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ОглавлениеKapitel Acht
Als Kind legte ich mir im Kopf notgedrungen Schubladen an: Gutes kam nach vorn, Schlechtes wanderte nach hinten. Ava verstaute ich in die hinterste Ecke, setzte mein Arbeitsgesicht auf und traf Harry auf dem Präsidium. Der Reifen unseres Dienstwagens war repariert. Während Harry uns zur Werkstatt kutschierte, wo wir die Fahrzeuge wechseln wollten, schilderte ich ihm meinen Besuch bei Willow.
Er kicherte höhnisch. »Kunst, die wieder auftaucht, Menschen heimsucht und tötet? Ist ’n bisschen wacklig, Cars.«
»Liegt an der Entfernung. Hier klingt es komisch, aber wenn er es erzählt, ist es nicht uninteressant.«
Harry wich einem Postauto aus, fuhr den Bordstein hoch und knallte wieder auf die Straße. »Hat er dir gesagt, wer hinter diesem Mord steckt? Vielleicht jemand aus der Vergangenheit?«
»Nein. Die meisten sind tot, jedenfalls die Hauptakteure. Willow meinte, unser Fall könnte etwas mit den Sammlern von Serienmörder-Memorabilien zu tun haben.«
»Voll gekritzelte Seiten aus dem Knast, abgedrehte kleine Zeichnungen? Das kennen wir doch.«
»Willow redet von Leuten, die grausigeres Zeug sammeln, zum Beispiel Gegenstände, die an Tatorten gefunden wurden. Oder bizarre, aber hochkalibrige Kunst.«
»Wie dieser Hexcamp sie anscheinend gemacht hat.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Denke schon.«
»Trotzdem gibt es keine stichhaltigen Beweise, keine wie auch immer gearteten Indizien, die das belegen. Das sind nur die Theorien dieses alten Cops. Theorien, die hauptsächlich auf Gerüchten basieren. Und wo ist die Verbindung zu heute?«
»Hexcamps erstes Opfer war eine Nutte. Offenbar haben er und seine fröhliche Bande sie erdrosselt und in einem von Kerzen erleuchteten Motelzimmer zurückgelassen.«
Harry drückte aufs Gas und zog so dicht an einem Bierlaster vorbei, dass ich mir unterwegs einen Sixpack hätte schnappen können. Er sagte: »Das hat den alten Cop neugierig gemacht?«
»Vermutlich.«
»Kerzen, Carson. Kerzen sind nicht unbedingt eine Rarität, oder?«
Es kam schon mal vor, dass ein Ritualmörder der mehrdeutigen Symbolik wegen etwas für Kerzen übrig hatte. Und Prostituierte, die aufgrund ihres Lebensstils häufiger als andere Menschen Opfer von Verbrechen wurden, hatten ebenfalls ein Faible für Kerzen.
»Nein«, gab ich zu. Langsam klang Willows Geschichte auch in meinen Ohren ziemlich exzentrisch.
»Es geht um Obsession, Carson. Zumindest sagt mir das mein Gefühl. Ein Fall geht einem Mann an die Nieren, wird nicht gelöst oder, falls doch, dann nicht zu seiner Zufriedenheit. Und nach der Pensionierung wird das sein Lebensinhalt und er spielt den Film immer wieder ab.«
»Du glaubst also nicht, dass an der Geschichte etwas dran ist?«
»Ich habe Verständnis für den alten Knaben, bewundere seine Hingabe. Aber wenn du mich fragst, kann der Bursche einfach nicht loslassen.«
Wir fuhren auf den Hof und gingen in die Werkstatt, um den Wagen abzuholen. Drinnen war es auch nicht viel kühler als draußen. Mehrere Streifenwagen und unmarkierte Dienstfahrzeuge in unterschiedlichsten Reparaturstadien standen in Reih und Glied. Die Männer, die mit pneumatischem Werkzeug arbeiteten, gaben ein ohrenbetäubendes Presslufthammerkonzert. Ein Schwarzer, Anfang fünfzig und im Blaumann, kam herüber und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. Rafael war auf seine Brusttasche gestickt.
»Hallo, Harry, was brauchst du?«, fragte er.
»Der nachtblaue Maserati mit den hübschen Aufklebern in den Radkästen ist unserer. Und Sie haben für uns eine Mikrowelle eingebaut«, scherzte ich.
