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KAPITEL 3

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Mit zwei klirrenden Flaschen in der Hand begann Harry seinen Vortrag schon auf dem Rückweg von der Theke. »Jahrelang war Squill ein sesselfurzender Lieutenant der Abteilung Eigentumsdelikte, ein Bürohengst mit einem Talent: Öffentlichkeitsarbeit. Er hielt Vorträge bei Nachbarschaftstreffen, Eröffnungen von Einkaufszentren oder Kirchenfeiern ...«Harry stellte die Bierflaschen auf den Tisch und setzte sich. »Er verfeinerte seinen Stil, bis er als Pressesprecher der Polizei von Mobile in die Bresche sprang. Für die meisten Leute ist das eine Sackgasse.«

Ich nickte. »Man setzt die Vorgesetzten ins rechte Licht, wodurch sie sich gerne angepisst fühlen.« An der Universität hatte ich einige Assistentenkarrieren erlebt, die durch akademische Eifersucht abgeschossen worden waren.

»Nicht so bei Squill. Das Arschloch wusste genau, wann er sich bei den Oberen einschleimen musste. Wenn eine Ermittlung schief gelaufen war und die hohen Tiere sich verstecken wollten, begab sich Squill ins Zentrum der Aufmerksamkeit und zog das Feuer auf sich.«

»Squill?«, sagte ich. »Der ist in die Schusslinie gesprungen?«

»Die Medien haben ihn geliebt, er hat ihnen immer was geboten: Reuig, angepisst, bewegt – was eben gerade nötig war. ›Captain sagt, die ungerechtfertigte Verhaftung macht die Mobiler Polizei sehr betroffen, Abendnachrichten‹ ... ›Hochrangiger Polizist beschimpft die Kritiker von der Amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ACLU als törichte Heulsusen, Artikel auf Seite vier‹, und so weiter und so fort.«

Harry nahm ein Streichholzheftchen aus dem Aschenbecher und spielte damit herum. »Dann begann Joel Adrian seine Mordserie. Tessa Ramirez. Jimmy Narley. Nach dem Tod der Porters bauschte sich der Fall auf. Aber die Ermittlung verlief ergebnislos. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schlimm es war ...«

»Wer hat denn Tessa entdeckt, Harry? Wer stand in dem von Ratten wimmelnden Abwasserkanal und hat auf ihre Leiche geschaut?«

Harry schüttelte den Kopf. »So meine ich das nicht, Bruder. Ich rede hier über Politik. Die Rücktrittsforderungen. Der Polizeichef mit Schimpf und Schande aus einem Winn-Dixie-Supermarkt vertrieben. Die Medien haben uns durch den Fleischwolf gedreht. Jeder hat die Schuld einem anderen zugeschoben und plötzlich taucht dieser verrückte Streifenpolizist auf – Kid Carson.«

»Ich hatte ein paar Ideen. Du hast dich eingeschaltet.«

»Sie haben uns dafür mit Füßen getreten«, sagte Harry. »Bis es keine andere Möglichkeit mehr gab.«

Die Schluckspechte am Pooltisch begannen in ihrem Suff einen Streit über die Frage, wo die weiße Kugel liegen sollte. Für ein paar Augenblicke beobachteten wir die beiden.

»Ich hatte Glück, Harry. Mehr nicht.«

Er kniff ein Auge zusammen. »Glück kann auch bedeuten, dass man weiß, wo man suchen muss, stimmt’s?«

Das traf mich unvorbereitet. »Was meinst du?«

»So als wenn man nicht nur einfach eine Karte zieht, sondern auch weiß, wer gegeben hat.«

»Nein. Es war wahrscheinlich nur Intuition, ich weiß nicht ...«

Harry starrte mich einen Moment neugierig an, dann ging er nicht weiter auf meine Ausflucht ein. »Nachdem du mit deiner unorthodoxen Theorie ankamst und den Fall geknackt hast, ging das Hauen und Stechen los. Jeder versuchte Streifenpolizist Ryders Lone-Ranger-Heldentat als persönlichen Gewinn zu verbuchen. Und wer konnte das am besten?«

