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KAPITEL 7

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Nachts um elf Uhr war es noch über dreißig Grad warm. Ein feuchter Dunst verdeckte die Sterne und verhüllte den Mond. Seit dem Mord an Nelson waren zwei Tage vergangen und bisher hatte das von Squill an den Fall gesetzte Team noch keine Fortschritte gemacht. Ich stand am Ufer und warf die Angelschnur aus, holte den Köder langsam wieder ein und warf ihn erneut aus. Normalerweise angelte ich mit einer Fliegenrute und wusste, was ich am Haken haben wollte: Brillenfische, Rotbarsche, Buntbarsche, Makrelen. Manchmal kam meine Schnur mit einem Hai in Kontakt. Oder mit einem großen Rochen. Das waren noch die bekannteren Arten. Aber in seltenen Fällen hatte ich auch schon bizarre Lebensformen eingeholt, die in meinen Büchern über das Angeln im Golf von Mexiko nicht erwähnt werden. Ich wusste nie, welche Laune der Gezeiten oder der Strömung sie mir an die Leine führten, aber sie existierten, zappelnde Kreaturen aus unbekannter Tiefe, die vor meiner Berührung zurückschreckten. Vielleicht ist es seltsam, aber ich bezweifle, dass ich ohne sie so gerne angeln würde.

Angeln wirkt beruhigend, wenn ich aufgewühlt bin, und ich war durcheinander, seit ich mit angehört hatte, wie Dr. Davanelle von Clair zur Schnecke gemacht worden war. Weder hatte ich vorgehabt, die beiden zu belauschen, noch wollte ich Zeuge von Dr. Davanelles Bestürzung werden, doch nun hatte es sich in mein Gedächtnis eingebrannt.

Ich wusste nicht im Detail, was zu Dr. Davanelles Anstellung im Gerichtsmedizinischen Institut geführt hatte, ich wusste nur, dass sie die zweite Wahl für den Posten gewesen und erst nach Dr. Caulfields schrecklicher Verletzung angestellt worden war. Nur aufgrund einer Tragödie hatte sie den Posten in Mobile erhalten, ihre erste professionelle Anstellung. Wie mich Harry während seiner Lehrstunde im Cake’s erinnert hatte, war auch ich durch das Pech anderer auf meinen Posten gestolpert. Ich wusste, dass einem solchen Umstand das Gefühl einer gewissen Unredlichkeit anhaften konnte. Und dass Dr. Davanelle mit Clair arbeitete – einer absoluten Perfektionistin, die jeden Augenblick Höchstleistungen von ihren Mitarbeitern forderte – machte die Sache nicht leichter.

Ich holte meine Leine ein und steckte die Angelrute in den Boden. Dann setzte ich mich in den Sand, legte die Arme um meine Knie und starrte über die leicht gekräuselte Oberfläche des Wassers, das im Mondlicht glänzte wie Vulkangestein. Nachdem ich einige Augenblicke nachgedacht hatte, wühlte ich durch meine Kühltasche, in die ich in letzter Minute mein Handy geworfen hatte. Telefon auf Eis; Freud hätte seine Freude daran gehabt.

Über die Auskunft erhielt ich Ava Davanelles Nummer und wählte sie. Ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter war so kalt wie das Gerät in meiner Hand. Sie teilte ihre Nummer mit, erwähnte die Möglichkeit einer Nachricht nach dem Piepton und weg war sie. Ich hörte den Ton, lauschte der Stille und unterbrach den Anruf. Erst dann fragte ich mich, was ich eigentlich hätte sagen wollen, wenn sie da gewesen wäre.

»Hallo, Dr. Davanelle, hier ist Detective Ryder. Tut mir Leid, dass ich bei der Autopsie von diesem Nelson so eine Nervensäge war, ich wollte Ihre Probleme nicht noch schlimmer machen. Welche Probleme? Ich hatte mich gestern, äh, in Willet Lindys Büro verkrochen, als sie den Flur entlangkamen, und beobachtet, wie Sie ...«

Ich seufzte, öffnete den Reißverschluss der Kühltasche und wollte gerade wieder mein Handy einfrieren, als es zu klingeln begann.