Harry, der neben mir stand, stieß einen Seufzer aus und warf dem Mann einen von diesen Blicken zu, der sagte Jetzt weißt du, was ich erdulden muss. »Es ist der dunkelblaue Crown Vic, der gestern reinkam, Rafe. Platter Reifen.«
Rafael deutete mit dem Kinn auf mich. »Harry, dein Partner hier. Der macht sich mit seinen Witzen eine Menge Feinde, was?«
»Keine Ahnung. Den hat doch noch nie einer was Lustiges sagen gehört. Warum?«
Rafael winkte uns mit dem Finger heran, setzte sich in Bewegung und zwängte sich zwischen zwei Streifenwagen durch, die neu lackiert werden sollten. »Kommt hier rüber. Und passt auf, dass ihr nicht einen der Maseratis berührt.«
Wir folgten ihm vorsichtig, hielten Abstand zum Lack, wichen dem pneumatischen Werkzeug und diversen Schläuchen aus und arbeiteten uns langsam zum hinteren Teil des riesigen Gebäudes vor. Ein unmontierter Reifen lehnte an einer Werkbank. Rafael verpasste ihm einen Stoß mit der flachen Hand und rollte ihn in unsere Richtung.
»Der Reifen wurde aufgeschlitzt. Seitlich. Der Schlitz ist etwa so breit wie die Klinge eines Jagdmessers.«
Ich beugte mich vor, um den Schlitz zu begutachten, und musste an Harrys Fahrstil denken. »Vielleicht sind wir gegen einen Bordstein oder so geknallt«, spekulierte ich. »Und seine scharfe Kante hat uns den Reifen aufgeschlitzt.«
Rafael wandte sich an Harry und nickte anerkennend.
»Na, wenn das nicht witzig ist«, meinte er.
Wir fuhren aufs Revier zurück und holten am Empfangspult unsere telefonischen Nachrichten ab. Die beiden von Danbury warf ich weg. Ungefähr zeitgleich mit Harry entdeckte ich einen karierten Zettel von Smithson aus dem Vermisstendezernat. Ich zog mein Handy aus der Tasche und wählte Smithsons Nummer.
»Er ist doch nur ein paar Stockwerke höher«, sagte Harry.
»Willst du ihm wieder beim Essen zusehen?«, fragte ich.
Harry schnitt eine Grimasse. Ich hörte, wie Smithson abnahm. »Ryder hier. Ich habe gehört, Sie sind auf der Suche –«
»Hören Sie, Ryder, ich habe hier ein paar Sachen überprüft, bisschen im trüben Wasser gefischt. Die Frau im Motel – die Ergebnisse der Voruntersuchung kennen Sie?«
»Das Wichtigste, Jim. Und ich bin dort gewesen.«
»Hat man besondere Merkmale gefunden? Sie wissen schon, beispielsweise ein –«
»Hinten am Hals hatte sie ein kleines, rotbraunes Muttermal, ungefähr so groß wie ein Vierteldollar.«
»Ich denke, wir haben ein Problem. Wäre besser, wenn Sie schnell mal vorbeikämen. Beten Sie, dass ich mich irre, Ryder. Und ich wähle diese Worte nicht ohne Grund.«
* * * * *
»Sie ist eine Nonne?«, sagte ich fassungslos.
Smithson strich die künstlich schwarzen Strähnen über seinen blanken Schädel. »Schwester Anne Mary. Ihr richtiger Name ist oder war Marie Gilbeaux. Oben in Chilton County gibt es einen Konvent. Ist eher so was wie ein Bauernhof. Sie stellen Ziegenkäse her, machen Pfirsichkompott und so was und verkaufen das. Offenbar sollte sie durch den Süden von Alabama und Mississippi reisen und in den Geschäften vorbeischauen, die ihre Sachen verkaufen. Falls Sie sich noch erinnern, ich habe sie erwähnt, als Sie und Nautilus hier waren? Hat uns natürlich weiter nichts gesagt. Wer rechnet schon damit, dass eine Leiche in einem schäbigen Motel eine ...«
Harry schnappte sich den Bericht, lehnte sich an die Wand und las. »Muttermal, etwa drei Zentimeter im Durchmesser, hinten links am Hals, unterhalb des Haaransatzes ...« Er sah zu mir hinüber. Ich nickte. »Ziemlich eindeutig.«
Auf einmal passte alles zusammen. Feldarbeit ist eine harte, körperlich anspruchsvolle Tätigkeit im Freien. Sie erklärte ihre rauen, schwieligen Hände und die strammen, muskulösen Beine und Arme.
»Wir müssen die Leute im Konvent darüber informieren, was passiert ist«, sagte Harry. »Wir könnten das natürlich telefonisch erledigen, aber irgendwie schreit dieser Fall doch nach einem persönlichen Besuch.«
»Wir könnten die Cops in Chilton anrufen und sie das machen lassen.«
»Könnten wir. Das wäre am einfachsten, was?«
Ich dachte an den Leichnam im Bett, an die winzigen Kerzendocht-Pupillen, die mich angestarrt hatten, an den vor Schmerz aufgerissenen Mund, der Warum ich? fragte. Sie war während unserer Schicht gestorben, daher waren wir ihr etwas schuldig.
»Ich geh den Wagen holen«, sagte ich.