Читать книгу Der letzte Moment - Jack Kerley - Страница 7
ОглавлениеProlog
Bezirksgericht Mobile Mobile, Alabama, 14. Mai 1972
Detective Jacob Willow wich einem Schild mit der Aufschrift STIRB, DU ELENDER MÖRDER aus und lief mit eingezogenem Kopf unter einem anderen hindurch, auf dem ZEIG REUE, SÜNDER stand. Er zwängte sich an einem Bibel wedelnden Prediger mit verkniffener Miene vorbei und quetschte sich zwischen zwei aufgebrachten dicken Frauen in verschwitzten Kleidern durch. Als Willow die Meute, die sich vor dem Gericht tummelte, endlich hinter sich gelassen hatte, nahm er zwei Stufen auf einmal, versuchte, drei zu nehmen, stolperte und nahm wieder zwei. Seine Kippe warf er in einen Aschenbecher neben dem Portal und betrat das Gericht. Da die Verhandlung in der oberen Etage stattfand, musste er eine weitere Treppe hochsprinten. Auf dem oberen Treppenabsatz wurde ihm leicht schwindelig. Er spähte um die Ecke in den Flur, der zum Gerichtssaal führte, und hoffte inständig, heute nicht der Weinenden zu begegnen.
Doch mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie Morgen für Morgen die Sonne aufging, saß sie – ganz in Schwarz gehüllt und mit undurchsichtigem Schleier – zwanzig Schritte weiter vorn auf einer zierlichen Eichenbank, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in die Hände gelegt. Als Willow merkte, wie seine Schuldgefühle wieder aufkeimten und ihm ganz flau im Magen wurde, wandte er den Blick von der Weinenden ab.
Auf dem oberen Treppenabsatz saß Lindeil Latham, der Gerichtsdiener, hinter einem Klapptisch. Bei wichtigen Prozessen kontrollierte er jeden, der den Saal betreten wollte. Latham kippelte auf den hinteren beiden Stuhlbeinen und stutzte seine Nägel mit einem Jagdmesser. Auf dem Stoff seiner Uniform, der sich über seinen Bauch spannte, lagen weiße Halbmonde.
»Wie üblich wieder zu spät, Detective Willow«, sagte Latham, ohne richtig aufzuschauen. »Jetzt aber mal flott in den Gerichtssaal, wenn Sie die Urteilsverkündung noch hören wollen.«
Willow deutete mit dem Kinn auf die Weinende. »Wohnt sie schon im Gericht oder geht sie auch mal heim?«
Der nächste Halbmond fiel hinunter. »Wird ab morgen wohl nicht mehr auftauchen, Willow. Dann gibt’s ja auch nichts mehr zu sehen.«
Auf den Zehenspitzen schlich Willow zum Gerichtssaal und hoffte, dass sie den Kopf nicht hob. Er hasste die Gefühle, die die Weinende weckte, obwohl er nicht die geringste Ahnung hatte, wer sie war. Manche behaupteten, sie sei die Mutter eines der Opfer von Marsden Hexcamp, andere hielten sie für die Schwester oder Tante. Wer Anstalten machte, ihr Fragen zu stellen oder sie zu trösten, wurde wie eine lästige Fliege mit einer Handbewegung verscheucht.
Diese eigenartige Frau mit dem dicken Schleier wurde von den Menschen im Gericht gar nicht mehr wahrgenommen, denn inzwischen war ihre Anwesenheit für alle so selbstverständlich wie die Messingspucknäpfe und die überquellenden Aschenbecher. Den Gerichtssaal hatte sie während der dreiwöchigen Verhandlung kein einziges Mal betreten. Die von Marmorsäulen gesäumten Korridore hatte sie zu ihrem Ort der Trauer umfunktioniert und in einem fort geweint, von den Eröffnungsplädoyers bis zum Schuldspruch vergangener Woche. Die Wachmänner, die Tag für Tag ihren Kummer miterlebten, nahmen Anteil und gestatteten der Weinenden, sich im Gericht frei zu bewegen und sich hin und wieder im Büro eines abwesenden Richters hinzulegen.
