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KAPITEL 6

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Drei Stapel mit Fotos lagen auf seiner grünen Resopaltischplatte, ein großer, ein mittlerer und ein kleiner. Die einzigen anderen Gegenstände auf dem Tisch waren eine verchromte Schere und eine Lupe. Die Luft war heiß und stand drückend im Raum, aber er spürte es nicht. Genauso wenig hörte er den Verkehrslärm der nur eine Viertelmeile entfernten I-10 oder den Start- und Landebetrieb von Mobiles Flughafen. Er beschäftigte sich mit den Bildern, die äußerste Aufmerksamkeit beanspruchten.

Sie würden die Welt verändern.

Der größte, an die hinterste Tischkante geschobene Stapel enthielt die Ungebetenen, die Fotos lagen verkehrt herum, damit er sie nicht anschauen musste. Ausgezehrte Dürre oder fette Schweine mit verfilzten Mähnen oder übersät mit Narben. Die Ungebetenen waren widerliche Lügner, und er wusch sich jedes Mal die Hände, wenn er ihre Fotos berührt hatte.

Warum hatten sie sich um die Stellung beworben? Konnten die Ungebetenen nicht lesen? Seine Anweisungen, siebenundsechzig in drei Wochen sorgfältig gewählte Worte, waren äußerst präzise gewesen.

In der Mitte des Tisches lag ein kleinerer Stapel Fotos, die Möglichen. Breite, gebräunte Brustkörbe. Berge von Muskeln, Waschbrettbäuche. Aber alle wiesen gewisse Makel auf: nach außen gewölbte Nabel oder runzlige Brustwarzen. Einer hatte unnormal große Hände. Die Möglichen waren die Spieler auf der Ersatzbank, sie waren da, wenn sie gebraucht wurden, mussten aber hoffentlich nicht auflaufen.

Er wischte seine verschwitzten Hände an seiner Khakihose ab und griff nach dem Stapel, der am nächsten lag. Er bestand nur aus fünf Fotos: die Auserwählten, die Gesetzten. Von siebenundsiebzig Fotos hatten diese fünf die intensivste Überprüfung bestanden. Er ordnete die Auserwählten wie Fürbitter vor sich an und musterte sie vom Kinn bis zu den Knien.

Bis der Ton in seinem Kopf einsetzte.

Nicht schon wieder, bitte nicht schon wieder ...

Er lehnte sich zurück und presste seine Hände auf die Ohren. Sie hatte im Nebenraum zu singen begonnen. Er wusste, dass sie nicht wirklich da war, doch die Frau sang, wann und wie es ihr gerade passte. Er summte laut, um ihr Lied zu übertönen, aber das veranlasste sie nur, noch lauter zu singen. Die einzige Möglichkeit, ihr Singen zu beenden, bestand darin, seine Hose bis zu den Knien herunterzuziehen und das Unvermeidliche zu tun. Sein Hintern quietschte auf dem gewölbten Plastikstuhl, bis das Ding da unten die Unterseite des Tisches und den Boden befleckte.

Es dauerte zwei Minuten, ehe sie verstummte. In gesegneter Stille machte er seine Hose wieder zu und widmete sich dann am Waschbecken fünf Minuten seinen Händen: warmes Wasser, einseifen bis zu den Ellbogen, mit einer Bürste schrubben, abspülen und das Ganze von vorn. Danach trocknete er seine Hände mit einem frischen Handtuch und schmiss es in den Wäschekorb.

Er kehrte an den Tisch zurück und nahm ein Foto von den Auserwählten. Der abgebildete Mann stand grinsend und nackt vor einer cremefarbenen Wand, die Hüfte vorgeschoben, sein Geschlecht schamlos der Kamera zugewandt. Der Mann hatte ein Lächeln wie ein Schauspieler, die Zähne waren schneeweiß, es fehlte nur ein funkelnder Lichtreflex auf einem Schneidezahn. Als sie sich in dem Park getroffen hatten, hatte er breit gelächelt.

Der Mann am Tisch griff nach der Schere. Vorsichtig legte er das Foto zwischen die Schneiden, und nachdem er zugedrückt hatte, fiel der Kopf zu Boden. Er hob den Schnipsel auf, riss ihn in kleine Stücke und fegte sie von der Hand in die Toilette. Das letzte Stück, das von dem Wasserstrudel hinuntergespült wurde, war das weiße Lächeln.

Der Mann neigte seinen Kopf und lauschte nach ihrem Lied, aber sie schien eine Pause zu machen. Wahrscheinlich sammelte sie nur ihre Kräfte, die Zeit wurde knapp. Obwohl er außerordentlich vorsichtig gewesen war, spürte sie bestimmt, dass sich das Netz um ihn zuzog. Er ging wieder zum Tisch, nahm die Lupe in die Hand und betrachtete die Männer auf den restlichen Fotos – von Knie bis Kinn, von Kinn bis Knie. Das tat er so lange, bis er wusste, dass er die richtige Wahl traf.