»Squill?«

Harry riss ein Streichholz aus dem Heftehen und betrachtete es. »Während der ganzen Tortur hat er dafür gesorgt, dass die Pipeline der Medien nicht austrocknet, und danach hat er begonnen, reinstes Öl in seine eigenen Tanks zu schöpfen. Ist dir schon mal aufgefallen, wie schnell dein Heldenruhm verblasst ist?«

Ich rief mir die Ereignisse ins Gedächtnis. Zwei Tage lang war ich der Mann, der den verrückten Adrian gestoppt hatte. Am dritten Tag war es der Triumph der Polizeiführung und ich ein Faktotum. Am fünften Tag war ich ein falsch geschriebener Name am Ende eines kurzen Artikels. Harry sagte: »Squills Gesetz: Nach oben buckeln, nach unten treten. Er hat dich vom Pferd geschubst, damit die hohen Tiere es reiten konnten, unter anderem er selbst. Er ritt den Gaul bis auf den Chefsessel der Kriminalabteilung.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Dann wurde ich eben ein bisschen verarscht. Aber als sich der Rauch gelegt hatte, war ich Detective. Ich kann mich nicht beschweren.«

Der Streit am Pooltisch wurde hitziger. Einer der Männer legte die Kugel zurecht und der andere schlug sie weg. Harry verdrehte die Augen angesichts des Pennerduos und entzündete das Streichholz, nur um es brennen zu sehen. Die Flamme gab seinem Gesicht eine goldene Farbe.

»Du bist mit der Beförderung zum Detective belohnt worden. Aber Squill hat bekommen, worauf er seit Jahren aus war: einen Platz am großen Tisch. Und du hast ihn dahin gebracht, Cars.«

Ich runzelte die Stirn. »I ch verstehe das Problem nicht.«

»Du verstehst nicht, worum es geht. Squill möchte sich gerne als Mann sehen, der sich aus eigenen Kräften hochgearbeitet hat. Aber wenn er dich sieht ...« Harry riss zischend das Streichholz nach unten. »... dann bricht sein Kartenhaus zusammen.«

»Er kann mich einfach ignorieren.«

»Das tut er auch. Ein Jahr lang warst du nichts als ein Name auf dem Dienstplan. Und PSET bestand nur auf dem Papier. Aber wenn PSET eingeschaltet wird ...«

Ich führte seinen Gedankengang fort: Indem PSET eingeschaltet worden war, standen Harry und ich im Rampenlicht. Wir würden das Vorgehen koordinieren, die Berichte unterschreiben und uns mit den hohen Tieren treffen.

»Okay, ich bin wieder an der Front, vor seinen Augen.«

Harry schnippte das ausgehende Streichholz in den Aschenbecher. »Genau. Nur betrachte es mal von seinem Standpunkt aus.«

Der Streit am Pooltisch wurde unschön. Einer der Männer unterstrich sein Argument, indem er sein Queue an das Ohr des anderen schnellen ließ. Der Getroffene fiel hin, presste die Hand auf sein Ohr und stöhnte. Der Barkeeper betrachtete das Paar und schaute dann Harry an. »Sie sind doch Polizist. Wollen Sie nichts dagegen unternehmen?«

Harry legte seine große Faust an die Stirn und öffnete und schloss sie ein paarmal.

»Was soll das denn?«, fragte der Barkeeper.

»Mein Außer-Dienst-Licht.«

Wir standen auf und gingen draußen in der schwülen Nacht zu unseren Wagen.

»Danke für die Geschichtsstunde, Professor Nautilus«, sagte ich.

»Schreib’s dir hinter die Ohren, Angeber«, entgegnete Harry.

Ich fuhr langsam mit heruntergekurbelten Fenstern nach Dauphin Island und ließ die nächtlichen Gerüche des Sumpfes und des Salzwassers meine Gedanken durchspülen wie eine reinigende Flut, doch der kopflose Mann tauchte immer wieder an die Oberfläche. Zu Hause angekommen zündete ich ein paar Kerzen an, setzte mich im Schneidersitz auf mein Sofa und machte die Atemübungen, die mir Akini Tabreese, ein guter Freund, der die Kunst fernöstlicher Kampftechniken beherrschte, empfohlen hatte. Akini machte eine Menge Atemübungen, bevor er heuballengroße Eisblöcke mit seiner Stirn zertrümmerte. Ich würde ein bisschen Luft holen und den Vorschlaghammer nehmen.