Es war Harry. »Ich hab gerade einen Anruf von der Spurensicherung bekommen«, sagte er. »Wir haben einen weiteren kopflosen Reiter in 837 Caleria. Aufsatteln und losreiten, Ichabod. Wir sehen uns in Sleepy Hollow.«

Der Tatort war ein großes, auf Italienisch gemachtes Haus unweit der südlichen Außenbezirke der Innenstadt in einem Viertel herrschaftlicher, historischer Anwesen, zwischen die sich einige Apartmenthäuser gemischt hatten. Mehrere Streifenwagen waren vor Ort, ebenso der Van der Spurensicherung und ein Krankenwagen. Der Van eines Nachrichtensenders machte eine Kehrtwende und parkte am Bordstein. Auf dem Bürgersteig liefen Nachbarn mit düsteren Mienen umher. Da die vorbeifahrenden Autos von dem Blaulicht und dem Aufruhr angezogen wurden wie Motten, kam der Verkehr ins Stocken. Ein Streifenpolizist auf der Straße winkte mit den Armen und brüllte: »Weiterfahren, Leute, weiterfahren.« Ich sah Harry und hielt hinter ihm am Bordstein an.

»Dumpfbacken’R’Us in der Nähe?«, fragte ich.

Harry schüttelte den Kopf. »Squill war bei seinem Bruder in Pensacola. Er ist auf dem Weg.«

Von Pensacola brauchte er mindestens neunzig Minuten. Angesichts der verstrichenen Zeit hatten wir vielleicht noch eine halbe Stunde ohne ihn.

»Dann legen wir mal los, solange wir noch können, Bruder«, sagte ich. Wir gingen auf eine große Frontveranda. An einer weißen Säule lehnte Detective Sergeant Warren Blasingame vom dritten Distrikt, dessen Beamte, da wir uns im dritten Distrikt befanden, zunächst für diesen Fall zuständig waren. Blasingame zog an einer Zigarette und starrte in die Baumwipfel.

»Was ist da drin passiert, Warren?«, fragte Harry.

Blasingame fuhr mit einem Finger quer über seinen Adamsapfel. »Mehr weiß ich nicht.«

»Warst du nicht drinnen?«

»Nur die Mediziner, die Spurensicherung und Hargreaves. Sie hat den Anruf entgegengenommen«, erklärte Blasingame schleppend und spuckte auf den Rasen. »Meine Leute sollen nicht reingehen, ehe Squill hier ist. Und ihr beiden wahrscheinlich ebenfalls nicht, egal, ob die Piss-it-Regeln sagen, dass ihr zuständig seid.«

»Davon habe ich nichts gehört«, meinte Harry, als unsere Schritte über die Veranda stapften.

Deschamps Design Services stand über dem Firmenlogo an der Tür. Auf einem kleinen Schild unter der Klingel war zu lesen: BITTE KLINGELN. Ein Aufkleber auf der Scheibe sagte: GESCHÜTZT DURCH JENKINS SECURITY SYSTEMS. Das Haus war zwar nicht die Bastille, aber mit offenen Türen wurde man auch nicht gerade empfangen. Durch die Eingangstür gelangte man direkt in einen pastellfarbenen Empfangsbereich, in dem sich ein Innenarchitekt ausgetobt hatte: von Lichtleisten angestrahlte abstrakte Gemälde im Stile Chagalls, ein Knautschsofa aus blauem Leder, ein Designerstuhl, der mehr wie ein Drachen als wie ein Sitzmöbel aussah. Im Haus lag ein leicht aseptischer Geruch, wie nach Desinfektions- oder kräftigem Reinigungsmittel.

»Hier drin könnte man ja Bier kühlen«, meinte Harry und fasste an seine Krawatte. Wir gingen in einen kurzen Flur. Ich hörte ein gedämpftes Schluchzen aus einem Zimmer auf der linken Seite und öffnete vorsichtig die Tür. An einem schmalen Konferenztisch saß eine schlanke Frau mit der Streifenbeamtin Sally Hargreaves. Sal war die Erste am Tatort gewesen. Sie berührte das Handgelenk der Frau und sprach behutsam mit ihr. Als Sal mich sah, kam sie zur Tür.

»Cheryl Knotts, die Verlobte des Opfers«, flüsterte sie. »Sie ist Flugbegleiterin und war drei Tage unterwegs. Vor fünfzig Minuten kam sie hier an und fand einen gewissen Peter Edgar Deschamps tot in seinem Studio.«

»Erster Eindruck?«, fragte ich, da ich wusste, dass Sa! übersinnliche Kräfte hatte.

