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ОглавлениеKapitel Vier
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, kreischten die Möwen und das Licht hinter den Vorhängen schimmerte bernsteinfarben. Der Wecker war auf 5 Uhr 45 gestellt und wie fast immer wachte ich ein paar Minuten früher auf, denn wenn er klingelte, klang es, als versuche ein Schwein zu zirpen – alles andere als ein angenehmes Geräusch. Ich setzte Kaffee auf, stieg murrend in die Badehose und marschierte hinunter zum Wasser. Ich schwamm eine halbe Meile hinaus, drehte dann um und kämpfte mich zu den dicht beieinander stehenden Strandhäusern zurück. Mit einem Sechs-Meilen-Strandlauf versuchte ich, den Anruf meines Bruders aus dem Kopf zu kriegen – normalerweise lief ich vier. Hinterher zog ich ein Paar ausgebleichte Jeans und ein weißes Hemd an, warf, damit man das Schulterhalfter nicht sah, eine beige Secondhandjacke über und fuhr in Richtung Norden nach Mobile.
Als ich ins Präsidium kam, saß ein halbes Dutzend Bullen in ihren Büros. Die einen diskutierten Fälle, andere telefonierten. Harry war wegen eines aktuellen Falles bei einem Treffen im Büro des Staatsanwalts. Kaum hatte ich mich gesetzt, läutete mein Telefon. Anrufe für die Detectives gingen über Bertie Wagnalls Apparat.
»Rate mal, Ryder, was passiert ist«, sagte Wagnall. »Die lokalen Fernsehsender haben um zwölf Uhr etwas über die tote Hure gebracht. Diese Kröte Danbury von Channel 14 hat was davon geredet, am Tatort seien anscheinend Kerzen gefunden worden. Und sie hat zweimal versucht, dich zu erreichen. Die Dame möchte ein Statement von dir.«
»Kerzen, Bertie?« Harry und ich hatten darum gebeten, dass keine Details ausgeplaudert wurden.
Wagnall rülpste – ein feuchter Ton. »Anscheinend, hat sie gesagt. Und seither rufen dauernd Leute an und wollen dich oder Nautilus sprechen. Sie haben dein Bild in der Zeitung gesehen und möchten dich nun von ihrem Wissen profitieren lassen.«
Ich seufzte. »Die üblichen Spinner?«
Er kicherte. »Dein Zynismus überrascht mich, Ryder. Das sind aufrechte Bürger mit ernst zu nehmenden Anliegen. Wenn ich dir mal ein Beispiel geben darf ...«
»Bertie, ich habe einen Arsch voll zu tun. Notier einfach ihre Nummern und –«
Das Klicken in der Leitung signalisierte, dass jemand durchgestellt wurde. Dann war die Stimme einer älteren Frau zu hören, die gegen einen sehr lauten oder sehr nahe stehenden Fernseher anbrüllte.
»Hallo? Ist da jemand? Spreche ich mit dem Mann, der sich um die Irren kümmert? Nun, es waren keine Wahnsinnigen, die die tote Dirne umgebracht haben ... diese Verführerin wurde vom Schwert des Allmächtigen Herrn niedergemäht. Das ist passiert. Steht genau so hier in meiner Bibel, die ...«
Ich legte den Hörer weg und massierte meine Schläfen. Vergangenen Monat hatte Harry einen Anruf von einem Mann erhalten, der die Buchstaben von Fluoriertes Trinkwasser Zahlen zugeordnet hatte. In der Summe ergaben die Buchstaben 666. Der Anrufer hatte überhaupt kein Verständnis dafür, dass wir nicht sofort alle Angestellten der Wasserwerke verhafteten.
Nach einer Minute hob ich den Hörer wieder ans Ohr. Ruhe. Ich legte auf. Es läutete prompt wieder. Wagnall verfluchend hob ich ab.