Nähere dich dem Tatort ... instruierte ich meine mit Sauerstoff erfüllten Gedanken. Betrachte den Park.

Beim Ein- und Ausatmen verflog meine Wut über Squill und Burlew und ich stellte mir vor, was der Mörder sah, als er dem Opfer begegnete, vielleicht auf dem gewundenen Weg. Da die Straßenlaterne so nah ist, verschwinden sie in den Büschen. Hier schien Squill Recht zu haben, Sex war der Köder, wenn nicht das Motiv. Das Opfer stirbt, vielleicht durch einen Schuss oder einen harten Schlag. Wenn es dem Mörder allein um den Kopf gegangen wäre, dann hätte er ihn verborgen im Dunkeln entfernen können, die Klinge hätte schnell ihre Aufgabe erledigt. Aber unerklärlicherweise zieht der Mörder die Leiche in den Schein der Straßenlaterne und verstreut dadurch die Blütenblätter. Er kniet nieder, führt seine groteske Operation durch und verschwindet.

Im Geiste spielte ich die Szene wiederholt durch, bis um 2:45 Uhr das Telefon klingelte. Ich dachte, es wäre Harry. Auch er würde sich Gedanken über die Tat machen, in einem erleuchteten Zimmer, »Jazz zum Nachdenken« auf dem Plattenteller, vielleicht Thelonius Monk, die Soloaufnahmen, bei denen er durch die Lautsprecher zu brechen schien und allein dem spröden Strom der Musik folgte.

Anstatt Harry hörte ich die bebende Stimme einer alten Frau. »Hallo? Hallo? Wer ist da? Ist da jemand?« Dann plötzlich, als wären Jahre von der Stimme abgefallen, hörte ich die Stimme einer Frau Mitte dreißig, die Stimme meiner Mutter.

»Carson? Ich bin’s, Mommy. Bist du hungrig? Soll ich etwas zu essen machen? Ein leckeres Velveeta Sandwich? Ein paar Kekse? Oder wie wäre es mit EINER GROSSEN SCHÜSSEL VERFICKTER SPUCKE?«

Nein, dachte ich, das kann doch nicht sein. Das ist ein Albtraum, wach auf.

»CARSON!« Die Stimme kreischte und war nicht mehr weiblich. »Sprich mit mir, Bruder. Ich muss ein bisschen von der GUTEN ALTEN FAMILIENWÄRME spüren!«

Ich schloss meine Augen und sank gegen die Wand. Wie konnte er nach draußen telefonieren? Das war nicht erlaubt.

Der Anrufer schlug den Hörer gegen etwas Hartes und schrie. »Kommt es dir UNGELEGEN, Bruder? Ist eine FRAU bei dir? Ist sie GEIL? Ich höre es, wenn sie geil werden, sie fangen an zu TROPFEN. Hey, Kumpels, ich möchte euch meine Eroberung vorstellen, die Johnstown-Flut. ZIEHT STIEFEL AN, WENN IHR SIE FICKT!«

»Jeremy«, flüsterte ich, mehr zu mir selbst als zu dem Anrufer.

»Es gab da mal ein Mädchen aus NANTUCKET, du musstest jedes Mal Stiefel tragen, wenn du sie GEFICKT HAST ...«

»Jeremy, verdammt noch mal ...«

»Aber die Männer in der Stadt sind einer nach dem anderen ertrunken in dem Gift, das wie aus KÜBELN aus ihr heraustropfte!« Er wechselte wieder in den besorgten Tonfall meiner Mutter. »Alles in Ordnung, Carson, Mommy ist hier. Du hast deine Spucke noch nicht aufgegessen. Ist sie zu kalt? Soll ich sie dir aufwärmen?« Er machte ein schnarrendes Geräusch.

