Читать книгу Der letzte Moment - Jack Kerley - Страница 14
ОглавлениеKapitel Sieben
Keine Ahnung, warum, aber Chief Plackett hat so einen schicken Globus in seinem Büro stehen – die Welt in der Größe eines Strandballs. Ich starrte auf den blauen Südpazifik und wünschte mir, dort zu sein. Plackett saß hinter seinem breiten, auf Hochglanz polierten Schreibtisch und musterte mich. Da sich der Morgennebel noch nicht ganz verzogen hatte, war die Welt vor seinem Fenster grau.
»Wie groß sind Sie, Detective Ryder?«, fragte er.
»Ähm, eins sechsundachtzig.«
»Und was wiegen Sie? 170, 180 Pfund?«
»So was um den Dreh.«
»Und Sie hatten eine heftige Auseinandersetzung mit einem Mann, der –« Chief Plackett nahm einen Brief vom Schreibtisch und überflog ihn, »eins achtundsechzig ist und 125 Pfund wiegt?«
Der Brief stammte von der Leitung des Senders und war gleich heute früh zugestellt worden. Mein Boss hatte schätzungsweise eine geschlagene Stunde mit verschiedenen Leuten beim Sender telefoniert.
»Chief«, meldete Harry sich neben mir zu Wort, »meiner Einschätzung nach wurde Detective Ryder provoziert –«
Mit erhobener Hand schnitt Plackett Harry das Wort ab. »Und Sie haben dem Mann nicht nur Schläge angedroht, Sie haben ihn auch angegriffen.«
»Ich habe ihm am Hemdkragen gepackt. Kam vielleicht ein bisschen überraschend.«
Plackett zitierte aus dem Brief: »... hat ihn hochgehoben, dass nur noch seine Zehenspitzen den Boden berührten, und ihn so lange festgehalten, bis sein Gesicht rot anlief.«
»Sein Gesicht ist von Natur aus rot«, meinte Harry.
»Jetzt nicht, Nautilus.«
»Gut, Sir.«
»Haben Sie das getan, Detective Ryder? Entsprechen diese Aussagen der Wahrheit?«
»Sir, ich denke, die Filmaufnahmen werden zeigen, dass der fragliche Mann mich verbal dazu getrieben hat –«
Der Boss warf den Brief auf den Tisch. »Ist mir doch scheißegal, was er zu Ihnen gesagt hat. Sie sind Polizist. Sie sind an Beschimpfungen von ganz anderem Kaliber gewöhnt, oder?«
Ich steckte die Hände in die Taschen und senkte den Blick. »Er hat mich auf dem falschen Fuß erwischt.«
Plackett trat ans Fenster und beobachtete den morgendlichen Verkehr. »Glücklicherweise ist der Sender bereit, die Sache zu vergessen. Ich musste mit einem Haufen Leute reden, Schulden eintreiben, Versprechungen machen. Verstehen Sie?«
»Nicht ganz, Sir.«
»Wir sind ihnen was schuldig, weil sie nicht vor Gericht gehen. Oder schlimmer noch, Material zeigen, das – wenn ich es richtig verstanden habe – vulgär und demütigend ist. Und das alles ... drei Tage, nachdem Sie zum Polizisten des Jahres ernannt wurden. Ich muss Ihnen ja wohl nicht erzählen, was passiert, wenn der Bürgermeister Wind davon kriegt.«
»Es tut mir leid, Sir.« Ich war mir nicht sicher, dass das der Wahrheit entsprach, aber das Protokoll verlangte eine Entschuldigung.
