Читать книгу Der letzte Moment - Jack Kerley - Страница 8
ОглавлениеKapitel Eins
Mobile, Alabama, heute
»Auszeichnungen sind albern«, sagte Harry Nautilus, als er mit dem großen, blauen Crown Victoria vom Mobiler Polizeipräsidium wegfuhr. »Bei so was kommt nie was Gutes raus.«
»Sieh es doch mal positiv, Harry«, sagte ich und rückte meine Krawatte im Rückspiegel zurecht. »Immerhin hat der Bürgermeister uns beide zu Polizisten des Jahres ernannt.«
»Und ich bin der Staatsvogel von Alabama. Zirp.«
»Es ist eine Ehre«, räsonierte ich.
»Nervig ist es. Das sind doch alles nur die leeren Worte eines Politikers.«
»Wenigstens kriegen wir umsonst Frühstück.« Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Uns blieben locker zwanzig Minuten, um zum Hotel zu kommen, wo der Bürgermeister anlässlich der Preisverleihungen zum Frühstück lud. Auf meinem provisorischen schwarzen Brett, einer grauen Trennwand, hatte ich schon Platz geschaffen. Schließlich sollte ich heute meine erste Auszeichnung erhalten.
»Meinst du, ich soll die Jungs von der Gerichtsmedizin erwähnen?«, fragte ich, breitete die Arme aus und überlegte, ob mein marineblauer Blazer geschrumpft war, seit ich ihn das letzte Mal getragen hatte, oder ob ich mit einunddreißig Jahren noch wuchs.
»Wovon redest du, Carson?«
»Von meiner Dankesrede.«
Harry knurrte, ein einzelner tiefer Ton. Da weiter vorn auf der Government Street eine Baustelle war, fuhren wir durch den südlichen Teil von Downtown, ein eher ärmliches Viertel mit kleinen Häusern und Apartments. Ich polierte gerade meine Nägel auf dem Hosenstoff, als eine Frau mit wedelnden Armen aus einer schmalen Gasse auf die Straße gestürzt kam. Wie ein aufgebauschter Reiterumhang flatterte ihr pinkfarbener Bademantel hinter ihr her. Sie warf sich vor den Wagen.
Mit der Wucht von 240 Pfund Körpergewicht trat Harry Nautilus auf die Bremse. Die Frau im Bademantel hob die Hände, als könnte sie auf diese Weise den zwei Tonnen schweren Wagen aufhalten. Reifen quietschten. Der Crown Vic kam ins Schleudern. Als wir endlich stehen blieben, passte zwischen unsere Stoßstange und die Knie der Frau gerade noch eine Hand.
»Dort in der Gasse liegt eine Tote«, keuchte die Frau und krallte die Finger in den Stoff ihres Bademantels. Sie war Mitte dreißig, klapperdürr und hatte dieses Appalachen-Näseln drauf. »Schwimmt in einer Blutlache.«
Ich benachrichtigte den Fahrdienstleiter, während Harry in die Gasse fuhr. Mit dem Gesicht nach unten und hochgestreckten Armen lag ein weiblicher Körper auf dem Asphalt. Die Frau trug eine weiße Bluse, und ich entdeckte einen hässlichen roten Fleck in der oberen Mitte des Rückens. Aus Furcht, Beweise zu vernichten, ließen wir den Wagen stehen und liefen zu Fuß zu dem reglosen Körper. Normalerweise rennen wir, beten um schnelle Hilfe und dass sich mit einem Wiederbelebungsversuch noch etwas ausrichten lässt.
Dieses Mal allerdings nicht. Als wir sahen, wie viel Blut die Frau verloren hatte, schaltete Harry einen Gang runter und ich ebenfalls. Die letzten paar Schritte legten wir ganz bedächtig zurück und mieden die rote Lache auf dem Pflaster. Da das Blut schon dick wurde, vermutete ich, dass der Mörder längst über alle Berge war. In der Ferne ertönten Sirenen. Harry kniete sich neben die Leiche, während ich den Tatort unter die Lupe nahm: Glasscherben, Abfall und anderer Unrat, der sich in innerstädtischen Straßen ansammelt. Halb verfallene Garagen säumten den Asphalt. Das Gras dazwischen war gelb, denn es hatte in letzter Zeit kaum geregnet. Ein grelles Objekt erregte meine Aufmerksamkeit. Eine zerquetschte Orange lag etwa sieben, acht Meter von der ausgestreckten Hand der Frau entfernt neben einer Garage.
