und zwei kleine Schuhschränkchen gerade so ihren Platz gefunden hatten. Sie öffnete die angelehnte Zimmertür. Auch das Zimmer war nicht sehr groß. Eine Couch in hellem Beige und dazu passende Sessel waren um einen kleinen Glastisch gruppiert. Am Fenster eine Pflanzenbank mit Kakteen. Der Flachbildfernseher nahm fast ein Drittel der gegenüberliegenden Wand ein. Daneben hing eine Unzahl von gerahmten Fotos. Bücher gab es nicht. Auf der Couch saß eine zierliche, etwa dreißigjährige Frau mit blonden Haaren und verweintem Gesicht. Die Augen verquollen und mit Wimperntusche verschmiert. Eine der künstlichen Wimpern hatte sich halb gelöst. Die Nasenflügel gerötet. Eigentlich eine hübsche Person dachte Koslowski, schade dass sie es mit dem Schminken etwas übertreibt.

»Wann haben Sie gemerkt, dass ihr Kind nicht zu Hause ist?«, fragte Meyerbrinck ohne Umschweife.

Die Antwort war ein lauter Schluchzer.

»Sie ist gerade eben erst nach Hause gekommen«, antwortete die Polizistin an ihrer Stelle. Der Tonfall zeigte deutlich, was sie von der Person hielt. Meyerbrinck warf ihr einen kurzen warnenden Blick zu. Die blonde Frau schluchzte noch einmal auf.

»Ja, ich bin gerade erst nach Hause gekommen, wie schon ihre Kollegin hier bemerkte«, antwortete sie schniefend, um dabei einen kurzen giftigen Blick auf die Polizistin zu werfen. »Ich hatte gestern Frühschicht und deswegen woanders übernachtet. Ich habe ihr noch das Abendbrot gemacht und bin dann gegangen. Für Frühstück war Müsli und Milch da. Luise ist..«, sie schaute irritiert. Dann sammelten sich wieder Tränen in ihren Augen. »...war ein schon recht selbstständiges Mädchen.«

Koslowski sagte nichts. Er hielt sich zurück. Beobachte. Sah auf ihre zierlichen Sandalen, die die bemalten Zehennägel freigaben. Der rote Nagellack war etwas unsauber aufgebracht. Die Haut zwischen den Zehen hatten ein bisschen von dem Nagellack abbekommen. Die Uhr an ihrem schmalen Handgelenk glitzerte. Gold und Glitzersteine, der übliche Tinnef. Er bemerkte, dass die Uhr nicht die richtige Zeit anzeigte. Am anderen Handgelenk ein Goldkettchen und auf der Innenseite des Arms ein kleines Tattoo. Ein Schriftzug. Luise. Der Name der Tochter.

»Wann war das?«, fragte Meyerbrinck.

»So gegen 18.30 Uhr.«

»Ihre Uhr geht aber nicht richtig.« Koslowski zeigte auf ihr Handgelenk. Sie sah ihn überrascht an.

»Die geht auch nicht. Ist nur Modeschmuck.« Ihr Ton wurde plötzlich selbstbewusst, scheinbar hielt sie ihn für etwas beschränkt. Er gab ihr innerlich recht. Mit solchen Dingen kannte er sich nicht aus.

»Modeschmuck?«, fragte Koslowski verständnislos. »Sie meinen, wie eine Brille zutragen, obwohl man es gar nicht muss?«

Sie nickte und sah ihn an, als ob er von einem anderen Stern wäre, während Koslowski sich die Frage stellte, was an der Person überhaupt echt war. Das Goldkettchen? Die Tränen?

»War es das erste Mal, dass Sie sie bis zum nächsten Morgen alleine ließen?«, fragte Meyerbrinck nach.

»Nein«, kam die Antwort leise.

»Sie hatte doch sicher ihr eigenes Zimmer?«

»Ja«

»Können wir es uns anschauen?«

»Wann gehen sie endlich«, kam es leise, fast flehentlich zurück.

»Wir müssen uns dort umsehen. Ich hoffe, Sie verstehen das.«

Meyerbrinck schaute sie mitfühlend an. Sie nickte langsam.

»Das Zimmer ist auf der rechten Seite vom Flur.«

Das Kinderzimmer, das sie betraten, verriet noch die Handschrift der Mutter. Rosa Wände mit Mutter-Kind Fotos, ein Ikea-Kinderschreibtisch und ein weißes Kastenbett mit viel Stauraum darunter. Es wirkte aufgeräumt. Die Puppen und Plüschtiere waren in einem weißen Billy Regal drapiert, in dem sich auch ein paar Bilderbücher befanden. Die vorherrschende Farbe rosa machte auch vor der Schulmappe nicht halt, die an den Schreibtisch gelehnt stand. Auf dem Tisch, zwei Schulbücher und ein aufgeschlagenes Matheheft zeigten, dass sie die zweiten Klasse besucht hatte. In dem kleinen Regal neben dem Bett standen eine Minimusikanlage und ein paar CD’s. Darunter »Mimmelitt - das Stadtkaninchen«, »Der Traumzauberbaum«. Ansonsten Hörspiele wie »Bibi und Tina« oder »Die drei Fragezeichen«.