»Sie hat nichts damit zu tun, da gehe ich jede Wette ein. Es hat sie total umgehauen.«

Mit übersinnlichen Kräften meine ich, dass Sal ein seltenes Gespür für Menschen hat, das ihr erlaubt, sie schnell und sicher einzuschätzen. Cops eignen sich ohnehin besser als der Durchschnittsbürger die Fähigkeit an, sich nicht hinters Licht führen zu lassen, doch manche waren echte Wunderkinder, hypersensible Mozarts. Sals Einschätzung genügte mir, um die Verlobte als Verdächtige so gut wie auszuschließen.

»Ob ich ihr demnächst ein paar Fragen stellen kann?«, wollte ich wissen.

Sally nickte und berührte meinen Arm. »Aber behutsam, wenn du kannst.«

Sallys Augen waren etwas feucht; die übersinnlichen Kräfte hatten ihren Preis. Ich küsste sie leicht auf die Stirn. »Habe ich dir erzählt, dass ich letzte Woche von dir geträumt habe?«, sagte ich. »Ich war eine Krankenschwester und du warst ein Wikinger ...«

Zum ersten Mal lächelte Sa!, dann schob sie mich in den Flur. »Geh und pass auf Harry auf, bevor er irgendwas Dummes anstellt«, sagte sie.

Das Opfer lag rücklings vor dem Zeichenbrett. Neben dem Brett stand ein Schreibtisch mit einem Mac und einem Monitor, dessen Bildschirm größer war als der von meinem Fernseher. Die Kluft des Mannes war legere Bürogarderobe: blaues Oxfordhemd, gebügelte Khakihosen, Stoffgürtel, braune Slipper. Der Verstorbene war kräftig gebaut; er war zwar kein Hardcore-Gewichtestemmer mit übertriebenem Bizeps und steroidverseuchtem Blut, aber doch ein Typ, der hart und regelmäßig trainiert hatte. Sein Hemd war aufgeknöpft, ebenso war die Hose geöffnet und vom Hintern gezogen worden. Außer der scharlachroten Halskrause gab es keinerlei Anzeichen von Blut oder Gewalteinwirkung an seiner Kleidung. Hembree nahm sich gerade seiner an.

»Wie sieht’s aus, Bree?«, fragte ich.

»Sieht aus, als wenn du mit Harry Überstunden machen müsstest.«

»Todesursache?«

»Wie bei Nelson. An der Leiche kann ich nichts finden. Nur eine Kopfwunde ...«

»Könnte mittlerweile schon am Dixey-Bar-Leuchtturm vorbeitreiben.«

Hembree nickte. »Sollte der Täter eine Knarre benutzen, würde ich auf eine Zweiundzwanziger tippen. Da tritt die Kugel meist in den Schädel ein und prallt da drinnen umher wie ein Pingpongball. Keine Austrittswunde, keine Splitter. Nur Gehirnpudding.«

Ich fragte mich, was sich das Gehirn bei einer Kugel denkt, die innerhalb der eigenen Grenzen herumspringt wie eine Wespe aus Metall. Konnte ein Gehirn die eigene Zerstörung verstehen? Sich selbst schreien hören?

»Blutet es nicht höllisch, wenn der Kopf abgetrennt wird?«, fragte ich und rieb meine Hände. Plötzlich war mir kalt.

»Das Herz hört auf zu schlagen, das Blut fließt nicht mehr. Weniger Blutfluss als man meint. Ich würde in dem Fall ein Handtuch unter den Hals legen, um das Blut aufzusaugen, und dann den Kopf entfernen. Den Kopf in das Handtuch einwickeln, ihn in eine Bowlingkugeltasche stecken und Auf Wiedersehen sagen.«

»Da musst du nur aufpassen, dass du am Wettkampfabend nicht die Taschen vertauschst. Irgendeine Schrift?«

»Auf die Frage habe ich schon gewartet.«

Hembree zog den Slip des Verstorbenen vom Schamhaar. Die gleiche winzige Schrift, diesmal in zwei Zeilen. Die erste lautete: Einen Haufen Huren entstellt. Ein Haufen Huren. Huren entstellt. Ein Haufen Huren. Abartige Huren. Ein Haufen Huren. Abartige Huren. In der nächsten stand: Rats Rats Rats Ho Ho Ho Ho Rats Rats Rats Rats Ho Ho Ho Ho Ho Ho Ho.

Ein eisiger Finger kitzelte meinen Halsansatz.