Der nächste Crown Vic bog aus der entgegengesetzten Richtung in die kleine Straße. Ihm folgten ein Streifen- und ein Krankenwagen. Die beiden Detectives Roy Trent und Clay Bridges stiegen aus dem Crown Vic. Das hier, der zweite Distrikt, war ihr Revier. Neunundneunzig Prozent unserer Zeit gehörten Harry und ich zum ersten Distrikt und das verbleibende Prozent waren wir Teil einer Sondereinheit.
In drei Sätzen informierten wir Trent und Bridges über das, was wir wussten. Bridges nahm die Frau im Bademantel beiseite, damit sie sich vor der Befragung etwas beruhigte. Trent ging zu der Leiche hinüber, betrachtete sie und fuhr sich mit seinen kräftigen Händen durch das schüttere Haar.
»Verflucht«, sagte er. »Das ist die Orangenlady.«
»Orangenlady?«, fragte ich.
»Heißt Nancy irgendwie. Wohnt einen Block weiter drüben in einem Heim. Jeden Morgen geht sie in den Supermarkt und kauft eine Orange. Eine Orange. Und abends noch mal. Ich habe sie mal gefragt, wieso sie morgens nicht zwei Orangen kauft oder einen ganzen Sack. Weißt du, was sie geantwortet hat?«
»Was?«
»Die Orangen würden lieber im Laden bleiben, weil sie dort Menschen beobachten könnten. Und bei ihr daheim bekämen sie nur das Innere des Kühlschranks zu sehen.«
»Dann ist das wohl ein Heim für Menschen mit psychischen Problemen«, sagte Harry.
Trent nickte. »Harmlose Typen, die nur ein bisschen Unterstützung brauchen, um zurechtzukommen. Nancy mag vielleicht ein bisschen wirr gewesen sein, aber sie war immer gut drauf, hat mit Leuten gequatscht, französische Lieder gesungen und so.«
»Das da ist die Morgenorange«, sagte ich und zeigte darauf. Ich ging in die Hocke und ließ den Blick zwischen der Frau und der Orange hin- und herwandern, legte mich dann auf den Bauch, studierte die Topographie und bemerkte die Abflussrinne in der Straßenmitte.
»Zum Schwimmen braucht man Wasser, Cars«, merkte Trent an.
»Und Schwung, um zu rollen«, setzte ich nach, stand auf und bürstete mir den Rollsplitt von Händen und Jackett. Trent musterte den Leichnam und schüttelte den Kopf. »Wer sollte sie erschießen, während sie in der Gasse stand?«
»Durch die Gasse rannte«, schlug ich vor.
Trent hob eine Augenbraue.
»Die Orange ist ungefähr sieben Meter weit weg. Liegt etwas höher. Falls sie gestanden oder gegangen ist, wäre die Orange ein, zwei Meter gerollt. Aber in die andere Richtung, mehr in die Mitte der Gasse. Sie hat eine Vertiefung, damit das Wasser abfließt. Der Schuss hat sie selbstverständlich nach vorn gestoßen. Trotzdem, ich glaube, es ist mehr Schwung nötig, damit die Orange so weit weg rollt. Die Leute von der Spurensicherung werden die genauen Zahlen ermitteln, aber ich wette ein paar Mäuse, dass sie gerannt ist, so schnell sie konnte.«
Trent überlegte kurz. »Falls sie gerannt ist, wusste sie, dass sie in Gefahr war. Hat womöglich den Täter erkannt.« Er machte sich auf den Weg zum Streifenwagen, um den uniformierten Polizisten zu sagen, sie sollten den Tatort abriegeln, blieb dann aber stehen.