Willow atmete tief durch, hielt auf die Tür des Gerichtssaales zu und trat so leise auf, wie es ihm die festen Sohlen seiner Budapester erlaubten. Als er an ihr vorbeikam, hob sie den Kopf und der Schleier verrutschte. In diesem Augenblick sah Willow zum ersten Mal das Gesicht der Weinenden und die trockenen Augen und der resolute Blick überraschten ihn. Auch ihr Alter erstaunte ihn: Dem Aussehen nach war sie Anfang zwanzig. Er spürte, wie ihr Blick ihm zur Tür folgte, als wollte sie ihn und seine Schuldgefühle in den Gerichtssaal scheuchen.
Er versuchte, seinen Schuldgefühlen, die ihn vor allem vor Sonnenaufgang quälten, mit Vernunft beizukommen. Er sagte sich, dass er erst vor zwei Jahren bei der Alabama State Police als Detective angefangen hatte, dass es ihm an Erfahrung mangelte, diesen infamen, vom Intellekt entfachten Wahnsinn zu begreifen. Er erinnerte sich an die höhnischen Kommentare der altgedienten Polizisten in der Abteilung, wenn er versuchte, sie davon zu überzeugen, dass es da eine Verbindung gebe zwischen den anscheinend zufälligen Gräueltaten, die im Süden von Alabama verübt wurden, und dass eine breit angelegte Untersuchung nötig sei, bei der die Staats-, die Bundespolizei und die Polizei von Mobile zusammenarbeiteten. Doch so wie sich seine eindringlichen Bitten an seine Vorgesetzten als unfruchtbar erwiesen hatten, versagten auch seine Rationalisierungsversuche: Und solange vor Gericht tagaus, tagein sexuelle Perversionen und entsetzliche Morde geschildert wurden, litt Willow an frühmorgendlichen Schweißausbrüchen.
Willow nickte der Wache an der Tür zu, schlich sich in den vollen Saal und entschuldigte sich immer wieder, während er sich zu dem für ihn reservierten Platz auf der Galerie gleich hinter der Verteidigung vorkämpfte. Ihm blieb keine Zeit, sich zu setzen. »Erheben Sie sich«, rief der Gerichtsdiener und zweihundert Menschen im Gerichtssaal standen gleichzeitig auf.
Nur eine Person blieb sitzen, ein schmächtiger, blonder Mann am Tisch der Verteidigung. Die gestreiften Sträflingsklamotten trug er mit dem Impetus eines Mannes in einem Savile-Row-Anzug. Marsden Hexcamp hatte ein Bein über das andere geschlagen und bewegte es im Takt zu einem trägen Rhythmus, den nur er hörte. Eine Haarsträhne fiel ihm in die Stirn und lenkte die Aufmerksamkeit auf die wässrig-blauen Augen. Er drehte den Kopf in Richtung Galerie und grinste, als erzähle ihm jemand gerade einen besonders guten Witz. Der Verteidiger tippte Hexcamp auf die Schulter und bat seinen Mandanten mit einer Handbewegung, sich zu erheben, während der Richter den Saal betrat.
Blitzschnell drehte Marsden Hexcamp den Kopf und spuckte dem Rechtsanwalt in die Hand.
Willow bekam mit, wie der Anwalt angewidert erschauerte und die Hand an der Hose abwischte. Kein anderer beobachtete diesen unappetitlichen kleinen Zwischenfall, denn alle Augen waren auf Ambrose T. Penfield gerichtet, der zur Richterbank schritt. Seine schmächtige Statur kompensierte Richter Penfield mit einer Stimme wie ein gurgelnder Dorfbrunnen und wachsamen Adleraugen, die bei dem geringsten Anzeichen von schlechtem Betragen aufblitzten. Penfields zorniger Blick ruhte auf Marsden Hexcamp, der den Richter im Gegenzug mit einem Lächeln und einem lahmen Nicken bedachte. Penfield setzte seine Gleitsichtbrille auf und faltete ein Blatt Papier auseinander, auf dem das Strafmaß stand. Wie hoch dieses ausfallen würde, hatte er schon nach der ersten Verhandlungswoche entschieden.