»Ein Haufen Huren«, sagte Harry. »Rats back Rats back Rats back Rats back Rats Rats Rats Rats.« Ziellos kritzelte er auf seinem Block umher, riss dann die oberste Seite ab, knüllte sie zusammen und schnippte sie auf den immer größer werdenden Haufen Papierkugeln in der Mitte des runden Tisches. Zum Brainstorming waren die Tische im Flanagan’s zu klein, dachte ich. Die Beleuchtung war zu schwach. Der Lärmpegel zu hoch. Der Boden zu hölzern. Wenn sich keine Gedanken einstellten, lenkte mich alles ab.

»Achtmal rats«, sagte ich, dem Verzweifeln nahe. »Viermal mit back.«

Harry kritzelte auf dem neuen Blatt. »Acht Ratten. Eight rats. Ate rats? A-T-E? Gegessen?«

Ich dachte darüber nach. Zuckte mit den Achseln. Der Funke sprang nicht über.

»Das Anagramm von rats ist star, Stern«, fuhr Harry fort und malte Sterne. »Acht Sterne, vier Sterne mal zwei, Vier-Sterne-Restaurant, Vier-Sterne-Menü, zweimal so gut?«

Ich rieb mein Gesicht. »Wer zum Teufel hat die Huren entstellt?«

Die dritte Runde wurde serviert. Eloise Simpkins räumte die leeren Gläser ab, warf einen Blick auf meinen Block und zuckte zusammen. Ich hatte eine große Ratte gezeichnet.

»Igitt«, sagte sie und rümpfte ihre Nase wie eine Ratte.

Ich reckte meinen Hals und streckte mich. Das Flanagan’s war mäßig besucht, an die fünfundzwanzig Gäste waren da, ungefähr die Hälfte davon Cops. Die meisten saßen an der Theke oder an den Tischen davor. Harry und ich hatten uns vorne ans Fenster gesetzt, wo wir den Vorhang aufziehen und nach draußen sehen konnten, um uns inspirieren zu lassen. Ich öffnete den Vorhang. Der Regen fiel in so senkrechten Fäden, dass es auch von unten nach oben regnen könnte. Über die Straße flossen breite Rinnsale, durch die gelegentlich ein Auto spritzte. Auf der anderen Straßenseite befanden sich die Praxis eines Chiropraktikers, ein Pfandhaus und ein mit Brettern vernagelter Schnäppchenmarkt. Die Styroporverpackung einer Fast-Food-Kette trieb den Rinnstein entlang. Ich zog den Vorhang wieder zu.

»Der Tierkreis«, sagte Harry. »Acht Sterne. Gibt es da nicht eine Konstellation oder so etwas ...«

»Die Pleiaden«, antwortete ich. »Sieben Sterne. Die Sieben Schwestern.«

»Warum können es nicht die acht Ratten sein?« Harry machte eine weitere Papierkugel und rollte sie in die Mitte. Als ich Stiefel aus Alligatorenleder auf den Tisch zukommen sah, schaute ich auf und sah Bill Cantwell, einen höherrangigen Detective des zweiten Distriktes. Cantwell war ein schlaksiger, fünfundvierzigjähriger Mann, der aus Texas stammte und die Gnade seiner Geburt durch Röhrenjeans, bestickte Hemden und einen ins Gesicht gezogenen Stetson ausdrückte. Cantwell bemerkte meine Rattenzeichnung, formte mit seinen Händen einen Rahmen und tat so, als würde er Harry betrachten. »Das ist gut, Carson«, sagte er trocken. »Ein bisschen mehr Schnurrbart und du hast ihn genau getroffen.«

»Noch so ein Steinberg«, stöhnte Harry.

»Seinfeld«, korrigierte ich. Harry besaß zwar einen kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher, aber er hörte vor allem Musik.

»Habe gehört, ihr beide sollt diese Nelson-Sache nach Piss-it-Regeln bearbeiten«, sagte Cantwell und stellte seinen mit einer silbernen Spitze verzierten Stiefel auf den Stuhl neben Harry. »Erzähl mir noch mal, wofür Piss-it steht, Harry. Ich habe keine Lust, das ganze Handbuch durchzuackern, das Ding wiegt zehn Pfund.«

»Psychopathologisches und soziopathologisches Ermittlungsteam, Bill«, erwiderte Harry. »Aber Piss-it kann man sich leichter merken.«

Morgen wollten Harry und ich die Morddezernat-Typen vom zweiten Distrikt treffen, um Nelsons Wohnviertel in Augenschein zu nehmen und die Kneipen zu überprüfen, die er frequentiert hatte. Da der Mord in ihrem Revier stattgefunden hatte, waren die Leute dort eigentlich schon mitten in den Ermittlungen. Aber bei einer Piss-it-Ermittlung mussten die Informationen Harry und mir zugänglich gemacht werden, denn wir waren die einzigen Mitglieder des Teams.