»Ich hasse es, bei den Medien in der Kreide zu stehen, Ryder. Es läuft mir kalt den Rücken runter bei dem Gedanken, was sie dafür verlangen werden.« Er runzelte die Stirn. »Kommen Sie mit dem Fall mit der Frau im Motel voran? Dem Fall, der offenbar Grund für diese Konfrontation war?«
»Ist schwierig, wie sich herausstellt, aber ich hoffe, dass wir –«
»Keine Spuren? Hinweise? Nichts? Das ist Ihr Metier, Detective. Sie sind unser Spezialist.«
Ich hielt kurz inne und hörte mich dann sagen: »Jemand hat uns angerufen und uns einen Tipp gegeben. Ist nur eine vage Spur, aber wir gehen ihr nach. Hat was mit Kunst zu tun.«
»Ist das ein ernst zu nehmender Hinweis?«
»Es ist alles, was wir im Moment haben –«
»Raus.«
* * * * *
»Kunst?«, fragte Harry, als wir uns von Placketts zugeschlagener Tür entfernten. »Meinst du damit etwa dieses Dingbums, das neulich der Anwaltsgehilfin zwischen die Finger gekommen ist?«
»Ich meinte damit den Alten, der mich angerufen und gefragt hat, ob wir im Motelzimmer Kunst gefunden haben.«
»Den Spinner?«
»Er war kein Spinner. Eher so was wie ein alter Kauz. Wäre es dir etwa lieber gewesen, ich hätte dem Chef auf die Nase gebunden, dass das, was wir haben, ungefähr so viel ist ...« Ich presste Daumen und Zeigefinger zusammen.
»Wo du Recht hast, hast du Recht, Specht. Ich werde mal sehen, was ich in den Kerzenläden in Erfahrung bringen kann. Vielleicht hat dieser Wahnsinnige ja fünfzig Kerzen auf Kreditkarte gekauft und mit derselben Karte auch beim Blumenhändler bezahlt. Hältst du das für möglich?«
Ich hetzte zum Empfangspult, wo die Anruflisten aufbewahrt wurden. Der alte Zausel wohnte am Fort Morgan Highway, auf der anderen Seite der Bucht. Der Name des Anrufers war mir nicht bekannt, was nicht verwunderte. Ich stopfte die Adresse in die Tasche und rannte zur Tür hinaus.
Eine Stunde später bog ich auf einen tief gefurchten Weg, der eine Schneise durch Gebüsch und Unterholz schlug. Gelbkiefern ragten in den Himmel. Nach siebzig Metern landete ich auf der Rückseite eines beigefarbenen Bungalows mit Blick auf die Bucht. Ich stellte den Motor ab und rollte hinter einen schwarzen Pick-up, einen Dodge Ram 2500 mit dunklen Scheiben, Dieselmotor und zwei verchromten Auspuffrohren, die aussahen wie Torpedoabschussrampen. Hinten auf der Ladefläche war ein Gestell mit langen PVC-Rohren. Angelhalterungen, dachte ich. Einer, der in der Brandung fischt.
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass im Gebüsch keine Gefahr lauerte, ging ich auf Zehenspitzen ums Haus. Auf der schmalen Veranda stand ein Gleitboot. Die Sitzbank bestand aus ein paar Latten, der Boden war noch feucht. Draußen in der Bucht hörte ich Boote. Möwen am Himmel. Das leise Summen einer Klimaanlage. Wellen schlugen gegen die Pfosten eines etwa fünfzehn Meter langen Steges, an dessen Ende ein leichtes Motorboot vertäut war.
»Halt!«, rief eine Stimme hinter meinem Rücken.
Ich blieb stehen. »Ich bin vom Mobile Police Department und auf der Suche nach –«
»Pssst, Jungchen. Hände weg vom Körper, als würdest du fliegen. Ich habe hier eine .45er. Jagt dir ein Loch in den Bauch, so groß, dass man ’ne Katze durchwerfen kann.«
Die Stimme meines Anrufers, des Kunstinteressierten. Woher war er gekommen? Aus der Luft? Ich streckte die Arme aus.
»Hören Sie –«
»Marke raus, ganz vorsichtig, mit zwei Fingern. Wenn du nach der Waffe greifst, brauchst du einen Grabstein.«
Ich zog die Marke und den Dienstausweis heraus, klappte das Mäppchen auf und hielt es hoch.
»Gut«, sagte er. »Und jetzt die Hose runter und ›Moon River‹ furzen.«
»Wie bitte?«
Als ich mich umdrehte, stand da ein Mann, Mitte bis Ende sechzig, von schmaler Statur, mit leichtem Bauchansatz. Die Augen unter der schlappen Hutkrempe hatten die Farbe von Zinn. Er trug ein kurzärmliges Karohemd und seine Arme waren noch stärker gebräunt als sein Gesicht. Am Hals hing eine Lesebrille an einer gelben Strippe. Von Farbflecken überzogene Khakis fielen auf alte Laufschuhe. Mit verschränkten Armen lehnte er an einem Baum. Eine Waffe hatte er nicht.
