Читать книгу 4467 Tage oder Der Rache langer Atem - J. U. Gowski - Страница 16

8.

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Der Sonntag hatte sich in die Länge gezogen, war zäh vergangen wie jeder andere arbeitsfreie Sonntag in letzter Zeit. Aufstehen, Essen, Trinken. An den Wochenenden empfand er die Einsamkeit besonders stark. Er hatte nicht viele Freunde, genau genommen sind ihm nur ein, zwei geblieben. Doch wie sagt einer seiner Freunde immer: Das Wochenende gehört der Familie. Dazu gehörte Grabowski eindeutig nicht.

Er war nicht nach Aue gefahren, hatte den Versuch unternommen Zeitung zu lesen. Irgendwann dann das erste Guinness. Kurz nach Mittag waren es schon drei Guinness und zwei Whisky. Auch das Bistro hatte er nicht aufgesucht. Es war einfacher, den Fernseher einzuschalten und sich das Hertha-Spiel da anzusehen. Schließlich hatte er Sky für teures Geld abonniert. In diesem Fall war es von Vorteil keine Frau mehr zu haben. Man konnte ohne schlechtes Gewissen Fußball schauen, dachte Grabowski. Keine Frau, die deswegen nörgelte. Das schien aber auch der einzige Vorteil, wie er bitter feststellte. Hertha BSC gewann in Aue 2:0. Damit war der Aufstieg in die 1. Bundesliga vor dem letzten Spieltag endgültig gesichert. Grabowski freute sich. Er schaute sich noch einmal die Zusammenfassungen der anderen Spiele an. Später meldete sich der Hunger und trieb ihn in die Küche. Nach dem Blick in den Kühlschrank griff er zu dem Flyer von Call A Pizza, wählte die Nummer und gab telefonisch seine Bestellung durch. Pizza Hawaii. Nach nur 25 Minuten klingelte der Pizzabote an der Tür. Der freute sich nur mäßig darüber, dass Grabowski ihm das Geld passend gab. Plötzlich kam er sich geizig vor. War er schon immer so gewesen? Wenn ja, warum war ihm das nie aufgefallen? Einfach weil Ina immer für sie beide bezahlt hatte? Sie hatte immer die Rechnungen beglichen und sich hinterher an seinem Portemonnaie bedient. Kann sein, dass er sich nie um so etwas gekümmert hatte.

Nachdem er die Pizza aufgegessen hatte, packte er den leeren Karton zu den anderen, die sich auf dem Küchenfußboden stapelten. Er sah aus dem Fenster. Die sommerliche Temperatur vom Tage hatte sich leicht abgekühlt. Er wusste, dass er sich nicht so gehen lassen sollte, sich wieder in den Griff kriegen musste. Wenn die anderen wüssten, wie jämmerlich er sich manchmal fühlte.

Der Nachthimmel war klar und von tiefem schwarz. Irgendwo an den weniger beleuchteten Enden der Stadt, konnte man sicher einen schönen Sternenhimmel sehen. Hier sah man nur die am kräftigsten Leuchtenden. Er konnte den großen Bären ausmachen, erinnerte sich, wie er ihn seiner Frau gezeigt hatte. Sie mochte es, wenn sie über den Feldacker bei seinen Eltern gingen und er ihr die Sternenbilder erklären konnte. Wieder spürte er das Ziehen, die Ohnmacht. Wie kann so etwas ungesühnt bleiben? Ganz einfach: Er hatte es zugelassen! Doch für die Sühne würde er sorgen. Auf dem Schreibtisch lag immer noch das Foto. Er hatte es nicht wieder in die Schublade gelegt. Entschlossen nahm er einen Schluck aus der Flasche. Es war mittlerweile das siebente Bier und schon etwas lauwarm, fast schal. Er spürte, wie sein betrunkener Zustand ihn in seiner Entschlossenheit bestärkte. Die Ängste schwanden. Er kam ins Gleichgewicht und gewann an Selbstvertrauen. Es war ihm klar, dass es morgen früh wieder ganz anders aussehen würde. Wie jedes mal. Er zündete sich eine f6 an und inhalierte tief. Was für ein Elend, dachte Frank Grabowski und meinte sich. Draußen fuhr mit lautem Knattern ein Motorrad vorbei. Nach dem er aufgeraucht hatte, schloss er das Fenster und ging in die Küche. Aus dem Kühlschrank holte er sich das letzte Bier und öffnete es, nahm einen tiefen Schluck. Dann rülpste er. Im Kühlschrank hatte er noch eine Büchse Fisch entdeckt. Hering in Dillsauce. Er holte die Büchse raus, öffnete sie und aß im stehen den Fisch mit einer Gabel direkt aus der Büchse. Ina hätte das nicht zugelassen. Er hörte förmlich, wie Ina genervt sagt: »Kannst du dich nicht an den Tisch setzen, bevor du anfängst, das Essen in dich rein zu schlingen. Und Teller haben wir auch!«

Die Soße dippte er mit dem schlabberigen Toastbrot auf, zu faul, es in den Toaster zu schieben. Dabei bekleckerte er sein Hemd. Er stellt fest, er war besoffen. Er wankte zur Toilette, sah sein Gesicht im Spiegel und fand tatsächlich noch seine blassblauen Augen. Der sorgfältig gezogene Seitenscheitel von heute Morgen hatte sich aufgelöst. Was für ein Elend, dachte er wieder. Frank Grabowski öffnete seine Hose und pisste ins Waschbecken.

