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ОглавлениеKapitel Fünf
»Verfluchtes Gemüse«, knurrte Officer Jim Smithson und starrte ein blasses Objekt an, das mitten auf seinem Schreibtisch auf einer Serviette lag. Er stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und ließ das rundliche Kinn in die Hände sacken, als Harry und ich in sein kleines Büro spazierten. Auf dem Türschild stand VERMISSTENDEZERNAT.
»Wie bitte, Jim?«, fragte ich. »Gemüse?«
Als Smithson den Kopf schüttelte, wabbelten seine Nackenwülste. »Liegt an dieser Scheißdiät. Rohes Gemüse und Obst.« Er deutete auf das Objekt. »Wie würde es euch gefallen, morgens neben so was aufzuwachen?«
»Einem Stück Pommes?«, fragte ich.
»Das ist eine Pastinakscheibe, Ryder. Ist nur ein bisschen braun. Ein alter Pastinak, wenn du mich fragst. Die Dinger haben keins von diesen Etiketten mit Verfallsdatum.«
»Wusste ich gar nicht«, sagte ich. »Pastinaken hatte ich noch nie.«
Smithson warf einen finsteren Blick auf das mickrige Stück Gemüse. »Diese Scheibe Pastinak, die hier liegt, das ist mein Mittagessen. Der Arzt sagt, ich muss dreißig Pfund abnehmen. Hab Zucker, wisst ihr?«
»Tut mir leid.« Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Keuchend schnappte Smithson sich einen Bleistift, spießte damit die Pastinakscheibe auf, hielt sie über den Papierkorb und ließ sie mit angewiderter Miene hineinfallen.
»Nichts zu essen ist nicht gut, Jim«, meldete Harry sich zu Wort.
»Mach dir meinetwegen keine Sorgen, Harry«, sagte Smithson. »Ich habe noch einen Kohlrabi im Spind.«
Schwerfällig veränderte Smithson seine Position auf dem Bürostuhl. Sein in Polyester gehülltes Hinterteil quietschte auf dem Plastikstuhl. Er war Mitte fünfzig, stand kurz vor der Pensionierung und tat seinen Dienst im Vermisstendezernat, wo ihm gelegentlich einer von den Jungspunden zur Hand ging. Smithson warf Harry einen mürrischen Blick zu. »Seid ihr Jungs aus einem bestimmten Grund hier oder wolltet ihr mir nur beim Essen zugucken?«
»Du hast für uns die Frau überprüft, die wir im Hotel gefunden haben. Und nichts herausgekriegt, richtig?«
Jim verdrehte die rheumatischen Augen. »Ja. Braun und braun. Gewicht und Größe durchschnittlich.«
»Ungefähr fünfzig. Hast du das auch eingegeben?«
»Verdammt, ja. Was, willst du etwa andeuten, ich wäre geistig schon auf Rente?«
»Hat vermutlich körperlich schwer gearbeitet. Womöglich im Freien, wie ich schon erwähnte ... Vielleicht als Erntehelferin oder auf dem Bau. Schifffahrt könnte auch in Betracht kommen. Hast du das?«
»Das hast du mir alles schon mal gesagt. Nichts dabei herausgekommen.« Smithson rülpste und hackte untröstlich auf seine Tastatur ein. »Weil ich mich gern wiederhole ... ich habe eine Nonne, die seit einiger Zeit überfällig ist, allerdings oben in Chilton County. Und ich habe eine Matrosin, die sich unerlaubt entfernt hat. Sie ist neunzehn. Außerdem ein Dutzend entlaufener Minderjähriger. Und eine Versicherungsmaklerin aus der Gegend. Bay Minette. Wiegt ungefähr 120 Kilo –«
»Da ist noch etwas«, sagte Harry. »Offenbar waren die Fingerabdrücke eines gewissen Rubin Coyle unter den Hunderten, die wir im Zimmer der toten Lady gefunden haben. Wie wir gerade erfahren haben, wird er vermisst. Wann ist er gemeldet worden?«
Smithson öffnete ein anderes Dokument und überflog es mit zusammengekniffenen Augen. »Vor fünf Tagen. Hat sich weder im Büro noch daheim blicken lassen. Gemeldet hat das eine Lydia Barstow, Anwaltsgehilfin, die Teilzeit in seiner Kanzlei arbeitet. Ist hier aufgetaucht und hat die Vermisstenanzeige aufgegeben.«
Harrys Miene verfinsterte sich. »Hab keinen Bericht über die von Coyle gesehen. Hast du vergessen, Kopien von der Anzeige rauszuschicken?«
Grunzend zog Smithson eine Vermisstenanzeige hervor und wedelte damit herum. »Ich habe sie rausgeschickt. Ist wahrscheinlich irgendwo auf deinem Schreibtisch vergraben, vielleicht unter einem Stapel mit Beschwerdebriefen.«
Ich schnappte mir die Anzeige und zwängte mich in Richtung Flur. Mit einem Seufzer griff Smithson in den Papierkorb, fischte die Pastinakscheibe heraus und pulte die Bleistiftspitzerspähne ab. Als wir zur Tür hinausgingen, hielt er das Gemüse hoch und öffnete den Mund.