Vor Scham und Zorn lief ich rot an. »Sie waren im Wagen?«
»Hab Sie kommen gehört und bin da rein. Jemand Klügeres hätte dort nachgesehen.« Er schüttelte den Kopf. »Ein bisschen was müssen Sie noch lernen, Sohn.«
»Wie heißen Sie?«
»Jacob C. Willow, ehemals Mitglied der Bundespolizei von Alabama«, sagte er. »Mir nach, Ryder. Sie sehen aus, als könnten Sie einen Drink vertragen.«
Wir gingen nach drinnen. Er schlurfte in die Küche. Mich ließ er im Wohnzimmer stehen, einem ziemlich großen, hellen Raum, der von der kleinen Küche mit Essecke bis nach hinten durch reichte. Mein Blick fiel auf ein Buchregal: dicke Wälzer über Angeln und Boote, dazwischen ungefähr ein Dutzend Biographien. Sachbücher der Kategorie »Wahre Verbrechen« nahmen etwa einen Meter auf dem Regal ein, größtenteils gebundene Ausgaben. Eine dicke Aktenmappe stand neben Helter-Skelter, Vincent Bugliosis Bericht über die Morde der Manson-Familie. Die Couch und ein paar Stühle waren um ein niedriges Tischchen gruppiert. Willow kam mit zwei Gläsern Limonade zurück.
»Nehmen Sie doch Platz«, bat er und zeigte auf die Couch. »Warten Sie nicht, bis ich mich von meiner unhöflichen Seite zeige.«
Willow reichte mir ein Glas und hob eine graue Augenbraue. »Wahrscheinlich sind Sie hier, weil ein alter Sack am Telefon zwanzig Sekunden über einen Todesfall in einem Motel gequatscht hat, was? Und Sie haben sich ein paar Tage Zeit gelassen, bevor Sie den Anruf zu diesem Kerl zurückverfolgt haben. Sind die Spuren so dürftig, Detective? Ist das so ein Fall?«
»Vielleicht sollte ich hier die Fragen stellen«, sagte ich, als mir wieder einfiel, wie der alte Knacker mich draußen überlistet hatte.
Er musterte mich, nickte. »Geht in Ordnung. Aber wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ein alter Hase wie ich sich erst mal vorstellen ...«
Er ließ sich mir gegenüber auf einen der Stühle fallen. Jacob Willow war siebenundsechzig, hatte fünfundzwanzig Jahre bei der Bundespolizei Dienst geschoben, sieben in Uniform, die anderen als Detective, hauptsächlich im südlichen Drittel von Alabama. Ein Job im Innendienst war ihm nie angeboten worden, weil jeder wusste, er würde dieses Angebot ausschlagen. Die Feier anlässlich seiner Pensionierung, die er nach einer halben Stunde verlassen hatte, lag zwölf Jahre zurück. In drei Minuten hatte er mir seinen gesamten Background erzählt. Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab – für mich das Signal, dass er fertig war. Ich räusperte mich.
»Kunst, Mr Willow. Wissen Sie noch? Das ist das Wort, das mich hierher geführt hat. Und Sie haben es nicht nur ein Mal erwähnt.«
»Ich wollte meine Geschichte erzählen, meine Glaubwürdigkeit untermauern. Das ist wichtig.«
»Ihre Vergangenheit kenne ich nun. Jetzt interessieren mich Fakten, die mir in Zukunft helfen.«
»In den Nachrichten über die tote Prostituierte wurden Kerzen erwähnt. Und ich wollte wissen, ob Sie auch ein Kunstwerk, ein Bild gefunden haben.«
»Ich bin nicht verpflichtet, Ihnen Auskunft zu geben, aber ich werde Ihnen sagen, dass in dem Zimmer nichts dergleichen gefunden wurde.«
»Sind Sie sicher?«
»Der beste Mann der Spurensicherung hat sich das Zimmer vorgenommen. Nada, was Kunst anbelangt.« Das Kunstfragment, das Lydia Barstow in die Hände gefallen war, erwähnte ich nicht, denn in meinen Augen handelte es sich dabei immer noch um einen Zufall. »Wie wäre es, wenn Sie mir mal erzählen, warum Ihnen Kunst so wichtig ist?«
In aller Ruhe spazierte er zum Fenster hinüber, schaute hinaus auf die Bucht. Eine Schar Pelikane flog über seine Anlegestelle.