»He, ich habe gehört, der Bürgermeister ernennt euch zu Polizisten des Jahres.«
»Ist nur ein Gerücht«, sagte Harry.
Trent grinste. »Polizisten des Jahres ist doch zu billig für euch Jungs. Wie wär’s denn mit ›Die hohen Herrschaften von Piss-it‹?«
Piss-it war Abteilungsslang für PSET, Psychopathologisches und Soziopathologisches Ermittlungsteam, einer Sondereinheit, deren Name länger war als die Liste seiner Mitarbeiter, auf der nur Harry und ich standen. Das PSET war das verbleibende Prozent unseres Jobs.
Harry seufzte. »Lass das, Roy.«
Trent überlegte kurz. »Oder wie wäre es mit ›Die Hexenmeister des Wahnsinns‹?« Er kicherte und war schon dabei, sich die nächste Bezeichnung auszudenken, als er Harrys Blick auffing, sich daran erinnerte, was er von den Streifenpolizisten wollte, und einen Abgang machte.
Nun, wo unser Part in dem allzu vertrauten Drama vorüber war, stiegen Harry und ich in den Wagen. Wir gingen davon aus, dass der Orangenlady-Fall schnell aufgeklärt werden würde. Die arme Frau war jemandem auf den Keks gegangen und der- oder diejenige hatte sich gerächt. Einer fliehenden Frau bei Tag in den Rücken zu schießen war irrational, eine Tat aus dem Bauch heraus, unüberlegt. Trent und Bridges würden die Bekannten des Opfers überprüfen und herausfinden, wen sie in letzter Zeit genervt hatte. Und dann den Fall abschließen.
Bang. Irgendwas in der Art.
Das Preisverleihungsfrühstück fand in einem Hotel in Downtown statt. Als wir dort eintrafen, standen nur noch Kannen mit lauwarmem Kaffee auf den Banketttischen. Harry und ich schlichen zu unserem Tisch und baten mit einem stummen Nicken um Entschuldigung. Vorn auf dem Podium in der Mitte des großen Raums mit der niedrigen Decke drückte eine übertrieben herausgeputzte Frau vom Gesundheitsamt eine Anstecknadel an die Brust und ließ sich mit unvergesslichen Worten über Müllhalden aus.
»... möchte den Mikroorganismen danken, die so hart arbeiten und den organischen Abfall zerkleinern ...«
Bürgermeister Lyle Edmunds stand neben ihr. Auf seinem leicht geröteten Gesicht war ein Lächeln festgefroren. Die Frau vom Gesundheitsamt beendete ihren Monolog und trottete an ihren Tisch zurück. Der Bürgermeister trat ans Mikrofon, doch die Anlage gab keinen Muckser von sich. Er klopfte mit dem Finger gegen das Mikrofon, wofür er mit einer ohrenbetäubenden Rückkopplung belohnt wurde. Zweihundert Menschen zuckten zusammen und ich bildete da keine Ausnahme. Der Bürgermeister beugte sich vor und wagte einen neuen Versuch.
»... est. Test. Funktioniert das Ding wieder? Na schön. Noch einmal möchte ich Ihnen allen danken, dass Sie heute erschienen sind und mir Gelegenheit geben, Menschen zu ehren, die erheblich zur Steigerung der Lebensqualität in dieser herrlichen Hafenstadt beigetragen haben. In diesem Jahr hat auch diese Stadtverwaltung zur Verbesserung von ...«
Die meisten Leute an unserem Tisch hatten den Blick aufs Podium gerichtet und fühlten sich genötigt, so zu tun, als würde die Rede des Bürgermeisters sie interessieren. Am oberen Tischende – falls ein runder Tisch überhaupt so etwas wie ein Ende haben kann – saß Burston Plackett, der Polizeichef, eingerahmt von vier Polizisten. Am unteren Tischende saßen Lieutenant Tom Mason, Harry und ich.