»Jeremy, würdest du bitte aufhören ...«

Im Hintergrund hörte ich eine Tür aufgehen, gefolgt von einem Gerangel und dem Fluchen eines Mannes. Mein Anrufer schrie. »NEIN! GEH WEG. Das ist ein PRIVATER ANRUF! Ich spreche gerade mit MEINER VERGANGENHEIT!«

Auf ein lautes Krachen folgte ein Scharren, als wenn das Telefon fallen gelassen und dann über den Boden getreten wurde. Brummend und fluchend gesellten sich weitere Stimmen hinzu, Kampfgeräusche. Während ich in meinem kühlen Zimmer stand und atemlos zuhörte, lief Schweiß von meinen Achseln hinab.

Seine Worte kamen jetzt aus der Ferne, und ich stellte mir Männer in Weiß vor, die ihn über den Boden schleiften. »DER MORD, CARSON! Erzähl mir davon. Es muss mehr dahinter stecken als ein FEHLENDER KOPF, es steckt immer mehr dahinter. Hat er auch die SCHWÄNZE abgeschnitten? Hat er WÜRSTE IN IHREN ARSCH GERAMMT BIS SIE AUS DEM HALS HERVORSCHOSSEN? Ruf mich an! Du BRAUUUCHST MICH WIEDER ...«

Erneut Geräusche eines Gerangels. Dann nichts mehr.

Das Studio von Channel 14 in Montgomery musste die Geschichte von der Enthauptung im Park in den Spätnachrichten gebracht haben. Fernsehen war ein rarer Luxus, der Jeremy erlaubt war, und er wird den Beitrag mit gelehrter Aufmerksamkeit verfolgt haben. Ich blies die Kerzen aus, legte mich auf das Sofa und verbarg mein Gesicht in einem Kissen. Der Schlaf, als er endlich kam, war federleicht und durchzogen von Ratten und dem Geruch verbrannter Seide.

Gleich nach Tagesanbruch klingelte mein Wecker. Benommen stolperte ich in den Golf und schwamm geradewegs eine halbe Meile in die Wellen hinaus, drehte dann um und quälte mich zurück. Anschließend lief ich vier Meilen am Strand entlang, wonach ich schweißgebadet und von Wadenkrämpfen geplagt war. Nach verbissenem, beinahe wütendem Training mit den Hanteln begann ich die Ereignisse klarer zu sehen und schrieb Jeremys Anruf als Verwirrung ab; beängstigend einfallsreich hatte er sich irgendwie Zugang zu einem Telefon verschafft.

Aber hatte ich nicht gehört, wie es ihm weggenommen worden war? Es würde nicht noch einmal passieren, die Sache war vorbei.

Ich duschte und frühstückte Andouille mit geraspeltem Käse. Meine Laune besserte sich und ich fuhr zur Arbeit. Harry warf eine Münze, die Rückseite brachte mir den Autopsiedienst ein. Da ich vor der Sezierung noch etwas Zeit hatte, ging ich in die Büros der Spurensicherung, eine Mischung aus Computerladen und Labor. Zwei Techniker in weißen Kitteln untersuchten den Schwimmer einer Toilettenspülung, als wäre es der heilige Gral. Ein anderer klopfte mit einem Bleistift gegen ein Glas voller krabbelnder Käfer. Hembree saß Kaffee schlürfend neben einem Mikroskop.

»Wir haben einen Treffer bei den Fingerabdrücken des Geköpften«, sagte er und nahm ein Blatt Papier.

Ich machte einen Trommelwirbel mit meiner Zunge. »Und der Gewinner ist?«

Hembree imitierte einen Tusch. »Ein Jerrold Eltern Nelson, auch bekannt als L’il Jerry, auch bekannt als Jerry Elton, auch bekannt als Nelson Gerald oder Elton Jelson.«

»Eine lange Liste von Decknamen.«

»Und eine peinliche Liste an Vorstrafen«, sagte er und las von dem Blatt ab. »Fünfundzwanzig Jahre alt. Augen und Haare sind blau beziehungsweise braun, wo immer sie jetzt auch sein mögen. Verurteilungen in Stadt und County wegen solcher Bagatellen wie Ladendiebstahl, Prostitution, Besitz von Diebesgut sowie Besitz von ein paar Joints. Im März hat ihn eine Frau angezeigt, weil sie ihm elf Riesen geliehen und er sie nicht zurückgezahlt hat, die Anzeige wurde später zurückgezogen.«

»Stricher und gleichzeitig betrügerischer Gigolo? Scheint nach beiden Seiten offen zu sein«, erwiderte ich und wandte mich ab. Obwohl die Autopsie erst in einer Stunde war, wollte ich sofort in die Gerichtsmedizin fahren.