* * * * *
Die Kanzlei Hamerle, Melbine und Raus befand sich in einem Bürohaus unweit der Airport Road und der Fluggesellschaft USA. Das Gebäude war eine fünfstöckige braune Schuhschachtel mit verspiegelten Fensterscheiben. Auf der Fahrt dorthin hatte es geregnet, aber da Unwetter in Mobile gerade mal so lange dauern, wie man braucht, um sein Kleingeld zu zählen, brach inzwischen schon wieder die Sonne durch die Wolken. Der Verkehr am Flughafen glich einer trägen Blechlawine. Auspuffgase und verdunstender Regen verwandelten die Luft in ein giftiges Gebräu, so dass wir schnell in die Schuhschachtel flüchteten.
Der Fahrstuhl brachte uns in den fünften Stock. Im Flur herrschte eine Ruhe wie in einem Beerdigungsinstitut um Mitternacht. Die Türschilder, an denen wir vorbeikamen, priesen Gutachter und Finanzberater an. Die letzte Tür war die der Kanzlei. Die Büroräume demonstrierten zurückhaltenden Wohlstand: Seidentapeten mit dezentem Blumenmuster, beigefarbener Teppich, graue Lampenschirme, abstrakte Bürokunst in gedeckten Pastelltönen. Selbst der Trompeter in dem ausufernden Popsong, der leise im Hintergrund trällerte, spielte gedämpft.
Wir meldeten uns bei einer ältlichen Empfangsdame an. Sekunden später betrat Lydia Barstow das Foyer durch eine Seitentür. Ende vierzig, schätzte ich. Grüne Augen, rundliches Gesicht, schmale Nase und Lippen, Haare irgendetwas zwischen blond und braun. Sie trug ein altmodisches braunes Kostüm, eine hellbraune Bluse, beige Strumpfhosen und flache, braune Schuhe. Dezent. Von Lippenstift abgesehen trug sie kein Make-up. Beim Gehen hatte sie die Arme um den Leib geschlungen, als wäre es in dem Raum eiskalt.
Wir fragten Ms Barstow, ob wir uns in Rubin Coyles Büro unterhalten könnten. Sie nickte. Trotz ihres professionellen Auftretens hatte sie den Blick eines Menschen, neben dem erst kürzlich der Blitz eingeschlagen war. Sie führte uns einen Flur hinunter, vorbei an den einzelnen Büros der Anwälte. Coyle hatte sein Büro in einem Eckzimmer mit Ausblick auf eine Mobiler Vorstadtsiedlung, die von einer Backsteinmauer umgeben war.
»Haben Sie etwas über Mr Coyle in Erfahrung gebracht?« Nun war ihr Blick hoffnungsvoll.
»Nein, so leid es uns tut. Detective Smithson hat Ihnen wahrscheinlich erzählt –«
»Dass Sie ohne einen Beweis, dass ... ein Verbrechen vorliegt, nicht viel unternehmen können. Ich verstehe. Ich hatte nur gehofft, dass vielleicht ...« Sie sprach nicht weiter.
Harry entschuldigte sich dafür, dass er sie noch mal mit den Fragen behelligte, die Smithson ihr schon gestellt hatte, und begann dann mit Coyles Verschwinden. Er war seit fünf Tagen weg. Keine Anrufe. Keine E-Mails. Überhaupt keine Nachrichten.
»Er hat keine Frau, oder?«, fragte ich.