»Wieder die Huren«, sagte Hembree. »Habt ihr schon in der Richtung ermittelt?«

Ich nickte. Wir hatten die Sitten- und Mordkommissionen an der ganzen Golfküste kontaktiert und die Suche auf die nationalen Kriminalstatistiken ausgeweitet. Es gab keine ungelösten Morde in unserer Region, auf jeden Fall keine, die in unser Muster passten. Was auch immer hinter den Morden steckte, wir hatten es mit einem exklusiven Fall zu tun.

Hembree deutete auf die zweite Zeile. »Ho Ho Ho Ho – was soll das heißen?«

»Klingt wie Gelächter. Als wollte er uns verspotten, Bree.«

Hembree schloss die Augen. »O Mann, alles, nur das nicht.«

Spott von psychopathisch gestörten Mördern war ein beängstigendes Zeichen. Die Mörder fühlten sich sicher, ungeschoren mit allen Taten davonzukommen. Manche waren leider auch davongekommen, besonders dann, wenn sie eisenharte Selbstkontrolle besaßen, in etwa die Kontrolle, die man benötigte, um einen Kopf abzutrennen und mit winzigen, perfekt gezeichneten Buchstaben zu schreiben. Solche Menschen konnten überall leben und alles sein: Hausmeister, Lehrer, Bankdirektor.

Hembree berichtete, nach Schätzung der Mediziner sei der Tod vor ungefähr zwei Stunden eingetreten, vielleicht etwas früher, vielleicht etwas später. Harry meinte: »Ich werde mich mal im Rest vom Haus umschauen. Versuch du etwas aus der Frau herauszubekommen. Die Freundin?«

»Verlobte«, verbesserte ich. »Sally hält sie für unschuldig.«

»Das genügt mir«, sagte Harry, der mit ihren übersinnlichen Fähigkeiten vertraut war, und knöpfte seine Jacke zu. »Gott, hier ist es kälter als in einem Grab.«

Ich kehrte in das Zimmer zu der Verlobten zurück und hoffte, dass ich für sie nicht zum Dämon wurde. An der Kasse eines Lebensmittelladens hatte ich einmal ohne es zu wissen hinter einer Frau gestanden, die ich über den gewaltsamen Tod ihrer Tochter befragt hatte. Als sich unsere Blicke trafen, wurde sie kreidebleich, stieß ein Miauen aus und rannte hinaus, während ihre Einkäufe noch auf dem Band lagen. Jetzt, da ich dieser Frau im schlimmsten Moment ihres Lebens begegnete, betete ich dafür, dass ihr Gedächtnis mich nach dieser Nacht ausradierte und es nicht mein Gesicht war, das an der Decke prankte, wenn Albträume sie aus dem Schlaf rissen.

»Verzeihen Sie, Ms Knotts, ich bin Detective Carson Ryder und würde gerne ein paar Minuten mit Ihnen sprechen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Sie holte tief Luft und nickte. »Solange noch alles ... frisch ist, ich weiß.« Ich musste mich anstrengen, um sie zu verstehen.

»Hat Peter Ihnen vielleicht von irgendeinem Termin heute erzählt? Von jemanden, mit dem er sprechen wollte?«

»Nein. Aber er war für einen Termin gekleidet. Lange Hose, Hemd. Normalerweise arbeitet er in Shorts und T-Shirt, es sei denn ... jemand muss sich in letzter Minute angemeldet haben.«

Ich hörte Stimmen und Schritte an der Haustür. Sally schloss die Zimmertür, damit wir allein waren.

»Kommen hier häufig Kunden vorbei?«

»Nein. Er geht zu ihnen. Peter macht einen guten Kundendienst.«

»Laufkundschaft?«

»Manchmal sehen Leute das Firmenzeichen und fragen, ob er Visitenkarten oder solche Sachen macht.«

»Wenn er einen Termin hatte und es aufgeschrieben hat, wo würde er diese Unterlagen aufbewahren?«

Sie schloss die Augen. »Letztes Jahr zu Weihnachten habe ich ihm einen PDA geschenkt. Er ist wahrscheinlich im Empfangstisch. Oberste Schublade.«

Sal schlich davon und kehrte eine Minute später mit einem Gerät zurück, das kaum größer als eine Kreditkarte war. Sie hatte Latexhandschuhe angezogen. Ich ging mit Sal in den Flur. Sie tippte auf die Tastatur und betrachtete lange das Display, bevor sie es mir zeigte.

Das heutige Datum. Darunter war eingegeben: 20:00 Uhr. Tr.m. Mr Cutter.

»Also, dreister geht es ja nicht mehr«, sagte Sally.