Meyerbrinck fand, eine ganz normale CD-Sammlung für ein normales Mädchen in dem Alter. Koslowski schaute sich die Fotos an. Es waren zum Teil die gleichen, die auch im Wohnzimmer hingen. Glückliche Mutter mit glücklichem Kind. Wirklich so oder nur zur Schau gestellt, fragte sich Koslowski. Kein Foto von Luise mit anderen Kindern. Immer nur mit der Mutter. Bis auf eins. Nach der Ähnlichkeit der drei auf dem Foto vermutete Koslowski, dass das die Oma von Luise war. Drei Generationen blonde Ankerts.

Sie gingen zurück ins Wohnzimmer.

»Sie sagten, sie hatten gestern Frühschicht. Wo arbeiten sie denn?« Meyerbrinck schaute die Mutter fragend an.

»Bei Kaisers in der Prenzlauer Allee, neben dem Autoverleih.«

»Hatte Luise keine Freundinnen, bei denen sie hätte übernachten können?«, hakte Koslowski ein.

»Nein, sie wollte nicht bei anderen Kindern schlafen. Sie hat... hatte nur eine Freundin. Claudia heißt sie, glaub ich. Sie trafen sich immer unten auf dem Spielplatz. Aber meistens unternahmen nur wir beide etwas. Oder mit meiner Mutter.«

»Aha, ganz die glückliche kleine Familie.«

Die Frau schaute irritiert zu Koslowski auf. Man sah ihr an, dass sie nicht wusste, wie er das gemeint haben könnte.

Meyerbrinck schon. Er verdrehte unbemerkt die Augen und seufzte. »Was mein Kollege meinte: Schön, dass sie so ein gutes vertrauensvolles Verhältnis zu ihrer Tochter hatten.«

Ein dankbares Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Können wir ein Foto von ihrer Tochter haben? Wir müssen hier die Nachbarschaft befragen, wer sie eventuell noch gesehen hat. Da ist ein aktuelles Foto hilfreich. Sie bekommen es auch zurück.«

Ihr blonder Kopf deutete in die Richtung des Fernsehers, wo auf dem Bord ein Bild in einem Glasrahmen stand. »Das ist das aktuellste Foto, was ich habe. Es ist vom letzten Sommer. Sonst haben wir ja auch immer zu Weihnachten Fotos gemacht. Aber der Apparat war kaputt gegangen und ich konnte mir bisher keinen neuen leisten.«, setzte sie entschuldigend hinter her.

Koslowski griff es sich, nahm das Foto aus dem Rahmen und steckte es nach einem kurzen Blick darauf in seine Jackentasche. Den leeren Rahmen stellte er zurück. »Gut, noch eine letzte Frage, dann gehen wir. Bei wem haben sie übernachtet?«

»Bei einem Freund.«

»Geht es etwas genauer?«

»Er ist verheiratet.«, sagte sie, in einem Tonfall als würde das alles erklären. »Seine Frau hat ein Café in Oberschöneweide. Das ›Lala‹. Ich hab ihn dort kennengelernt.«

»Sein Name?«, fragte Koslowski ungeduldig nach.

»Andre, Andre Lange. Er wohnt in Friedrichshagen. Ich kann ihnen die Handynummer von ihm geben.«

»Danke, wäre nett«, meinte Meyerbrinck.

»Kannte Luise ihren Peter.«

»Ja, aber sie mochte ihn aus irgendwelchen Gründen nicht besonders.« Wieder schluchzte sie auf.

Koslowski warf der uniformierten Beamtin einen Blick zu und sagte: »Ich glaube, das ist erst einmal alles. Wir melden uns, wenn wir noch Fragen haben.«

Dann nickte er zum Abschied der kleinen blonden, verheulten Person zu und ging Richtung Wohnungstür. Meyerbrinck wollte noch etwas sagen, ließ es aber sein und folgte Koslowski.

Als sie die Treppe hinunter liefen, sagte Meyerbrinck: »Sei nicht so hart zu ihr. Sie hat auch ein Recht darauf mal feiern zu gehen oder eine Verabredung zu haben.«

»Sie hätte nach dem Kind schauen sollen. Sie hat sie noch nicht mal abends angerufen!«, erwiderte Koslowski eisig. Er hatte kein Verständnis dafür.

»Wäre die Kleine dann weniger tot? Sie ist doch sofort, nach dem die Mutter weg war hinunter zum Spielplatz gegangen.«

»Was wir noch nicht sicher wissen«, erwiderte Koslowski. »Was ich bei der Frau nicht verstehe: Einerseits gluckenhaft, fast klammernd, aber wenn sie was Besseres vorhat, das Kind allein lassend.«

Er blieb kurz auf der Treppe stehen und wandte sich zu Meyerbrinck um, der hinter ihm lief. »Ich denke, du kümmerst dich um diesen Andre Lange. Ich werde mit den Kollegen sprechen, die die Häuser abgeklappert haben. Vielleicht hat ja jemand was gesehen. Wir telefonieren nachher, ok?«

Meyerbrinck nickte zustimmend.

Als sie aus dem Haus traten, merkte Koslowski, dass die Temperatur noch um ein paar Grad gestiegen war. Seinem mürrischen Gesicht nach zu urteilen empfand er das als persönlichen Angriff. Meyerbrinck musste grinsen. »Und immer schön die Parkajacke anbehalten.«, konnte er sich nicht verkneifen.

Koslowski fand das nicht komisch.

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