Koslowski war müde. Die Haustür ließ sich wie immer schwer öffnen. Er ging durch den Hausflur und betrat den Hof, dessen Wände immer noch die Wärme des Frühlingstages ausstrahlten. Ihm entgegen kam ein alter Mann, leicht gebeugt und trotz der Wärme mit einer dicken Strickjacke bekleidet. In der Hand eine Mülltüte. Koslowski wollte schon an ihm vorbei gehen, als der Mann ihn am Arm festhielt. Irritiert blieb er stehen.

»Ja?«

»Guten Abend. Ich bin ihr Nachbar«, stellte er sich vor. »Und ich hab gestern ein Paket für sie entgegengenommen.«

Koslowski schaute ihn verwirrt an.

»Wenn Sie kurz warten, bis ich den Müll entsorgt habe, kann ich ihnen das Paket geben.« Der Alte lächelt freundlich.

Koslowski runzelte die Stirn. »Ähh, ja klar.«

Im Gesicht des Alten bildeten sich kleine Fältchen um seine grauen Augen. Er kicherte leise.

»Schon ein paar Bierchen intus wie? Ich hab es ja mehr mit Rotwein. Über 50 Jahre war ich mit meiner Frida verheiratet. Wir sind oft ins Rhônetal gefahren.« Er sah Koslowski an. »Eigentlich sollte der Mann vor der Frau sterben. Hat bei mir und meiner Frida leider nicht geklappt. Frauen können besser damit umgehen. Haben sie Lust auf einen Tee, oder müssen sie noch ihre Katzen füttern.«

Koslowski schaute ihn überrascht an.

»Na ja, ich seh sie öfter am Fenster sitzen«, erklärte der alte Mann.

»Ist das ihre Privatbibliothek?«, rief Koslowski aus, als er das Wohnzimmer seines Nachbarn betrat und vor den Wänden mit den Büchern stand.

»Ja«, kam die kurze Antwort. »Schauen Sie sich ruhig um, ich mach derweil einen Tee für uns.«

Koslowski ging staunend die Regale ab, die bis unter die Decke reichten. Die Böden bogen sich teilweise unter der Last. Ein System konnte er nicht erkennen. Aber er musste zugeben, er war beeindruckt. Den größten Platz nahmen Foto- und Kunstbände ein. Es mussten einige hundert sein. Darunter viele Monographien von Malern der Renaissance. Aber auch Surrealisten und die Moderne waren vertreten. Am meisten staunte er über die Sammlung von Ausstellungskatalogen von Strawalde. Die musste beinahe vollständig sein. Koslowski kannte sich nicht wirklich aus mit Kunst, war aber durch seine Eltern vorbelastet.

»Sie mögen Strawalde?«

»Den kennen Sie?«, kam die erstaunte Gegenfrage aus der Küche.

»Na, ja mein Vater hatte mit ihm, ich sag mal freundschaftlichen Kontakt.«, erklärte Koslowski.

»Dann wissen Sie ja sicher, dass er auch als Dokumentarfilmer gearbeitet hat?«, fragte die Stimme des Alten aus der Küche. »Allerdings unter seinem bürgerlichen Namen Jürgen Böttcher. Als wollte er beides nicht vermischen. Er hat nach meiner Meinung in beiden Bereichen gänzlich anders gearbeitet. Im Gegensatz zu seinen grafischen Arbeiten hat er in seinen Filmen nichts übermalt. Im Gegenteil: Auf seine sehr sanfte Art hat er versucht den Nerv bloßzulegen, ohne den Finger verletzend in die Wunde zu stecken. Beim Malen wollte er etwas anderes erreichen. Er fügte hinzu, veränderte. Für mich war er ein Ausnahmekünstler in der DDR.«

Koslowski sagte nichts, hatte keine Lust auf einen kulturpolitischen Vortrag. Es erinnerte ihn an seinen Vater. Er wollte dazu keine Meinung haben. Hinten in der Ecke stand ein Plattenspieler. Er sah groß und schwer aus. Irgendwie ganz schön wenig Knöpfe fand Koslowski. Daneben stand ein breites Regal mit Schallplatten. Er tippte auf an die hundert. Hauptsächlich Klassik und Opern wie Koslowski feststellte, als er kurz durchblätterte.

»Soll ich etwas auflegen?«, fragte der alte Mann, der unbemerkt mit einem Tablett ins Zimmer gekommen war. Er stellte das Tablett auf dem kleinen Holztisch ab, der am Fenster stand, eingerahmt von zwei Stühlen.

»Nein, vielleicht ein anderes Mal.«

Ein Schmunzeln zeigte sich auf dem faltigen Gesicht. Er hatte Koslowski durchschaut.

»Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Johannes Thieme.«, sagte er und reichte Koslowski die Hand.

»Koslowski, einfach nur Koslowski.«, erwiderte der. Er wollte seinen Vornamen nicht nennen.

»Schön! Da wir das jetzt hinter uns gebracht haben, können wir den Tee genießen«, meinte Thieme leise lachend. »Ich hoffe, der hindert sie nachher nicht am Schlafen.«

»Ich glaube, da hindern mich eher andere Dinge«, erwiderte Koslowski.

Thieme blickte neugierig zu ihm auf. Koslowski zeigte keine Anstalten es weiter auszuführen und so goss er den Tee in die Tassen.

»Milch? Zucker?«

4467 Tage oder Der Rache langer Atem

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