»Wir haben uns hier und heute zur Urteilsverkündung von Marsden Hexcamp versammelt«, ließ Penfield verlauten. »Und damit gehen Wochen der Abscheu und des Grauens zu Ende, Wochen, die so entsetzlich waren, dass zwei Juroren nicht weitermachen konnten und einer einen Nervenzusammenbruch erlitt und noch immer im Krankenhaus liegt ...«
Marsden Hexcamps Anwalt erhob sich. »Euer Ehren, ich glaube nicht, dass das hierher –«
»Setzen Sie sich«, befahl Penfield. Der Anwalt leistete der richterlichen Aufforderung Folge und es hatte beinah den Anschein, als wäre er erleichtert, dass dieser Fall nun zu Ende ging.
»Diese Verhandlung ist nicht nur für die Juroren eine Qual gewesen«, fuhr Penfield in seinem gurgelnden Bass fort, »sondern auch für all jene, denen der Modergeruch in die Nase steigt, den Mr Hexcamp verbreitet ...«
Marsden Hexcamp tat so, als würde er ein Weinglas heben und mit dieser Geste einen wohlgemeinten Trinkspruch annehmen, wobei die Ketten an seinen schmalen Handgelenken wie Glocken klingelten. Penfield hielt inne und musterte den Angeklagten. »Ihre Mätzchen werden diesem Gericht nicht länger den letzten Nerv rauben, Mr Hexcamp. Kraft des Amtes, das mir von dem großartigen Staat Alabama verliehen wurde, verkünde ich folgendes Urteil: Sie werden in das Holman Prison überstellt, wo Sie – hoffentlich in Rekordzeit – auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet werden. Und möge Gott dem Scheusal, das in Ihrer Brust schlummert, Gnade erweisen.«
Als Penfields Hammer aufschlug, erhob Marsden Hexcamp sich und schüttelte die Hand seines Anwalts ab.
»Darf der Verurteilte zum Schluss nicht noch ein paar Worte sagen, Euer Ehren?«
»Setzen Sie sich, Mr Hexcamp.«
»Habe ich kein Recht, mich zu Wort zu melden? Erlaubt der unwiderruflich nahende Tod nicht ein paar abschließende Sätze?«
»Haben Sie Ihren Opfern erlaubt, ein letztes Wort zu sprechen, Mr Hexcamp?«
Marsden Hexcamp legte eine Pause ein und dachte nach. Belustigung huschte über sein Gesicht. »Manche haben Bände gesprochen, Euer Ehren.«
»Bastard!« Oben auf der Galerie erhob sich ein Mann mit groben Gesichtszügen und schwenkte die Faust. Er schien betrunken zu sein.
»Setzen Sie sich und benehmen Sie sich, sonst werden Sie des Saales verwiesen«, warnte Penfield beinahe sanftmütig. Der Mann ließ sich auf seinen Platz fallen und verbarg das Gesicht in den Händen.
Hexcamp sagte: »Nun, Euer Ehren. Darf ich das Wort ergreifen?«
Willow sah, wie Penfields Blick über die erwartungsvollen Gesichter der Anwesenden schweifte und an den Reportern hängen blieb, die ganz erpicht darauf waren, die letzten in der Öffentlichkeit gesprochenen Worte Marsden Hexcamps festzuhalten. Penfield tippte auf seine Uhr.
»Ich gewähre Ihnen dreißig Sekunden, Mr Hexcamp, und würde vorschlagen, dass Sie um Ihr Seelenheil beten.«
Hexcamps Grinsen wurde schal. Ein Funkeln blitzte in seinen Augen auf. »Seelenheil ist etwas für Narren, Richter. Brachland in einem leeren Geist. Nicht, wohin wir gehen, zählt, sondern was wir schaffen im bescheidenen irdischen Atelier ...«
»Mörder!«, rief eine Frau von der Galerie.
»Irrer!«, schrie jemand anderer.