»Ach, was ich fast vergessen hätte«, sagte Hembree, als ich schon halb aus der Tür war. »Das Ding gestern Nacht mit den Blüten und der Straßenlaterne war genial, Carson, das hat Sherlock alle Ehre gemacht. Squill ist so hochnäsig, dass er nur noch den Himmel sieht und dabei gegen jede Wand rennt. Hat mir gefallen, wie du ihm das klar gemacht hast.«

Der Empfangstisch des Gerichtsmedizinischen Instituts war nicht besetzt und meine Schritte auf dem Flur veranlassten Will Lindy, an die Tür seines Büros zu kommen. Das neue Institut war offiziell erst seit ein paar Tagen geöffnet, aber Lindy hatte sich schon eingerichtet; auf seinem Schreibtisch stapelten sich Formulare, in den Regalen standen Handbücher in alphabetischer Reihenfolge, an den Wänden hingen Kalender und Dienstpläne.

»Morgen, Detective Ryder.«

»Wie geht’s, Will? Ich bin hier wegen der Obduktion von Nelson. Ist Clair da?«

Ich war vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der Dr. Peltier bei ihrem Vornamen nannte; ich hielt das so, seit wir einander vorgestellt worden waren, und bisher hatte sie mich noch nicht massakriert. Sie konterte, indem sie nur meinen Nachnamen benutzte, während sie jeden anderen mit Vornamen oder Titel ansprach. Lindy schaute auf seine Uhr. »Sie müsste um neun kommen, das heißt ...«

Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. 8:58 Uhr. »Sie wird in einer Minute hier sein.«

Aus dem Flur hörten wir männliches Gelächter und sahen dann zwei Mitarbeiter des Friedhofs, die eine Leiche zur Beerdigung abholten. Sie schoben die zugedeckte Leiche zu der hinteren Rampe und lenkten die klappernde Bahre im Zickzack durch den Gang, wie Kinder, die mit einem Einkaufswagen im Supermarkt spielen. Lindy war im Nu auf dem Flur.

»Hey, Kumpels«, sagte er. »Was ihr zu Hause macht, ist eure Sache. Aber hier zeigen wir Respekt.«

Die Typen vom Friedhof erstarrten und liefen rot an. Sie murmelten Entschuldigungen und setzten ihren Weg langsam und ruhig fort.

»Gut gemacht, Will«, lobte ich ihn, als er zurückkam.

Lindy schenkte mir ein halbes Lächeln; komisch, wie ein Lächeln auch Traurigkeit ausdrücken kann. »D er arme Kerl tritt seine letzte Reise an, Detective Ryder. Es gibt keinen Grund, daraus ein Spiel zu machen.«

Ich bewunderte Will Lindy für seinen Standpunkt; zu viele Polizisten der Mordkommission und Mitarbeiter des Leichenschauhauses vergessen, dass die Leichen, mit denen sie zu tun haben, einmal der Mittelpunkt des Universums waren, auf jeden Fall für sie selbst. Niemand weiß, warum wir auserwählt wurden, auf der Welt zu sein, oder inwieweit die Entscheidungen, die wir während unserer Anwesenheit treffen, in unserer Hand liegen. Für diejenigen, die in die Leichenhalle kamen, war dieser Teil der Reise ohnehin vorbei. Schlechte Menschen, gute Menschen, die indifferenten – sie alle werden die letzte geheimnisvolle Reise antreten und eine leere, vergängliche Hülle zurücklassen, die nicht immer beklagenswert, aber in jedem Fall zu respektieren ist.