Ich ging los, um Harry von Mr Cutter zu berichten, und lief in einen ausgestreckten Arm, hinter dem ein Fleischberg stand. »Immer langsam, Ryder«, sagte Burlew. »Wohin des Weges, Sportsfreund?« Sein Atem roch nach Gülle und Zwiebeln; vielleicht sollte er mal Anzeigen für Lutschbonbons kauen.

»Ich muss mit Harry sprechen.«

»Ruf ihn an, von draußen.«

Ich rief: »Harry, bist du da irgendwo?«

Burlew zeigte zum Eingang. »Da ist die Tür, Kumpel.«

»Wo ist der Captain, Burlew?«

»Sergeant Burlew für dich. Und jetzt beweg deinen Arsch, sonst mach ich dir Beine.«

Am anderen Ende des Flurs steckte Squill seinen Kopf durch die Tür von Deschamps’ Studio. Es kam mir vor, als wäre die Welt aus ihrer Achse gerutscht und jeder an eine andere Stelle geworfen worden. »Ich habe die Ermittlungen übernommen, Ryder«, sagte er. »Gehen Sie raus und nehmen Sie Aussagen von den Nachbarn auf.«

»Wo ist Harry, Captain? Es ist wichtig.«

»Haben Sie bei der Geburt zu wenig Sauerstoff abgekriegt, Ryder?«, sagte Squill. »Ich habe Ihnen einen eindeutigen Befehl erteilt.«

Ich hatte die überarbeiteten Richtlinien ungefähr hundertmal gelesen und meistens war mir angesichts der Autonomie, die PSET angeblich eingeräumt wurde, ungläubig die Kinnlade heruntergeklappt. In den Fällen, die gemäß der Richtlinien in den Zuständigkeitsbereich der Einheit fielen, waren Harry und ich diejenigen, die die Ermittlungen koordinierten.

»Entschuldigen Sie, Captain«, erwiderte ich, »aber in Kombination mit dem Mord an Nelson haben wir es bei diesem Fall eindeutig mit einem psychopatholigisch und soziopathologisch gestörten Täter zu tun, und das bedeutet ...«

Squill stieß einen manikürten Zeigefinger in Richtung Ausgang. »Da ist die Tür«, erklärte er.

»Verdammt noch mal, Sir, lassen Sie mich ausreden. Aufgrund dieser Sachlage ...«

»Sie beschimpfen einen Vorgesetzten? Das war’s. Ich muss wohl nichts mehr sagen, Detective.«

»Wie wäre es dann mit Zuhören, Captain? Wir haben zwei enthauptete Männer und wir haben ...«

»Sie, Officer«, blaffte Squill einen jungen Streifenpolizisten an, der neben der Hintertür stand. »Ja, Sie. Aufwachen. Kommen Sie und begleiten Sie Mr Ryder aus dem Haus, sofort.«

»... eindeutige Hinweise auf einen gestörten Täter ...«

Burlews Hand klammerte sich um meinen Bizeps wie ein Schraubstock und ich riss mich los. »Hände weg, Burl. Musst du nicht die Socken des Captains waschen oder so was?«

Burlew wirbelte herum und spuckte einen grauen Klumpen Zeitungspapier auf den Boden. »Willst du Ärger?«, drohte er, ein Fels mit Mundgeruch und geballten Fäusten und Muskelpaketen, die sich unter seinem Jackett wölbten. »Hast du den Mut, es drauf ankommen zu lassen?«

Ich verlagerte meinen Schwerpunkt auf die Hüften und fühlte einen Energieschub direkt unter meinem Bauchnabel. Ich konnte die Hitze riechen, die von Burlew ausströmte. Seine winzigen Augen funkelten vor Zorn, doch dahinter spürte ich Angst.

»Sergeant«, kommandierte Squill. »Kommen Sie her. Wir haben zu tun.« Squill winkte Burlew herbei.

Ich sprach leise. »Squill braucht eine Fußmassage, Burl. Lass ihn lieber nicht warten.«

Burlew versuchte mich mit seinen Blicken zu durchbohren, fuhr dann mit der Zunge über seine Lippen, und als er sich Richtung Studio wandte, gab er mir einen kräftigen Schubs mit der Schulter. »Deine Zeit wird noch kommen, Arschloch«, fauchte er.