Penfield ließ seinen Hammer fallen. »Ruhe! Zehn Sekunden, Mr Hexcamp.«
Hexcamp drehte sich zur Galerie um. Sein Blick suchte Willow, blieb dort kurz hängen und kehrte dann wieder zum Richter zurück. »Es ist die Kunst unseres Lebens, die fortdauert – Augenblicke, wie Spinnen in Bernstein festgehalten. Und wundersamerweise dennoch fähig zu kriechen. Zu beißen. Zu beeinflussen ...«
»Fünf Sekunden.« Für alle sichtbar unterdrückte Penfield ein Gähnen.
»SIE sind ein WURM«, schleuderte Hexcamp Penfield entgegen. »Eine erbärmliche, verachtenswerte Kreatur, nur ein Nichts, weniger als ein Nichts, ein wertloses Insekt, das aus Unwissenheit aufbegehrt gegen die Erhabenheit der KUNST!«
»Die Zeit ist um, Mr Hexcamp«, sagte Penfield. »Dass Ihnen mal die Worte fehlen, kann man nun wirklich nicht behaupten.«
Aus den Augenwinkeln heraus warf Marsden Hexcamp dem Richter einen Blick zu und sprang dann, gelenkig wie ein Turner, auf den Tisch der Verteidigung. »L’art du moment final«, brüllte er so laut, dass er dabei spuckte. »C’est moi! C’est moi! C’est moi!«
Die Kunst des letzten Augenblicks, dachte Willow, dessen zwei Jahre High-School-Französisch sich nun auszahlten. Das bin ich.
»Wachen, sorgen Sie dafür, dass der Mann sich setzt«, ordnete Penfield an. Wieder schlug sein Hammer laut auf die Unterlage.
Willow registrierte hinter Penfield eine Bewegung. Er beobachtete, wie sich die Tür des Richterzimmers langsam öffnete, sah den Schreibtisch, die Bücherregale, den Beistelltisch und dann – im Türrahmen – die Weinende.
Sie schritt in den Saal und blieb vor Hexcamp stehen. Alle hielten den Atem an. Sie zog eine große Pistole aus den Falten ihres Kleides, hob die Waffe und legte den Finger auf den Abzug.
Wieder weinte sie. Und sie schaute Marsden Hexcamp in die Augen.
Sagte: »Ich liebe dich.«
Willow sprang übers Geländer, streckte die Arme nach der Waffe aus. Sein Fuß verhedderte sich im Holz und er landete vor dem Tisch der Verteidigung auf dem Boden. Donner hallte durch den Saal. Auf Hexcamps Hemdbrust breitete sich ein roter Fleck von der Größe eines Zehn-Cent-Stückes aus, während der Hemdrücken explodierte. Hexcamp brach zusammen und landete auf dem Rücken neben Willow. Die Zuschauer warfen sich auf den Boden oder flohen schreiend in Richtung Ausgang.
Marsden Hexcamp hob den Kopf und stöhnte. Seine Lippen bewegten sich. Willow legte das Ohr an den Mund des Mannes und lauschte. Hexcamp schloss die Augen und ließ den Kopf fallen. »Bleiben Sie bei mir«, schrie Willow. Er packte die Hemdbrust des Mannes und schüttelte ihn, als könnte er so die Worte, die in Hexcamps Kehle festsaßen, befreien. Hexcamp schlug die Augen auf. Und wieder bewegten sich seine Lippen.
»Folgen Sie, Jacob. Sie müssen folgen ...« Eine rote Blase bildete sich auf seinen Lippen. »Sie ... müssen ... folgen ...«
»Wem?«, brüllte Willow Hexcamp, dessen Augen glasig wurden, ins Gesicht. »WEM SOLL ICH FOLGEN?«
Marsden Hexcamps Lider flatterten, ehe er sie aufschlug. »Der Kunst, Jacob«, sagte er. Schaumiges rotes Blut lief an seinem Kinn herunter. »Folgen Sie ... der erhabenen Kunst.«
Hexcamps Blick wurde wächsern, sein Mund ein regloses Rund. Wieder hörte Willow ein Dröhnen, ein lautes Donnern. Zwei Meter neben ihm sackte ein Körper zu Boden. Und aus der Weinenden wurde die Sterbende.