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PROLOG

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Sekunden vor einem der am meisten herbeigesehnten Ereignisse in Alexander Caulfields Erwachsenenleben, einem Ereignis, auf das er Jahre hingearbeitet hatte, einem Ereignis, das seinen Eintritt in die Fachwelt, ein anständiges Gehalt und den Respekt seiner Kollegen bedeutete, begann sein linkes Auge zu zwinkern wie das eines Gigolos in einem drittklassigen italienischen Film.

Zuck

Caulfield fluchte innerlich. Als Arzt diagnostizierte er einen vorübergehenden, halbseitigen Gesichtsspasmus: Augenzucken oder -flattern als Reaktion auf Ereignisse, die Angst auslösen oder eine Bedrohung darstellen.

Zuck

Angst zu haben war lächerlich, belehrte er sich und drückte das lästige Auge zu. Als Assistenzarzt hatte er hunderte von Autopsien vorgenommen oder bei ihnen assistiert. Der einzige Unterschied lag darin, dass dies seine erste hauptverantwortliche Autopsie war. Sie saß nur fünf Meter weit weg.

Caulfield öffnete langsam sein Auge.

Zuck

Aus dem Augenwinkel schaute er hinüber zu Dr. Clair Peltier. Sie befand sich im Büro des Autopsiesaales und öffnete gerade einen Brief, der anscheinend ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Caulfield fühlte sich unzulänglich, unvorbereitet, zitterig. Heute waren routinemäßige Nachuntersuchungen und ein Treffen mit seinen neuen Kollegen im Büro des Gerichtsmedizinischen Instituts von Alabama in Mobile vorgesehen.

Dann hatte sie beiläufig vorgeschlagen, er sollte ihren Platz während der Untersuchung einnehmen.

Zuck

Caulfield fokussierte erneut die an der Decke angebrachte chirurgische Lampe. Auf dem Tisch lag die Leiche eines weißen Mannes in mittleren Jahren. Unter der Leiche rann Wasser, es klang, als würde ein kleiner Bach über Metall plätschern. Er schielte wieder hinüber zu Dr. Peltier: Sie studierte immer noch ihre Post. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, rückte zum dritten Mal seine Maske zurecht und betrachtete die Leiche. Würde ihm der Schnitt genau in der Mitte gelingen? Würde er gerade sein? Glatt? Würde er ihren Ansprüchen genügen?

Er holte tief Luft und zählte bis drei. Wie ein Vorhang öffnete sich der bläulich weiße Bauch zwischen Schambein und Brustbein. Sauber und gerade, eine Öffnung nach Lehrbuch.

Caulfield schaute wieder zu Dr. Peltier hinüber. Sie beobachtete ihn.

Zuck

Dr. Peltier lächelte und widmete sich wieder ihrer Post. Caulfield schob seine Angst in die hinterste Ecke seines Kopfes und konzentrierte sich auf die Untersuchung und Beurteilung der Organe. Seine Ergebnisse sprach er laut aus, ein Kassettenrekorder hielt sie für die spätere Abschrift der Berichte fest.

»Auf den ersten Blick scheint Größe und Stärke des Myokardgewebes normal zu sein. Zonen des Myokards in der linken Herzkammer lassen auf eine frühere Herzmuskelentzündung schließen ...«

Die vertrauten Anblicke und Worte ließen Caulfield sicherer werden; er bemerkte nicht einmal, wie das Zucken nachließ.

»... Leber fleckig, erste Anzeichen einer Zirrhose ... Nieren normal ...«

Nach einem Notruf war der Mann in seinem Vorgarten liegend gefunden worden. Obwohl die Rettungssanitäter, die einen Herzinfarkt vermuteten, alle Anstrengungen unternommen hatten, ihn wiederzubeleben, war der Mann bei seiner Ankunft im Universitätskrankenhaus tot gewesen. Caulfields erste Ergebnisse unterstützten die These eines massiven Herzinfarktes, das unbeschädigte Gewebe schien jedoch gesund und frei von Epikarditis und Arteriosklerose zu sein. Caulfield bewegte sich in der Öffnung weiter nach unten.

»Im Dickdarm ist eine Verstopfung festzustellen ...«

Caulfield kniff in den Klumpen im Gedärm. Hart und ebenmäßig, ein künstliches Objekt. Das war nicht ungewöhnlich, Notärzte hatten häufig mit Patienten zu tun, denen sie Vibratoren, Kerzen, Gemüse oder andere Gegenstände entfernen mussten. Auf der Suche nach sexueller Befriedigung waren die Menschen sehr einfallsreich.

»Vermittels einer Klinge Nummer zehn wurde ein zehn Zentimeter tiefer Schnitt durch die äußere Wand des Dickdarms vorgenommen ...«

Caulfield zog den Darm zurück, um die Ursache der Verstopfung freizulegen.

»Ein Gegenstand wird sichtbar, silbern und zylindrisch, ähnlich einem Taschenlampengehäuse ...«

Durch den Schlitz des Gedärms schimmerte feuchtes Metall, an einem Ende mit schwarzem Stoff umwickelt. Nein, nicht mit Stoff, sondern mit Isolierband. Caulfields Finger klopften vorsichtig auf das Gehäuse. Wie ein ungebetener Eindringling hatte der Gegenstand etwas Bedrohliches an sich.

Zuck

Er hörte, wie Dr. Peltiers Stuhl zurückgeschoben wurde und sich das Klackern ihrer hohen Absätze näherte. Sie musste seine Worte vernommen haben. Seine Finger glitten in die Öffnung und packten den Gegenstand. Vorsichtig zog er daran. Erst rutschte er leicht durch den Schlitz, dann blieb er hängen. Caulfield griff fester zu und zog kräftiger.

Zuck

Gleichzeitig: Ein weißer Blitz, ein dumpfer Knall. Caulfields Kopf wurde nach hinten geschleudert, er knallte mit dem Rücken auf den Boden. Roter Nebel und Rauch erfüllten die Luft. Der Schrei einer Frau drang durch das Tosen in seine Ohren. Über ihm schwenkte jemand einen stumpfen Stock, einen Knüppel.

Nein, das war kein Knüppel ...

Das Licht flackerte zweimal und erlosch.

Als der Bericht der Autopsie abgetippt wurde, war sich die Protokollantin Marie Manolo unsicher, ob sie die letzten sechs Worte von Dr. Caulfield vom Band übernehmen sollte. Von Dr. Peltier dazu ausgebildet, klinisch nüchtern und gründlich zu sein, schloss Marie kurz die Augen, holte tief Luft und fuhr dann mit dem Schreiben fort:

Meine Finger. Wo sind meine Finger?

Einer von Hundert

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