Der Uniformierte kam auf mich zu. »Tut mir Leid, Detective Ryder«, sagte er, »aber würden Sie bitte hinausgehen? Bitte.«

Zitternd vor Wut ging ich auf die Veranda und hörte Harry pfeifen. Er trat aus dem Schatten neben dem Haus. »Willkommen in der zweiten Mannschaft, Carson. Wir zwei sind draußen und die zwei sind drinnen. Squill ist angekommen, als du gerade mit der Verlobten gesprochen hast, es war, als wären die Marines gelandet.«

»Erklär mir das, Harry. Habe ich irgendwas verpasst?«

Harry zeigte auf eine großes Limousine, die auf den Rasen vor dem Haus bog. Der Motor heulte unsinnig auf, die Reifen durchpflügten den Boden und wirbelten Gras auf. Schau mich an, schien der Wagen zu sagen, als er mit einem Ruck zum Stehen kam. Die Beifahrertür ging auf. Nach einer kurzen Pause, in der die Kameralichter die Szene ausleuchten konnten, tauchte der stellvertretende Polizeichef, Deputy Chief Plackett, auf, als wäre er aus dem dunklen Fahrzeug geboren worden. Er rückte seine Krawatte zurecht, zeigte den Medienvertretern seine Handfläche und bahnte sich, jeden Kommentar ablehnend, seinen Weg zum Haus. Mir kam die Galle hoch, denn ich hatte die Botschaft verstanden: Squill und Plackett vollführten das Zeremonienspiel der hohen Tiere; Squill spielte seine Rolle für Plackett, Plackett für die Kameras und die Öffentlichkeit. Die verstümmelte Leiche im Haus diente ihnen in dieser selbstherrlichen Schmierenkomödie lediglich als Requisite.

»Detective Ryder?«

Ich drehte mich um, neben mir stand der Beamte, der mich auf Squills Geheiß aus dem Haus geführt hatte, ein junger, blonder Kerl, der aussah, als wäre er direkt von den Pfadfindern in den Polizeidienst gewechselt.

»Tut mir Leid wegen der Sache da drinnen, Sir. Der Captain hat mir den Befehl erteilt und ich ...«

»Und Sie haben getan, was Sie tun mussten. Kein Problem.«

»Wenn Sie mich fragen, ist das Blödsinn, Detective. Wenn überhaupt jemand am Tatort sein sollte, dann Sie, finde ich. Dieser Wahnsinn ... Haben Sie nicht den Adrian-Fall ganz allein gelöst? Haben Sie doch, oder?«

Er meinte es gut, aber seine Worte waren mir unangenehm. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Harry seinen Kopf in meine Richtung neigte und auf meine Antwort wartete.

»Nicht ganz«, erklärte ich dem Streifenpolizisten mit einem Kloß im Hals. »Ich hatte damals einfach nur Glück. Außerdem hatte ich eine Menge Hilfe.«

»Carson, du BRAUUUCHST MICH WIEDER ...«

Von welcher Seite die Hilfe gekommen war, erzählte ich ihm nicht. Oder dass ich allein bei dem Gedanken, diese Hilfe erneut in Anspruch zu nehmen, weiche Knie bekam und mir ein Schauer über den Rücken lief. Ich schaute zu Harry. Er betrachtete den Himmel, als wäre er eine Kinoleinwand.

Mit heruntergekurbelten Fenstern und aufgedrehter Klimaanlage fuhr ich nach Hause, den Knoten in meinem Magen konnte der Sturm im Wagen jedoch nicht wegblasen. PSET war in der Folge von Adrians Mordserie erschaffen worden und die ungewöhnlichste aller PR-Erfindungen: Ob nur zufällig oder nicht – sie erfüllte ihren Zweck. Aber wie so viele über die Jahre am grünen Tisch entstandenen Einrichtungen schien auch PSET ein frühes Ende bestimmt zu sein, dem niemand nachtrauerte. Still und leise würde die Einheit aus der nächsten Inkarnation der Polizeirichtlinien verschwinden, ihr kurzlebiger Zweck würde erfüllt sein, ihre schwammigen Versprechungen nicht länger benötigt werden.

Als ich ausgelaugt und schlecht gelaunt zu Hause ankam, sah ich, dass mein Anrufbeantworter eine Nachricht gespeichert hatte. Ich drückte die Abspieltaste.

»Hallo, Carson? Sind Sie da? Hier ist Vangie Prowse. Nehmen Sie bitte ab. Ich möchte mit Ihnen über Jeremy reden. Wir müssen ein paar Dinge besprechen. Carson?«

Ein Piepton signalisierte das Ende der Nachricht. Ich löschte sie und fiel ins Bett.

Einer von Hundert

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