»Seit Jahren geschieden. Der Kontakt ist abgebrochen.«
»Freundin?«
Sie antwortete nicht gleich. Ihre Hände begannen zu zittern, bis sie sie im Schoß faltete. »Ich, das heißt ...«
Aus ihrer Besorgnis und der Tatsache, dass sie die Vermisstenanzeige aufgegeben hatte, schloss ich, dass sie Coyle näher stand als eine gewöhnliche Anwaltsgehilfin.
»Sind Sie seine Freundin, Ms Barstow?«, fragte ich schnell.
Sie versuchte sich an einem Lächeln. Vergeblich. »So könnte man wohl sagen, ja.«
»Sie sind sich nicht ganz sicher?«
»Sein Beruf nimmt ihn sehr in Anspruch. Wir hatten nicht viel Gelegenheit, uns zu verabreden, zusammen zu sein. Kein Kino, keine Restaurantbesuche, keine Abende, wo man ausgeht und einen draufmacht. Meistens sind wir einfach, ähm ...«
Plötzlich wirkte sie verzweifelt, als wäre sie vor lauter Reden vom rechten Weg abgekommen. Harry sagte: »Es ist nicht unsere Absicht, Sie auszuhorchen, Ms Barstow, aber je mehr wir wissen, desto mehr können wir tun.«
Lydia Barstow schien kurz vor einem Tränenausbruch zu stehen. »Meistens sind wir daheim geblieben. Rubin wollte es so.« Sie wandte den Blick ab und biss sich auf die Unterlippe. Ihre Worte interpretierte ich so, dass Rubin Coyle mehr an Gesellschaft lag als an Filmen und Restaurantbesuchen.
»Hat Mr Coyle jemals das Cozy Cabins Motel erwähnt oder ist er mit Ihnen mal dort gewesen?«
Totale Verwirrung vorzutäuschen ist extrem schwierig und führt gern zu Übertreibungen – der Betreffende macht dann große Augen oder lässt die Kinnlade fallen. Lydias Unverständnis wirkte echt.
»Warum?«
»Anscheinend ist er kürzlich dort gewesen.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass er es je erwähnt hat.«
»Hat sich die Art Ihrer Beziehung während der letzten Wochen verändert?«
Sie holte tief Luft. »Freitag vor zwei Wochen ... haben wir uns das letzte Mal getroffen. Er kam mir ganz normal vor.« Sie schaute sich im Büro um und schloss die Augen. »Können wir uns woanders unterhalten, Detective Ryder? Ich fühle mich hier unwohl.«
»Selbstverständlich.«
Sie ging zur Tür und ließ das Licht brennen. Eine Kerze im Fenster für den verirrten Matrosen. Wir gingen nach nebenan in ihr ordentliches kleines Büro. In den Ein- und Ausgangskörben stapelten sich Akten und Unterlagen.
»Arbeiten Sie ausschließlich für Mr Coyle?«, wollte ich wissen.
»Ich arbeite für verschiedene Anwälte. Um ehrlich zu sein, es gab nicht viel zu tun für Ru ... für Mr Coyle. Hauptsächlich Schreibarbeiten.«
Ich sagte: »Wir müssen das fragen – kennen Sie jemanden, der Grund hätte, Mr Coyle zu entführen oder ihm Schaden zuzufügen?«
Mit ihrem Kopfschütteln vertrieb sie meine Worte. »Rubin – Mr Coyle ist sehr ... sehr ... nett.«
»Keine aufgebrachten Mandanten, verlorene Fälle? Oder hat er mal Klage eingereicht und es vermasselt?«
»Er geht nie vor Gericht. Vergleiche sind seine Spezialität. Und Mediation. Er sagt immer: ›Lydia, wenn ich ein Gericht betreten muss, dann nur, weil ich versagt habe.‹ Er ist davon überzeugt, dass es seine Berufung ist, Vergleiche zu erwirken. Am Ende sind alle zufrieden oder doch so zufrieden, wie es eben geht.«
Harry und ich konnten nichts in Erfahrung bringen, was Rubin Coyle getan haben könnte, um jemanden gegen sich aufzubringen. Im Gegenteil, er schien eher so etwas wie ein Antianwalt zu sein, der alles daransetzte, Beziehungen zu kitten, rechtswirksame Vergleiche zu erzielen, bei jeder Gelegenheit Einigkeit herzustellen. Und am siebten Tag ruhte er, gelegentlich auch mit Ms Barstow.