Cantwell nickte langsam. »M einer Meinung nach macht es Sinn, dass Piss-it die Sache übernimmt. Abgeschnittene Köpfe und diese irren Botschaften, dieser Fall trägt ganz klar die Handschrift eines Verrückten. Die Kollegen werden etwas maulen, weil es zusätzlichen Papierkram bedeutet. Aber wir haben kein Problem damit, selbst wenn Squill eins hat.«

»Was willst du damit sagen, Bill?«, fragte Harry. »Squill hat ein Problem?«

»Er war heute Nachmittag bei uns und hat den Lauten gemacht, mehr nicht. Wir müssten nicht wirklich kooperieren, wenn wir nicht wollten, so was in der Art.« Cantwell stocherte zwischen seinen Schneidezähnen herum und schnippte etwas Ungewolltes auf den Boden. »Ich habe so das Gefühl, der gute Captain Squill ist nicht wirklich ein Piss-it-Fan.«

Harry hob eine Augenbraue.

»Keine Sorge, Harry. Wir werden uns nach den Piss-it-Regeln richten. Wir sind dabei, solange wir nichts anderes hören.«

Cantwell klopfte mit den Knöcheln auf den Tisch und verschwand dann wieder zu seiner Gruppe. Ich schaute Harry an. »Warum sticht Squill seine Finger in unsere Augen?«

Harry zuckte mit den Achseln. »So ist Squill nun mal. Wir haben Augen und er hat Finger.«

Nachdem es mehr zerknülltes Papier als Platz zum Arbeiten gab, machten wir Feierabend, und als wir nach draußen gingen, kam gerade Burlew in seinem grauen, einem durchnässten Zelt gleichenden Regenmantel herein. Während Harry schon auf der Straße war, kam mir Burlew in dem engen Vestibül zwischen äußerer und innerer Tür entgegen. Ich nickte und machte ihm Platz, doch er machte einen Ausfallschritt und schubste mich gegen die Wand. Ich drehte mich um, um zu sehen, ob er betrunken war, doch mittlerweile war er schon im Lokal und kaute mit einem feisten Lächeln auf seinem Puppenbabymund den obligatorischen Fetzen Papier.

Am nächsten Morgen wurden wir in Squills Büro gerufen. Er telefonierte gerade und nahm keine Notiz von uns. Wir saßen auf harten Stühlen vor seinem penibel aufgeräumten Schreibtisch und betrachteten seine angeberische Bildergalerie. Wenn irgendein berühmter Politiker oder Gesetzeshüter in die Nähe von Alabama oder den Nachbarstaaten gekommen war, war Squill mit ausgestreckter Hand und gebleckten Zähnen vor Ort gewesen. Nachdem er fünf Minuten zugehört und gelegentlich gebrummt hatte, legte Squill den Hörer auf und drehte sich mit seinem Stuhl zum Fenster, sodass er uns den Rücken zukehrte.

»Erzählen Sie mir von dem Nelson-Fall«, befahl er dem Himmel.

»Alles noch ziemlich unübersichtlich«, sagte ich. »Gestern haben wir mit seiner Tante gesprochen, Billie Messer ...«

»Ich spreche mit dem dienstälteren Detective, Ryder. In diesem Büro warten Sie gefälligst, bis Sie gefragt werden.«

Ich spürte, wie mein Gesicht vor Wut rot anlief und sich meine Fäuste von allein ballten. Squill sagte: »Noch einmal von vorn. Wie gehen die Ermittlungen im Nelson-Fall voran?«

Harry schaute mich an, verdrehte die Augen und wandte sich an Squills Hinterkopf.

»Wir haben mit seiner Tante gesprochen, Billie Messer, und mit ein paar anderen Leuten. Sie bestätigen Nelsons kleinkriminelle Randexistenz, die seine Vorstrafenliste nahe gelegt hatte. Er hat die Menschen ausgenutzt. Wir haben eine ehemalige Freundin befragt, diejenige, die ihn angezeigt hatte. Eine verwirrte Frau, die noch immer zärtliche Gefühle für Nelson hegt, aber im Grunde hat sie das Gleiche ausgesagt. Heute treffen wir uns mit den Kollegen vom zweiten Distrikt, um unsere erneute Überprüfung ...«