Ein eindringliches Klackern ließ Lindy und mich uns umwenden: Doc Peltier kam mit hochhackigen Schuhen auf uns zu. Ich nahm an, dass sie mit ihrem Ehemann Zane gefrühstückt hatte, denn er ging neben ihr und bearbeitete seine Zähne mit einem Zahnstocher. Zane war neunundfünfzig, sah aber mit den kühlen grauen Augen in seinem gemeißelten Gesicht, einer Nase so schmal wie der Rücken eines dünnen Buches und einer unabhängig von der Jahreszeit mahagonibraunen Haut jünger aus. Er trug einen pechschwarzen, dreiteiligen Anzug, um seinen Bauchansatz zu verbergen, und ging schnell, um mit seiner Frau Schritt zu halten.

»Ein bisschen früh, Ryder, oder?«, sagte sie, als ich in ihren Windschatten sprang. Bei ihrem Parfüm konnte man glauben, dass Champagner aus Rosen gemacht wird.

»Ich würde vor der Obduktion gerne einen Blick auf die Leiche werfen.«

Das versuchte ich immer zu tun, da ich das Gefühl hatte, dadurch eine engere Beziehung zu den Opfern herstellen zu können. Die Leichen waren noch nicht zu schlimm zugerichtet. Nach der Obduktion, der Invasion, schienen die Verstorbenen anders zu sein. Als wären sie von unserer Welt in den Vorraum der nächsten gewechselt.

Clair verdrehte die Augen. »Ich habe heute keine Zeit, um Ihnen den Gefallen zu tun.« Sie hielt nicht viel von meiner Beziehungstheorie.

»Bitte, Clair. Nur eine Minute.«

Clair seufzte. Wir blieben vor der Tür des Autopsiesaales stehen. Sie erinnerte sich an ihre Manieren. »Haben Sie schon meinen Mann kennen gelernt, Zane?«

»Im Kunstmuseum, vor ein paar Monaten«, antwortete ich und streckte meine Hand aus. »Detective Ryder.«

Zane Peltier hatte einen dieser Händedrücke, die fast Daumen mit Daumen umschlossen, und schüttelte meine Knöchel. »Natürlich erinnere ich mich«, sagte sein Mund, während seine Augen es leugneten. »Schön, Sie wiederzusehen, Detective.«

Clair öffnete die Tür. Ihr Mann sagte: »Ich warte hier draußen, Liebling.«

»Sie beißen nicht, Zane.«

Er lächelte, blieb aber trotzdem der Tür fern. Ich konnte sein Zögern verstehen. Ich bin überzeugt, dass Menschen den Tod genauso deutlich spüren wie Vieh ein herannahendes Gewitter, ein atavistisches Warnsystem, das in uns sein wird, bis wir uns zu reinen Vernunftswesen mit begrenzten Bedürfnissen entwickelt haben.

Clair und ich betraten den Saal. »Beeilen Sie sich, Ryder«, mahnte sie. »Ich habe einen anstrengenden Tag vor mir und kann keine Ablenkung gebrauchen.«

»Jawohl, Eure Majestät«, entgegnete ich, was sie mit einem vernichtenden Blick, ansonsten aber kommentarlos quittierte. Sie schob die Leiche aus dem Kühlfach und zog das Laken weg.

Ich betrachtete das seltsame Bild für ein paar Augenblicke. Ohne den Kopf bekam ich kein Gefühl für das Geschöpf, sondern nur für den Verlust. Alles was ich wahrnahm, waren die körperlichen Dimensionen des Opfers, die Breite der Schultern, die schmalen Hüften, das Muskulöse. Der Tod verändert das Aussehen und die Formen, aber in diesen Körper waren offensichtlich Zeit und Arbeit investiert worden.

Clair beobachtete mich missbilligend und betrachtete dann die Leiche mit professionellen Blicken. Als sie das Laken wieder zurückzog, hielt sie plötzlich inne.

»Was zum Teufel?«, sagte sie und beugte sich über den Schambereich. »Was ist das?«

»Ein Penis?«

»Nein, verdammt. Über dem Schamhaar. Machen Sie sich nützlich, Ryder, und holen Sie mir ein Paar Handschuhe.«

Ich lief los und zog ein Knäuel Latexhandschuhe aus einer Schachtel neben einem Autopsietisch. Clair streifte sie über und presste das verfilzte Haar zur Seite.