»Auf einen Fall wie diesen warte ich. Warte ich seit Jahren.«
»Auf eine tote Prostituierte, die mit Kunst in Verbindung gebracht werden kann?«
»Darauf, dass Marsden Hexcamp aus der Versenkung auftaucht.«
Der Name kam mir bekannt vor, allerdings nur vage – wie eine verblasste Notiz in einem alten Kalender.
»Hexcamp? Serienmörder? Ist in den Sechzigern aktiv gewesen?«
Willow trat ans Bücherregal und zog die dicke Ziehharmonikamappe heraus, aus der er eine dicke Akte nahm, die dem Aussehen nach vor Zeitungsausschnitten überquoll. »In den Nachrichten habe ich von den Kerzen im Zimmer gehört. Hexcamps erstes Opfer war eine Hure. Er hat überall im Zimmer Kerzen aufgestellt.«
»Wann war dieser Mord, Mr Willow?«
»17. Juli 1969.«
Ich hob eine Augenbraue. »Dieser Hexcamp – lebt er noch?«
»Wurde am 14. Mai 1972 erschossen.«
Ich widerstand dem Verlangen, die Augen zu verdrehen. »Das liegt mehr als ein Vierteljahrhundert zurück, Mr Willow. Vielleicht ist das nicht mehr rele –«
Er warf mir die Akte zu. »Eine Kostprobe vom Gift vergangener Tage, Detective. Zeitungsausschnitte aus den Hexcamp-Tagen.«
Aus Gründen der Höflichkeit überflog ich ein paar Artikel und die Fotos, sofern welche beilagen. Obwohl in den Überschriften Worte wie Irrer und Perverser dominierten, sah Hexcamp ungefähr so bedrohlich aus wie ein Typ, der für The Gap Werbung machte. Die letzte und größte Überschrift lautete: Geheimnisvolle Weinende tötet im Gerichtssaal Hexcamp und begeht dann Selbstmord.
»Nach dem, was ich gelesen habe«, sagte ich, »wird in den Artikeln viel spekuliert und wenig mit Fakten untermauert. Sensationsgeheische. Hexcamp und mehrere seiner Gefolgsleute waren anscheinend echt geistesgestört.«
»Die Artikel zielen nur auf den Wahnsinn ab«, sagte er. »Er hat langsam und mit Genuss getötet, behauptet, sein Tun kreise um die Erforschung des letzten Moments im Leben eines Menschen, die ultimative Schönheit. Trotzdem hat er sich ganz selbstverständlich in der Öffentlichkeit bewegt. Er verfügte über die entsprechenden Umgangsformen, war ein begnadeter Gesprächspartner, ein Künstler, der eine weltbekannte Kunstschule in Paris besucht hat, das Institut Soundso. Wie ich gehört habe, war er der einzige Amerikaner, der dort je ein Vollstipendium erhalten hat. Ein kluger Kopf, der von einem ungeheuer großen Ego gefüttert wurde. Unglücklicherweise standen sein Charisma und sein Aussehen dem in nichts nach. Wie das Licht die Motten anzieht, zog er Frauen und Männer an. Doch in seinem Herzen war er eine dunkle Kraft, eine teuflische Mutation.«
»Soziopath. Von denen gibt es viele.«
»Die Zeitungsausschnitte schildern nicht mal annähernd die Finsternis, die von seinem Gehirn Besitz ergriffen hatte, Detective. Oder seine Wirkung auf andere. Die Wirkung kann tödlich sein, auch heute noch.«
»Marsden Hexcamp ist mausetot, Mr Willow. Nicht gerade die Verfassung, um auf andere eine tödliche Wirkung auszuüben.«
Willow atmete tief durch, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Es gibt Gerüchte, dass Marsden Hexcamp seine Gedanken und Taten gesammelt und festgehalten hat. In einer Künstlermappe, könnte man sagen. Eine visuelle Destillation seiner Gedanken über ... den Tod. Den Gerüchten zufolge wird seine Arbeit sehr geschätzt und nur in einem kleinen Kreis, der seinen Botschaften huldigt, weitergereicht. Diese Gruppe einzuengen ist schwierig, zumal niemand öffentlich darüber spricht.«