»Aber hallo, wie lange lassen Sie den steuerzahlenden Bürger denn warten?«, fragte eine kräftige, ältere Männerstimme. »Erzählen Sie mir was über die Nutte im Cozy Cabins Motelzimmer. Das mit den Kerzen habe ich in den Nachrichten gehört. Aber wie steht es mit Kunst? Haben Sie was in der Art gefunden? Ich spreche nicht von überdachten Brücken an den Wänden, ich meine etwas Kleines, vielleicht eine Zeichnung oder Öl auf Leinwand.«
»Kunst?« Anscheinend kamen an diesem Morgen besonders viele Spinner aus der Deckung.
»K-U-N-S-T. Vielleicht haben Sie ja schon mal davon gehört, Junge. Bilder, Farben, Formen?«
Ich schloss die Augen. Sah ganz so aus, als würde das heute einer von den Tagen, an denen ich ein Dutzend Aspirin brauchte.
»Hallo? Ich weiß, dass Sie noch dran sind, Bursche. Ich höre Bullen im Hintergrund furzen. Die ernähren sich beschissen. Ballaststoffe könnten da Abhilfe schaffen.«
»Nein, Sir«, antwortete ich mit meiner offiziellen Stimme. »Ich habe den Raum persönlich abgesucht, eine Stunde lang. Und unsere Jungs von der Spurensicherung ebenfalls. Kunst wurde nicht gefunden. Danke für Ihr Inter-«
»Eine Stunde ist nicht sehr lang. Sind Sie sich absolut sicher?«
»Hundertprozentig, Sir.«
»So schwer war’s nun auch wieder nicht, oder?«, meinte mein Anrufer und brach die Verbindung ab.
Ich legte den Hörer auf und seufzte. Irgendwo auf der anderen Seite des Zimmers ließ einer meiner Kollegen einen fahren.
Da Harry nicht wusste, wann er zurück sein würde, machte ich mich auf den Weg zum Gerichtsmedizinischen Institut. Ausgüsse gurgelten. Drucker spuckten Papier aus. Schalttafeln blinkten. Hier roch es nach Chlor und ganz leicht nach ranzigem Fleisch. Hembree stand neben einer kleinen Zentrifuge im Hauptlabor. Er hob den Deckel und zog einen Kugelschreiber heraus. Ich fragte mich, welchen gruseligen Dienst dieser Kuli geleistet hatte.
Augenzwinkernd steckte Hembree den Kugelschreiber in seine Tasche. »Jag einen trockenen Kuli zehn Sekunden lang bei drei G durch die Zentrifuge, dann kannst du ihn noch ’ne ganze Woche benutzen.«
Ich nickte, als hätte sich mein Leben durch den Ratschlag zum Besseren gewendet. »Irgendwelche Treffer, was die Fingerabdrücke unserer Motellady anbelangt, Bree?«
»Um mal einen alten Witz zu paraphrasieren: Das war keine Lady, sondern meine Gabriele Mustermann.«
»Kein Treffer?«
»Nichts im System. Vielleicht stand sie erst am Anfang ihrer Karriere. Letzte Woche habe ich einen Bericht über Leute in den Fünfzigern und Sechzigern gesehen, die nur so zum Spaß wieder aufs College gehen ...«
»Lassen Sie das, Bree. Irgendetwas über die anderen Abdrücke?«
»Muss noch ein paar bearbeiten und eingeben. Wird aber nicht lange dauern.«
Hembree lehnte sich mit seiner knochigen Gestalt an die lange, weiße Theke und grinste verschlagen. Ich kannte dieses Grinsen, trotzdem irritierte es mich immer wieder aufs Neue.
Ich sagte: »Sie warten darauf, dass ich Ihnen eine Frage stelle, stimmt’s?«
Er wackelte mit den Augenbrauen. »Ähäm.«
»Sie haben was über die Kerzen?«
»Durchschnittsware, kann man überall kaufen. Gestern Abend haben wir getestet, wie lange sie brennen. Sieht ganz so aus, als hätten die Kerzen, die angezündet wurden, zwischen acht und zehn Stunden gebrannt.«
Das verschlagene Grinsen verschwand nicht von seinem Mondgesicht. Da war noch mehr im Busche.