»Da steht etwas geschrieben«, murmelte sie. »So klein, dass ich es kaum lesen kann. ›Eine Hure entstellt‹«, sagte sie, während sie auf Worte blinzelte, die ich nicht sehen konnte. »Eine Hure entstellt. Abartige Huren. Ein ganzer Haufen abartiger Huren. Rats back. Rats back. Rats back. Rats. Rats. Rats. Back. Back. Back.«

Als Clair sich aufrichtete, schnellte ich nach vorn. In präziser Lavendelschrift waren dort zwei horizontale Wortreihen, eben jene, die Clair vorgelesen hatte.

Ohne sich von der Leiche abzuwenden, rief sie: »Dr. Davanelle, kommen Sie her.«

Ich schaute zu dem kleinen Büro in der Ecke, wo eine zierliche und blasse Frau eine Akte studierte, so mucksmäuschenstill, dass ich sie nicht bemerkt hatte. Sie hatte dunkle, schulterlange Haare und eine eulenartige Brille. Ihr Name war Evie oder so, sie war erst vor kurzem angestellt worden, sodass ich noch mit keinen Fällen zu tun hatte, die sie bearbeitete. Sie eilte herbei. Während ich lächelte und nickte, ignorierte sie mich.

Clair tippte auf das Schambein des Opfers. »Da Sie so freundlich waren, heute zur Arbeit zu erscheinen, Doktor – immerhin ist ja Montag –, möchte ich Sie auf diese Schrift hier im Schambereich aufmerksam machen. Rufen Sie Chambliss und sagen Sie ihm, er soll mit der Mikrokamera kommen und Aufnahmen von der Inschrift machen. Und überprüfen Sie die Leiche nach weiteren Schriften. Verstanden?«

»Das hätte ich sowieso getan, Dokt ...«

»Worauf warten Sie? Wir stimmen nicht darüber ab. Gehen Sie.«

Evie oder so ging in das Büro zurück und rief den Fotografen an. Die Sprechanlage knisterte, dann hörte ich die Stimme der Empfangsdame Vera Braden, deren Südstaatenakzent in Honig getunkt und angebraten zu sein schien.

»Dr. Pel-tee-a? Bill Ah-nett vom Eff-Bee-Aye ist auf Leitung vier. Er hat die Ergebnisse Ihrer Gewebeprobe von letzter Woche.«

»Legen Sie den Anruf in mein Büro«, rief Clair und klackerte aus der Nebentür in ihr Büro. Ich nutzte die Gelegenheit, um ein paar Schritte weiter auf die Toilette zu gehen. Als ich wenig später zurückkehrte, sah ich, dass Zane Peltier in den Autopsiesaal gekommen war. Mit bleichem Gesicht stand er neben der Leiche. Seine Knie zitterten wie Espenlaub und er wisperte immer wieder: Jesus.

»Immer mit der Ruhe, Mr Peltier«, sagte ich, stellte mich neben ihn und legte stützend eine Hand auf seinen Rücken. »Atmen Sie tief ein.«

»Wer ist denn das?«, krächzte er. »Jesus.«

»Ein Mann namens Jerrold Nelson.«

»Jesus.«

»Atmen Sie«, wiederholte ich. Er atmete.

»Ich wollte nur schauen, wo Clair bleibt und ... Jesus. Wo ist der Kopf?«

»Das wissen wir noch nicht.«

»Wer tut so etwas emem anderen Menschen an?« Er holte ein paarmal tief Luft und seine Farbe begann zurückzukehren.

