Читать книгу 4467 Tage oder Der Rache langer Atem - J. U. Gowski - Страница 9
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Gegenwart – Samstag 7. Mai
1.
Frau Jacobs ging ihrer abendlichen Lieblingsbeschäftigung nach. Sie sah aus dem Fenster, ihren runden Kopf auf die Hände gestützt. Der Blick ihrer mausgrauen Augen schweifte unablässig über das sich bietende Panorama. Sie hatte es sich mit einem Sofakissen unter ihren dicken Ellenbogen bequem gemacht. Häufig stellte sie Vermutungen über das gesehene an, erdachte sich kleine Geschichtchen. 67 Jahre und immer noch scharf sehende Augen wie ein junges Mädchen. Mit einem Anflug von Stolz lächelte sie vor sich hin. Ihr Mann schaute fern und sie eben gern aus dem Fenster. Sicher, man könnte auch was anderes machen, zum Beispiel reden. Doch irgendwie hat sich das Schweigen in ihrer 45jährigen Ehe immer breiter gemacht. Sie vermisste das Reden aber auch nicht. War es eine gute Ehe? Sie hat sich darüber nie Gedanken gemacht. Kinder hätte sie gern gehabt, aber es sollte nicht sein und ihr Erwin war auch nicht unglücklich darüber. Ja ihr Erwin... Sie seufzte.
Bis 1984 standen hier die Gasometer des Gaswerkes IV, die die Stadt bis 1981 mit Gas aus Verkokung versorgten. Das Resultat war eine hohe Belastung durch Staub, Ruß und Gas. Ab 1979 belieferte die Sowjetunion die DDR mit Gas und damit wurden die nutzlosen Gasometer 1981 stillgelegt. Drei Jahre später wurden sie dann unter Protest von Umweltaktivisten gesprengt.
Frau Jacobs hatte den Protest der Langhaarigen nicht verstanden. Diese großen Dinger waren hässlich und dreckig. Sie fand es gut, dass dafür neue Wohnungen und Grünanlagen geplant wurden. Und wie schön es dann geworden ist. Als sie dann 1986 hier eine Wohnung bekamen, hat Erwin gleich eine Flasche Sekt geöffnet. Rotkäppchen, aus dem Deli-Laden. Jetzt nichts Besonderes mehr, aber damals. Das war jetzt 25 Jahre her.
Die Luft war lau und bewegte sich kaum. Ein schöner Maitag neigte sich dem Ende. Sie hörte, wie ihr Erwin in die Küche schlurfte, wahrscheinlich holte er sich ein kühles Bier aus dem Kühlschrank. Die 19.00 Uhr Nachrichtensendung im ZDF war wohl zu Ende. Wenigstens das schafft er, dachte sie.
Sie wandte ihren Blick wieder dem Park zu. Alles wirkte friedlich und still. Weiter hinten sah sie den Glatzkopf mit seiner Aktentasche nach Hause kommen. Wie immer in Schlips und Anzug. Man konnte die Uhr nach ihm stellen. Klar, es war kurz vor 19.30 Uhr. Wahrscheinlich ein Beamter. Obwohl am Samstag und um die Zeit? Sie schüttelte den Kopf. Dann überlegte sie, ob er mit der Straßenbahn oder mit der S-Bahn gekommen war. Der S-Bahnhof Greifswalder Straße war ja nicht weit weg und ein Auto besaß er nicht, das hätte sie schon mitbekommen.
Hinten am Rondell, in der Nähe der Rutsche sah sie die kleine Luise aus dem Nachbarhaus. Sie wohnte da mit ihrer Mutter im 4. Stock. Ein Mann sprach mit ihr. Sie schienen sich gut zu verstehen. Richtig erkennen konnte sie ihn nicht. Er stand mit dem Rücken zu ihr. Wahrscheinlich ihr Vater, der ab und zu zu Besuch kam, vermutete sie. Luise tat ihr leid. Sie war oft allein. Die Mutter arbeitete viel, soweit sie wusste bei Kaisers an der Kasse. Auch öfter bis spät abends. Es ist nicht einfach in der heutigen Zeit für alleinerziehende Mütter, dachte Frau Jacobs. Schon gar nicht im Handel bei Öffnungszeiten von 8.00-22.00 Uhr. Der Gedanke daran löste wieder ein Gefühl der Empörung aus, das sie immer überkam, wenn sie an die Ungerechtigkeit in der Welt dachte. Früher ging es doch auch. Da hatte der Laden nur bis 18.00 Uhr auf, bis auf den langen Donnerstag einmal im Monat, da ging es dann auch mal bis 19.00 oder 20.00 Uhr. Keiner ist deswegen verhungert. Was muss man denn um 22.00 Uhr noch kaufen? Keiner dachte an die Verkäuferinnen und ihre Familien. Sie seufzte wieder.
Kurz darauf lenkte ein Pfiff ihren Blick in eine andere Richtung. Er kam von dem riesigen Thälmannkopf, der den Hauptzugang zum Park beherrschte, doch sie konnte niemanden sehen. Als sie ihren Blick wieder Luise zuwenden wollte, war der Platz leer. Sie blickte noch mal kurz in die Runde. Nun genug für heute, dachte sie und schloss das Fenster. Es ist Zeit sich bettfertig zu machen, um noch ein bisschen in dem Schmöker zu lesen, der sie schon eine ganze Weile gefangen hielt. Den kurzen dünnen Schrei hörte sie schon nicht mehr.
Der Mann schaute nach oben und lauschte. Die Bäume knarrten leicht im Wind. Irgendwo rief ein Vogel. Sein dünnes, braunes Haar wurde vom lauen Wind leicht gezaust. In seinem hageren Gesicht zeigte sich Erleichterung. Er schniefte. Ein Lächeln umspielte seinen Mund. Niemand schien den kurzen Schrei gehört zuhaben. Die abendliche Stille hatte sich nicht aus ihrer Lethargie reißen lassen. Er fühlte sein Herz vor Erregung laut schlagen. Sie standen in dem Schutz der Bäume und seine schmale kräftige Hand hielt ihren Mund zu. Zärtlich schaute er auf sie hinunter. Sie war still und die graublauen Augen waren weit geöffnet. Er bemerkte die kleine Narbe über der Augenbraue.
»Du brauchst keine Angst haben«, flüsterte seine Stimme heiser. Seine Augen glänzten fiebrig.
»Ich will doch nur mit dir spielen! Du darfst auch bestimmen was.« Er schaute sie fragend an und hoffte auf ein zustimmendes Zeichen.
»Wenn du leise bist, nehme ich meine Hand von deinem Mund. Versprich mir nicht zu schreien, ja?«
Seine Stimme klang flehend, als er zu dem kleinen Mädchen sprach.
Er wollte nur zärtlich sein, sie streicheln. Sie war so schön, so unschuldig. Doch die Stimme erreichte sie nicht mehr. Seine rechte Hand löste sich langsam von ihrem Mund und ihr blondgelockter Kopf kippte haltlos nach vorn.
Das Begreifen dauerte nur einen kurzen Moment. Er ließ den achtjährigen toten Körper auf die Erde gleiten, fiel dann auf die Knie, und fing leise wimmernd an zu weinen.
Die Abendsonne wärmte noch trotz der späten Stunde. Von irgendwo wehte süßer Fliederduft heran, ein Versprechen auf einen kommenden schönen Frühlingstag.