»Wie steht es mit den Eigentümern, Partnern? Ich könnte mir denken, sie haben Sie angerufen. Wissen die etwas?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mr Hamerle ist der Seniorpartner und die einzige Person, der Rubin Bericht erstattete. Mr Hamerle ist heute ins Büro gekommen und hat versucht zu arbeiten, doch dann ist es mit seiner Angina Pectoris wieder schlimmer geworden. Er ist zur Beobachtung ins Krankenhaus gefahren. Der arme Mann ist siebzig.«
»Was hält Mr Hamerle von all dem?«
»Er sagt immer wieder, dass Rubin nur ein paar Tage freimacht, Stress abbaut und bald wieder auftaucht.«
»Noch eine Frage zum Schluss, Ms Barstow. In der Woche, bevor Mr Coyle verschwunden ist. Ist da irgendwas passiert, was seltsam war? Es muss nichts Großes gewesen sein. Vielleicht nur eine Kleinigkeit. War irgendwas anders als sonst? Gut, schlecht, indifferent?«
Ihre Augen leuchteten kurz auf. Ihr war etwas eingefallen.
»Ein paar Tage, bevor er ... nicht mehr ins Büro gekommen ist, hat Rubin sich mit einem Mandanten getroffen. Und ein Päckchen mit dem Aufdruck Persönlich und vertraulich erhalten, ohne Absender. In dem Päckchen war ein dicker, wattierter Umschlag. Den hab ich geöffnet. Und darin war wieder ein Umschlag, etwas kleiner. Es war wie ein Puzzle. Als Nächstes kam Luftpolsterfolie. Und darin eingewickelt waren Kartonstücke, die zusammengeklebt waren, wie ein Sandwich.«
»Und was war in dem Sandwich?«
Mit Daumen und Zeigefinger deutete sie eine Länge von fünf Zentimetern an. »Hmm, wie soll ich sagen ... ein winziges Bild.«
Ich spürte, wie mir ein leiser Schauer über den Rücken lief. »Entschuldigung, Ms Barstow«, unterbrach ich sie. »Eine Art Kunstwerk?«
Sie nickte. »Auf einer Leinwand. Die Ränder waren ausgefranst, als hätte jemand dieses Stück aus einer größeren Arbeit gerupft.«
Im Kopf hörte ich die Stimme meines morgendlichen Anrufers: Aber wie steht es mit Kunst? Haben Sie was in der Art gefunden?
Doch der Anrufer hatte Kunst am Tatort gemeint, oder? Ganz eindeutig. Ich sagte: »War es eine Zeichnung oder ein Ölbild, Ms Barstow?«
»Kein richtiges Bild. Eher Kreise und abstrakte Formen. Die Farben waren atemberaubend.«
»Keine Notiz oder sonstige Erklärung?«
»Ich fand es eigenartig, dass keine Nachricht dabei war. Das Päckchen habe ich in sein Fach gelegt.«
»Haben Sie es seit dem Tag noch mal gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Anscheinend hat er es mitgenommen.«
»Ist Mr Coyle Kunstsammler oder so was in der Art?«, fragte ich.
Ein trauriges Lächeln. »Ich habe Rubin mal überredet, mit mir ins Kunstmuseum zu gehen, in eine Ausstellung zeitgenössischer Künstler. Er sagte dauernd: ›Aber was soll das, Lydia? Das ist mir wirklich schleierhaft.‹ Zwanzig Minuten später sind wir dann gegangen.«
»Erzählen Sie mir noch mehr über das Kunstwerk in dem Päckchen.«
»Ich werde nie vergessen, wie umwerfend es war, diese unglaublichen Farben, die Art und Weise, wie die einzelnen abstrakten Formen zusammenpassten. Und trotzdem ...«
Ihr verzagter Ton ließ mich von meinem Notizblock aufschauen. »Was, Ms Barstow?«
»Irgendetwas war da seltsam. Es war so, als könnte ich etwas fühlen, aber nicht sehen.«
»Was denn, Ma’am?«, fragte Harry.
Sie sah uns verwirrt an. »Als würde ich schlechte Träume kriegen, wenn ich es zu lange ansehe. Ergibt das irgendeinen Sinn?«