»Alles ... alles in Ordnung, Detective. Ich habe noch nie eine Leiche ohne ...« Er rang sich ein zittriges Lächeln ab. »Ich hätte draußen bleiben sollen.«

Als Zane tief atmend in Clairs Büro ging, sah er seinem wahren Alter schon ähnlicher. Böse Zungen behaupteten, die Hochzeit von Zane Peltier und der früheren Clair Swanscott war weniger eine Ehe denn eine Fusion, in die er Namen und Reichtum brachte, was sie mit Geist und Ehrgeiz aufwog. Zane stammt aus Mobiles Geldadel der Vorkriegszeit, aus einer dieser Familien, die über Nacht ein Vermögen verdient hatten. Er hatte mehrere Unternehmen geerbt, saß in den Vorständen einiger anderer, arbeitete aber nur ungefähr fünfzehn Stunden die Woche, wie ich gehört hatte. Wahrscheinlich sehr effiziente Stunden.

Clair steckte ihren Kopf durch den Haupteingang des Saales. Hinter ihr sah ich Zane, der bereit zum Gehen schien. Clair warf einen Blick in Richtung des kleinen Büros.

»Ich muss zu einer Graböffnung nach Bayou La Batre, dann zum Mittagessen mit Bill Arnett. Gegen Viertel vor vier bin ich wieder zurück.« Clair wandte sich an mich. »So läuft es, Ryder. Jeder macht seinen Job und hetzt von einem Termin zum anderen.«

Keines ihrer Worte war für mich bestimmt.

Die Tür wurde zugemacht. Clair war auf dem Weg zu ihren Terminen, während Zane wahrscheinlich auf dem Weg in die nächste Bar war, um einen Drink zu nehmen. So blieben nur noch ich und Evie oder wie immer sie hieß – Mann und Frau allein in einer Raststätte des Todes. Als ich zu ihr schlenderte, fiel mir auf, dass sie keinen Ehering trug. Sie füllte Zeilen auf einem Stapel Formulare aus.

»Ich bin Carson Ryder, Mordkommission«, sagte ich zu ihrem Scheitel. »Ich glaube, wir sind einander noch nicht vorgestellt worden.«

Bevor sie aufsah, machte sie ein paar Striche mit dem Kugelschreiber.

»Ava Davanelle.« Sie reichte mir nicht ihre Hand, konnte meiner aber nicht ausweichen. Ihr Händedruck war kühl, eine reine Pflichtübung und sehr kurz.

»Sie sind neu hier, Dr. Davanelle?«

»Wenn man nach sechs Monaten noch neu ist für Sie.« Sie widmete sich wieder ihrer Schreibarbeit.

»Scheint so, als hätten Sie Doc Peltier heute auf dem falschen Fuß erwischt. Sind Sie zu spät gekommen? Ich kam mal zu einem Treffen mit ihr zwei Minuten zu spät, und sie war kurz davor ...«

»Sind Sie wegen Ihres Nasenproblems mal beim Arzt gewesen?«

»Nasenproblem?«

»Sie steckt sich in anderer Leute Angelegenheiten.«

Ich bemerkte, dass ihre Finger beim Schreiben leicht zitterten; das Zimmer war kalt.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich arbeite jetzt ein Jahr mit Clair, äh, Dr. Peltier zusammen und habe immer das Gefühl, sie auf dem falschen Fuß zu erwischen. Als hätte sie gar keinen richtigen Fuß. Aber wenn sie keinen richtigen Fuß hat, wie kann sie dann eine richtige Hand haben? Und wenn sie keine richtige Hand hat, wie kann sie ...« Ich hörte mich dämlich daherplappern, ohne aufhören zu können. Meine Version von Small Talk.

Dr. Davanelle raffte ihre Papiere zusammen und stand auf.

»Nett, Sie kennen gelernt zu haben, Detective Carson, aber ich ...«

»Nein, Ryder. Carson Ryder.«

»... habe heute eine Menge zu tun. Auf Wiedersehen.«

Ich folgte ihr durch den Raum, bis sie sich umdrehte, als wäre ich ein stinkender Köter, der an ihren Beinen schnüffelte.

»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Detective Carson?«

»Ryder. Carson Ryder. Ich bin hier, um der Obduktion an der Leiche von Jerrold Nelson beizuwohnen, Dr. Davanelle.«

»Warum nehmen Sie dann nicht in der Lobby Platz?«, meinte sie, wobei sie besondere Betonung auf das Wort Lobby legte. »Sie kriegen Bescheid, wenn wir so weit sind.«

Einer von Hundert

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