»Jetzt haben Sie schon zweimal das Wort Gerücht benutzt.«
Willow seufzte und lehnte sich zurück. »Es gibt keine konkreten Beweise, dass diese Sammlung tatsächlich existiert.«
»Gewisse Kreise glauben es aber. Sie auch?«
»Ich habe gehört, wie Leute eisern behaupteten, sie besäßen Stücke aus Hexcamps Sammlung.«
»Mr Willow, es gibt immer Geschichten, die um psychotische Mörder kreisen. Denken Sie nur an Jack the Ripper. Oder Jesse James. Die Gesellschaft macht aus blutrünstigen Mördern missverstandene Opfer. Das trägt zum Zauber bei und vergrößert den Kick.«
»Das weiß ich. Aber ich weiß noch etwas über diese Leute. Auf ihre Art waren sie, sind sie ... heimgesucht, aber zur Übertreibung neigen sie nicht.«
»Von wem reden Sie?«
»Von Menschen, die Serienmörder-Memorabilien sammeln.«
Solche Typen waren mir nicht fremd. Meine eher unkoordinierte Unilaufbahn hatte mich unter anderem ins Psychologische Institut der Universität von Alabama geführt. Teil meiner Studie war es, Gefängnisse und Nervenheilanstalten im Süden zu besuchen und ein paar der schrecklichsten Psycho- und Soziopathen auf dieser Erde zu befragen. Fast jeder dieser Personen hatte einen »Fanclub«, kranke Männer und Frauen, die ganz erpicht auf Gespräche und Souvenirs von bekannten Mördern waren.
»Ein paar von der Sorte bin ich begegnet«, räumte ich ein. »Einem Kerl, der Gekritzel von eingesperrten Irren sammelte. Einer Frau, die das gleiche Hobby hatte und jedem Mörder, der ihr etwas schickte, einen Heiratsantrag machte. Lauter kleine, pathetische Wichte. Krank, aber harmlos.«
Willow nickte. »So sind die meisten. Aber es gibt noch eine andere Sorte, genauso krank, aber wesentlich reicher. Sie können es sich leisten, ausgefallenere und teurere Stücke zu sammeln.«
»Was zum Beispiel? David Berkowitzs Lehnstuhl?«
»Gegenstände vom Tatort. Oder Dinge, die beim Tötungsvorgang verwendet wurden. Einen blutigen Hammer. Eine Schnur, mit der jemand erdrosselt wurde. Kleidungsstücke sind sehr gefragt. Umso besser, wenn sie nach dem Kot aus einem Schließmuskel stinken, der sich zum Zeitpunkt des Todes öffnet.«
Ich studierte Willows Gesicht. »Sie machen Witze, oder?«
»Ich wünschte, dem wäre so.«
Ein ganz und gar typischer Tatort kam mir in den Sinn: alle wichtigen Gegenstände eingetütet, etikettiert und in der Asservatenkammer verstaut.
»Viel von dem Zeug kann nicht im Umlauf sein«, gab ich zu bedenken.
Willow grinste schief. »Was den Wert nur steigert.«
»Und woher kommen die Sachen?«
»Nach der Urteilsverkündung wandern die Beweise in die Asservatenkammer. Geld wechselt den Besitzer. Beweise verschwinden.«
Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Zwei Stunden hatte ich schon investiert; es würde eine weitere Stunde dauern, bis ich wieder in Mobile war. Ich erhob mich, bedankte mich für die Gastfreundschaft, schüttelte die steifen Beine und ging nach draußen. Er starrte durch die offene Tür, wartete, dass ich etwas sagte. Ich entschied mich für die Wahrheit.