Der Bürgermeister schaltete einen Gang herunter, lenkte den Blick auf den Tisch mit den Auszeichnungen und nahm ein Paar Anstecknadeln hoch.
»Zwei Nadeln. Das sind wir«, flüsterte ich Harry zu. »Was soll ich in meiner Dankesrede sagen?«
»Überlass dem Bürgermeister das Reden und Predigen, Carson. Schnapp dir das Ding und schaff deinen Hintern zum Tisch zurück.« Harry runzelte die Stirn, was im Klartext hieß: Wag dich ja nicht in die Nähe des Mikrofons.
Wieder klopfte der Bürgermeister gegen das Mikro und beugte sich vor. »Meine nächste Auszeichnung geht an den Mobiler Polizisten des Jahres. Und dieses Jahr ist es mir eine Freude, ein Team auszuzeichnen: Zwei Mitglieder von Mobiles bester Truppe, die – es liegt schon ein bisschen zurück – ganz wesentlich dazu beigetragen haben, Joel Adrian und danach den Leichenschauhausmörder zu schnappen. Die Detectives Nautilus und Ryder stellen eine Sondereinheit, die unter der Abkürzung PSET oder Psychopatho ... ologisch und Sozio ... soziolog ... ach, das ist aber auch ein Rattenschwanz. Lassen Sie mich einfach sagen, diese beiden Herren sind der beste Beweis dafür, dass Mobile unübertroffen ist, was die Qualität seiner ...« Der Bürgermeister stimmte, von den Medien angespornt, eine weitere Litanei an, in der er sich selbst über den grünen Klee lobte. Reporter, Kameramänner und ein Fotograf vom Mobile Register eilten an seine Seite. Mir fiel auf, wie die Reporterin von Channel 14 mich anstarrte. Als ich zurückstarrte, grinste sie und richtete den Blick auf den Bürgermeister. Soweit ich mich erinnerte, hieß sie DeeDee Danbury. Gut in Schuss, blond, von mittlerer Statur. Mund, Nase und vor allem die Augen waren ein bisschen zu groß geraten. Als Harry und ich kurz im Blitzlicht gestanden hatten, hatte Danbury mir etwas ins Ohr geflüstert und mir das Mikrofon direkt vor die Nase gehalten, worauf ich gut und gern hätte verzichten können.
Nach weiteren zwei Minuten hochtrabender Auslassungen sah sich der Bürgermeister im Raum nach einem schlanken Weißen um, der neben einem großen, breitschultrigen Schwarzen saß.
»Ich möchte Ihnen die Detectives Harry Nautilus und Carson Ryder vorstellen. Bitte, meine Herren, nehmen Sie Ihre Auszeichnungen in Empfang.«
Beifall ertönte. Ich folgte Harrys senfgelbem Anzug zum Podium. Sein Hemd war fliederfarben, seine Krawatte rot. Harry hatte ein Faible für grelle Farben, was allerdings nicht bedeutete, dass er auch ein Gespür dafür hatte. Wir gingen nach oben, schüttelten dem Bürgermeister die Hand und nahmen unsere Auszeichnungen entgegen. Jemand rief: »So bleiben, fürs Foto.« Ich neigte den Kopf leicht, reckte das Kinn und nahm meine beste Verbrechensbekämpferpose ein. Kameras blitzten auf. Mit meiner Medaille stieg ich vom Podium. Das Mikrofon schwankte vor meinem Gesicht herum und da konnte ich trotz Harrys Warnung nicht widerstehen. Ich beugte mich vor, um ein paar Worte zu sagen.
»Zuerst möchte ich der Akademie danken ...«
Das Mikrofon quietschte, als würde jemand einen Meißel über eine Metallplatte ziehen. Alle zuckten zusammen und manch einer zog sogar den Kopf ein. Mitten im Saal ließ ein Kellner vor Schreck ein Tablett mit Geschirr fallen. Porzellanscherben schlitterten über den Boden. Harry knurrte, bohrte seinen Daumen in meine Niere, bugsierte mich vom Podium und beendete meinen ruhmreichen Moment.