»Was ist mit dem Schmuck?«, fragte ich.
Hembree stieß einen Pfiff aus. Sekunden später tauchte eine schlanke junge Frau auf. Sie war so um die zwanzig, plus oder minus ein, zwei Jahre, hatte orange-blaues Haar und mehrere Piercings. Oben an einem Ohr gab es eine Stelle, die noch nicht durchstochen war, aber vielleicht sparte sie die für etwas ganz Besonderes auf, wie zum Beispiel Christbaumschmuck.
»Das ist Melinda. Dieses Semester führt sie bei uns eine Studie durch und hilft mit. Melinda, das ist Carson Ryder. Vom Bürgermeister zum Polizisten des Jahres ernannt, und trotzdem weiß er immer noch nicht, wie man sich die Haare kämmt.«
»Mir gefällt es so«, sagte Melinda und musterte mich. »Punk ist zwar ein bisschen retro, aber mit dem richtigen Gesicht ganz cool.«
»Das ist kein bewusster Stil«, kicherte Hembree. »Das kommt raus, wenn man die Autofenster runterkurbelt und die Haare im Fahrtwind trocknet. Melinda, erzähl Detective Ryder doch mal was über den Schmuck des Opfers.«
»Billiger Schund. Ausgestanzt, nicht gegossen. Ziemlich miese Qualität.«
»Bedeuten die Symbole etwas?«, wollte ich wissen.
»Ist kunterbuntes Zeug. Manches, wie die Schwerter und die Pentragramme, ist Gothic. Anderes, die Feen und so, sind eher New Age. Zwischen den beiden Strömungen gibt es Gemeinsamkeiten, aber nicht viele.«
»Sie hat damit also kein persönliches Statement abgeben oder eine satanistische Botschaft unters Volk bringen wollen?«
»Falls doch, dann hatte sie keinen Schimmer, wie man das anstellt.«
Hembree schickte unsere Ornamentberaterin weg. Da sie sich ziemlich vorsichtig bewegte, spekulierte ich natürlich, wo sie sonst noch gepierct war.
»Eine wichtige Frage dürfen Sie noch stellen, Carson«, meinte Hembree.
»Was war die hennafarbene Substanz in ihren Hautfalten?«
»Bingo! Das war die große Frage«, sagte er. »Und, Carson, das ist nichts anderes als roter Lehm.«
»Schlicht und einfach Erde?« Ich überlegte kurz. Seine frühere Anspielung auf Zombies ergab auf einmal einen Sinn. »Wollen Sie mir damit verklickern, dass die Frau beerdigt und exhumiert wurde, bevor sie im Motel landete?«
Er grinste. »Manche Leute können sich einfach nicht entscheiden, denke ich.«
Ich kehrte zurück ins Büro und erzählte Harry die Neuigkeiten.
»Irr und wirr«, sagte er und riss an einer Krawatte, die so gelb war, dass sie eine Zitrone in den Schatten stellte. »Kerzen und Blumen, na schön, der Täter hat also den Hang, die Szene auszuschmücken. Aber diese Zurück-aus-dem-Grab-Nummer ist schon von einem ganz anderen Kaliber.«
Das Telefon läutete. Ich nahm ab. Hembree.
»Die Frau im Motel ist immer noch ein Niemand, Carson. Aber einen Fingerabdruck aus dem Zimmer konnten wir identifizieren. Wurde vor drei Jahren von einem Pass abgenommen. Der dazugehörige Name lautet Rubin Coyle. Anwalt bei Hamerle, Melbine und Raus. Blaue Augen, braune Haare. Vierundvierzig Jahre alt. Eins achtundsiebzig, wiegt hundertund –«
»Woher haben Sie die ganzen Infos?«
»Wurde als vermisst gemeldet. Bei der Polizei von Mobile. Redet ihr Jungs da drüben auch mal miteinander?«