»Ich habe keine Ahnung, wie ich dieses Gespräch beenden soll, Mr Willow. Es war interessant.«
Er runzelte die Stirn. »Interessant ist das Wort, das Menschen verwenden, wenn sie jemanden nicht als verrückt bezeichnen wollen.«
Ich schaltete den Motor ein. »Ich werde nichts von dem, was Sie erzählt haben, einfach abtun. Heute konnte ich nur zuhören. Sie waren Detective. Was würden Sie an meiner Stelle tun?«
»Offen bleiben«, sagte er und schloss die Tür.
* * * * *
Kurz vor der Straße blieb ich auf Willows Zufahrt stehen und rief auf dem Revier an. Nichts Neues über unsere Unbekannte. Harry hatte nichts über große Kerzenkäufe in Erfahrung gebracht, was seiner Meinung nach kaum überraschte, da »jeder vierte Laden auf der Welt diese verdammten Dinger verkauft«.
Ich nahm den Fort Morgan Highway in Richtung Westen, fuhr zur Fähre, hatte Glück mit dem Timing und rollte, kurz bevor die Rampe hochging, an Bord. Die Fähre verband Fort Morgan mit Dauphin Island. Auf dieser Strecke überquerte man die Stelle, wo die Schlacht von Mobile Bay stattgefunden hatte. Seit dieser gewalttätigen Auseinandersetzung lauern Schiffwracks dicht unter der Wasseroberfläche, und egal wie heiß der Tag auch sein mochte, dieses Gewässer überquerte ich nie, ohne dass mir ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief.
Während einer früheren Überfahrt hatte ich ein besonderes Ritual vollzogen. Vor drei Jahren, lange nachdem Jeremy unseren Vater erstochen hatte, habe ich die Tatwaffe, das Jagdmesser, in unserem Keller gefunden. Ich verbarg es unter meinem Hemd und nahm die Fähre. Mitten in der Bucht warf ich das Messer über Bord, in der Überzeugung, dass dieses Gewässer so viel Gewalt gesehen hatte, dass es auf ein Mordinstrument mehr nun auch nicht mehr ankam. Von jenem Moment an fühlte ich mich besser, irgendwie gereinigt.
In meinen Träumen habe ich das Messer schon hundertmal über Bord geworfen.
* * * * *
Da die Fähre knapp eine Meile von meinem Haus entfernt anlegte, aß ich dort zu Mittag, ehe ich in die Stadt fuhr und Harry die sonderbare Geschichte von Marsden Hexcamp erzählte. Als ich um die Ecke und auf meine Zufahrt bog, sah ich einen unauffälligen weißen Wagen vor meinem Haus stehen. Jemand saß am Picknicktisch unter meinem Haus und starrte auf den weiten, blauen Golf hinaus. Die Gestalt war mir vertraut.
Ava. Sie war zurückgekehrt.
Als ich über die zerbrochenen Muscheln fuhr, hörte sie das Knirschen, drehte sich um und schaute bestürzt drein. Mir rutschte das Herz in die Hose. Es war offensichtlich, dass sie mich nicht sehen wollte. Ihr halbherziges Winken untermauerte meinen Verdacht. Ich stieg aus und ging zu ihr.
»Ich dachte, du wärst in Fort Wayne«, sagte ich.