Squill wirbelte zu uns herum. »Nein«, blaffte er. »Das werden Sie nicht.«

Harry sagte: »Entschuldigen Sie, Captain?«

»Sie werden gar nichts tun. Ich habe mit dem Chief gesprochen, und er ist wie ich der Auffassung, dass dies kein Psychofall ist. Er stinkt nach einem schwulen Rachemord. Wir schicken die Akte zurück an den zweiten Distrikt. Ihre Beteiligung an den Ermittlungen im Nelson-Fall ist offiziell beendet.«

Ich stützte meine Hände auf die Knie und beugte mich vor. »Und wenn es sich nicht um Rache handelt, sondern um den Beginn einer Mordserie?«

»Ich rede nicht, um mir selbst zuzuhören. Einspruch abgewiesen.«

»Der Mord passt nicht in ein Rachemuster. Ich habe ...«

»Haben Sie mich nicht verstanden?«

»Lassen Sie mich ausreden, Captain. Noch haben wir nicht genügend Informationen, um zu entscheiden, ob es ein ...«

Squill drehte sich wieder zum Fenster um. Er sagte: »Schaffen Sie ihn hier raus, Nautilus. Ich habe zu tun.«

Ich schüttelte den Kopf, noch ehe wir auf den Flur traten. »D as ergibt doch keinen Sinn. Warum entzieht er uns den Fall, bevor wir uns einen Überblick verschafft haben? Wir haben noch gar nicht die Information, um zu entscheiden, ob es ein PSET-Fall ist oder nicht. Was juckt dem in der Hose?«

Harry sagte: »Ich habe heute Morgen ein bisschen frische Milch bekommen.«

»Dann schütte sie aus.«

»Erinnerst du dich an das Gerücht, dass Chief Hyrum nächstes Jahr in Ruhestand geht?«

»Er holpert und stolpert, hast du gesagt.«

Harry seufzte. »Das hätte ich niemals gesagt, es passt überhaupt nicht. Ich sagte, er rollt und trollt sich. Nur tut er das nicht erst nächsten Sommer, sondern schon diesen September.«

»In zwei Monaten«, sagte ich. »Also muss das Hauen und Stechen in doppelter Geschwindigkeit vonstatten gehen?«

Harry nickte. »Spann den Regenschirm auf, es wird Blut spritzen.«

»Aber das geht uns doch nichts an, oder? Hast du mir jedenfalls gesagt.«

»Und du hast mir gesagt, dass die einzige Konstante im Leben die Veränderung ist, Bruder. Es gibt zwei Stellvertreter, die sich um den Job des Polizeipräsidenten prügeln: Belvidere und Plackett. Squill hat sich bei Plackett eingeklinkt und ist ihm schon seit Jahren in den Arsch gekrochen. Sollte sich die Kommission für Plackett als Chief aussprechen, dann rate mal, wer auf den Posten des Stellvertreters rutscht?«

Mein Magen rumorte. »Squill?«

Harry gab mir einen Klaps auf den Rücken. »Jetzt kapierst du langsam die Zusammenhänge, Carson. Genau wie Squill ist Plackett eher Politiker als Polizist. Der Kerl kann sich nicht allein die Schuhe binden, aber er weiß, wie man mit den Medien spielt. Squill hat ihn ein bisschen darin geschult, wie man sich vor den Kameras bewegt und Geschichten serviert. Belvidere dagegen ist ein echter Bulle. Er hat seinen Job von der Pike auf gelernt, aber eine Ausstrahlung wie ein Stück Brot. Bei dem Auswahlprozess der Polizeikommission kommen eine Menge Faktoren zum Tragen, aber erinnere dich daran, wessen Idee PSET war ...«

»Belvideres«, sagte ich. »Plackett war dagegen.«

»Wahrscheinlich auf Anraten von Squill«, ergänzte Harry. »Und jetzt denk die Sache mal weiter.«

»Wenn wir Erfolg haben, steht Belvidere gut da, wodurch Plackett an Ansehen verliert, was ungünstig für Squill ist?«

»Hokuspokus«, frohlockte Harry. »Und was sagt Fidibus?«

Ich verdrehte die Augen. »Geht’s nicht ein bisschen verständlicher, Harry?«

»Denk mal scharf nach. Führ den Gedanken noch einen Schritt weiter.«

Ich dachte nach. »Der beste aller möglichen Fälle für Squill wäre, wenn das gesamte Konzept von PSET im Mobile River untergehen würde, richtig?«

Wir kamen an Linette Bowling vorbei, Squills uncharmanter, eselsgesichtiger Sekretärin. Harry schnappte aus der Vase auf ihrem Schreibtisch ein paar Blumen mit hängenden Köpfen und reichte sie mir.

»Du bist großartig, wenn du endlich im Bilde bist, Carson.«

»Nautilus, du Arschloch«, wieherte Linette hinter uns her. »Gib mir die Scheißblumen zurück.«

Einer von Hundert

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