»Ich bin hier runtergeflogen, um ein paar Sachen zu erledigen, mich um ein paar juristische Dinge zu kümmern. Ich vermiete mein Haus hier, bis ich ... mich entschieden habe, was ich damit anfangen soll. Ich habe ein kleines Haus in Fort Wayne gemietet. Es würde dir gefallen, Carson. Es ist winzig, hat aber viele Fenster, überall Licht. Ist in der Nähe vom Lakeside Park ...«
Sie versuchte, sich fröhlich und gut gelaunt zu geben, doch ich starrte sie so lange an, bis ihr das Theaterspielen verging. »Du wolltest mir nicht Bescheid geben, dass du in der Stadt bist?«
Sie schloss die Augen. »Dieses Mal nicht, wo wir doch –«
»Wo wir was? Die Beziehung beenden? Uns vorübergehend trennen? Was läuft hier? Sag es mir.«
Ihre Augen wurden feucht. Eine Träne kullerte ihr die Wange hinunter. Wie gern hätte ich die Hand ausgestreckt und sie weggewischt, die Wärme ihres Gesichts gespürt, ihre Haare berührt. Gefühle dieser Art hatte ich noch keiner Frau entgegengebracht. Dies war ein fremdes Land und niemand hatte mir auch nur ein Wort seiner geheimnisvollen Sprache beigebracht. Dennoch fühlte ich mich ganz tief drinnen von Ava verraten, weil sie mich auf Distanz gehalten hatte, während sie Entscheidungen traf, die meiner Meinung nach uns beide angingen.
»Ich kapiere das alles nicht, Ava«, bekannte ich.
»Vielleicht gibt es ja gar nichts zu kapieren. Noch nicht.«
»Mir ist bewusst, dass dir grässliche Bilder durch den Kopf geistern. Sie werden verblassen, aber das dauert.«
»Nichts verblasst, Carson. Es wird schlimmer. Und das macht mir Angst.«
»Ein Wahnsinniger war auf dich fixiert. Insoweit warst du involviert. Das Schicksal hat dich auserkoren; daran kannst du nichts ändern. Egal wie schnell oder weit du ...« Ich hielt inne – leider nicht früh genug.
»Du wolltest doch davonlaufen sagen, nicht wahr? Egal wie schnell oder weit ich davonlaufe?«
»Ist unwichtig.«
»Nein, ist es nicht.«
Ich steckte die Hände in die Taschen und sah zu, wie die Wellen kamen und gingen. »Es ist nicht wichtig.«
»Behandel mich nicht so herablassend. Sag mir die Wahrheit.« Ein Anflug von Zorn schwang in ihrer Stimme mit. Wenn sie die Wahrheit hören wollte ...
»Heute hier, morgen da. Ich würde das davonlaufen nennen.«
»Das ist gefühllos, Carson.«
Ich spürte, wie sich mein Magen vor Wut zusammenzog. »Gefühllos ist, mir zu sagen, dass du gehst, nachdem du die Entscheidung schon gefällt hast. Gefühllos ist, mich außen vor zu lassen. Gefühllos ist, hier aufzutauchen, weil du angenommen hast, ich würde nicht da sein.«
Drei Tage Frustration quollen so schnell aus meinem Mund, dass ich erst hörte, was ich sagte, als es schon zu spät war. »Was ist da zwischen uns gelaufen, Ava? Eine kleine flotte Affäre? Eine Sache, die nach zehn Monaten vorbei ist? Jetzt, wo du nicht mehr an der Flasche hängst, siehst du mich da anders? He, ich bin Carson Ryder. Ich würde Ihnen gern meine Freundin, Ava Davanelle, vorstellen, aber sie ist trocken und über alle Berge.«
Ich wollte sie wütend machen, richtig wütend, einen heftigen Gefühlsausbruch auslösen, der vielleicht eine Erklärung lieferte, mich ihre Entscheidung begreifen ließ. Stattdessen richtete Ava den Blick aufs Meer. Ihre Augen waren grüner als nasse Smaragde.
»Ich werde jetzt gehen«, verkündete sie. Ihre zitternden Hände näherten sich mir, wollten mich umarmen, mich festhalten. Sehnten sich nach Verständnis oder einfach nur nach Trost.
Ich ließ meine Hände in den Taschen und drehte mich zum Wasser um, als gäbe es draußen auf den Wellen etwas, das mich mehr interessierte. Sie begann zu weinen. Ich hörte, wie sich ihre Schritte entfernten, wie die Wagentür zufiel. Bis ich mich umdrehte, war sie schon einen Block weit weg, und die Distanz zwischen uns vergrößerte sich von Sekunde zu Sekunde.
»Weshalb bist du hierher gekommen?«, brüllte ich. »Nur um auf das verfluchte Wasser zu glotzen?«
Und dann verstummte auch das Geräusch ihres Motors.