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KAPITEL 2

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Die Techniker der Spurensicherung bauten Scheinwerfer auf, die genug Watt hatten, um einen Jumbojet einzuweisen, und richteten sie auf ein zwanzig Quadratmeter großes, mit mannshohen Büschen durchzogenes Areal aus. Bäume umgaben uns und verdeckten die meisten Sterne. Unter jedem Schritt lauerte Hundescheiße. Ungefähr acht Meter entfernt teilte ein gewundener Betonweg den Park in zwei Teile. Dort, wo der Park an die Straße mündete, versammelten sich immer mehr Schaulustige vor dem Zaun, darunter eine an einem Taschentuch nestelnde alte Frau, ein Händchen haltendes junges Paar und ein paar schweißtriefende, von einem Fuß auf den anderen hüpfende Jogger.

Innerhalb der abgesperrten Zone arbeiteten zwei Kriminalisten, einer kniete über dem Opfer, der andere stocherte am Wurzelwerk eines Baumes herum. Harry trottete hinüber zu den Schaulustigen, um nach Zeugen zu fragen. Ich blieb am gelben Absperrband stehen und betrachtete den Tatort aus vier Metern Entfernung. Wie ein Schlafender lag die Leiche flach ausgestreckt mit dem Rücken im Gras, die Beine leicht gespreizt, die Arme angelegt. In dem unbarmherzigen Licht, das die Farben zu hell und die Kanten zu scharf zeichnete, wirkte die Szene surreal: Der Mann schien unvollständig aus einer anderen Welt getrennt und in diese eingefügt worden zu sein. Er trug legere, einer Frühlingsnacht angemessene Kleidung: Jeans ohne Gürtel, graue Laufschuhe, weißes T-Shirt mit einem »Old Navy«-Logo. Das Hemd war bis zu den Brustwarzen hochgezogen, der Reißverschluss der Jeans geöffnet.

Über die Leiche gebeugt war der ranghöchste Beamte der Spurensicherung, Wayne Hembree. Schwarz, fünfunddreißig Jahre alt und dünn wie armer Leute Bruder hatte Hembree ein Mondgesicht und an den Seiten und am Hinterkopf hinabfallende Haarfransen. Er wippte zurück auf seine Absätze und warf die Haarwellen von seiner Schulter. Seine Stirn glänzte vor Schweiß.

»Ist es okay, wenn ich hier langgehe, Bree?«, rief ich und deutete auf eine Linie zwischen meinen Schuhen und der Leiche. Ich wollte nicht in irgendetwas Wichtiges treten. Ganz zu schweigen von der Hundescheiße. Hembree nickte und ich schlüpfte unter dem Absperrband hindurch.

Ich musste an die Worte eines alten Streifenpolizisten denken, der schon alles im Dschungel der Innenstadt gesehen hatte. »Einen Kopf ohne Leiche zu finden, ist unheimlich, Ryder«, hatte er mir einmal erzählt, »aber irgendwie hat das etwas Stimmiges. Eine Leiche ohne Kopf zu finden, ist gleichzeitig beängstigend und traurig – so ganz allein, weißt du?« Als ich auf die Leiche schaute, verstand ich, was er meinte. In den drei Jahren bei der Polizei von Mobile hatte ich Erschossene gesehen, Erstochene, Ertrunkene, bei Autounfällen Verstümmelte, eine Leiche, der die Gedärme herausquollen, aber noch nie eine Leiche ohne Kopf. Der alte Polizist hatte es getroffen: Diese Leiche war so allein wie der erste Tag der Schöpfung. Ich erschauderte und hoffte, dass es niemand sah.

»Ist er hier ermordet worden?«, fragte ich Hembree.

Er zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ich kann nur sagen, dass er enthauptet worden ist, wo er jetzt liegt. Vor zwei oder drei Stunden, glauben die Mediziner. Damit liegt die Todeszeit zwischen acht und zehn Uhr.«

»Wer hat es gemeldet?«

»Kinder, Teenager. Die hatten hier ihre Verabredung und ...«

Schritte hinter mir. Captain Squill und sein massiger, allgegenwärtiger Schatten, Sergeant Earl Burlew. Burlew kaute wie immer Papier. In seiner Tasche bewahrte er eine Seite des Mobile Register auf und steckte sich Schnipsel zwischen seine puppengroßen Lippen. Ich wollte schon immer mal fragen, ob es einen Unterschied zwischen den einzelnen Teilen gab, ob der Sportteil vielleicht mehr nach Wild schmeckte als der Leitartikel. Oder schmeckten alle Seiten nach Huhn? Aber wenn ich dann Burlews winzige, austernfarbene Augen sah, dachte ich mir immer, ich frage ihn lieber ein anderes Mal.

»Schauen Sie mal, wer hier ist, Captain«, sagte Burlew, »Folgers löslicher Detective. Nur Schlagzeilen dazugeben und umrühren.« Er wischte mit einer Hand über sein schwitzendes Gesicht. Burlews zentrierte Züge waren zu klein für seinen Kopf, für einen Augenblick verschwand er hinter seiner eigenen Hand.

»Rachemord unter Schwulen«, sagte Squill und schaute auf die Leiche. »Die hacken doch gerne, oder? Idealer Ort dafür, nachts ist im Park tote Hose. Das ist eine Yuppie-Gegend. Die Stadträtin Philips wohnt zwei Blocks weiter. Damit sie ihre Ruhe hat, fahren hier ständig Streifenwagen rum.«

Ich hatte schon gehört, dass Squill für jedes Publikum eine spezielle Redeweise auf Lager hatte. Wenn uniformierte Polizisten in der Nähe waren, redete er wie in einem Polizeifilm. Es war ernüchternd, dachte ich, dass ein ranghoher Polizist mit siebzehn Dienstjahren den Bullen spielte, anstatt einfach einer zu sein.

»... der Mörder haut dem Opfer auf die Nuss oder knallt ihm in die fresse. Der Täter zieht sein Messer und schneidet den Kopf ab.« Squill zeigte auf die Büsche um uns herum. »Unsub lädt ihn hier ab, damit die Leiche außer Sichtweite ist.«

Ich unterdrückte den inneren Zwang, meine Augen zu verdrehen. Unsub war die Kurzform für »unbekanntes Subjekt«, häufig benutzt von den Typen vom FBI. Unsub war FBI-Jargon.

»Er wurde hier getötet und geköpft?«, fragte ich.

»Haben Sie was an den Ohren, Ryder?«, meinte Squill.

Obwohl die Leiche teilweise unter einem Busch mit kleinen weißen Blüten lag, war sie nicht von Blütenblättern bedeckt. Direkt vor der Absperrung gab es die gleichen Büsche. Ich ging hinüber und ließ mich hineinfallen.

»Was macht der denn da für einen Scheiß?«, blaffte Squill.

Ich stand auf und beobachtete, wie die Blütenblätter von meinem Hemd rutschten. Hembree schaute von mir zur Leiche.

»Wenn das Opfer in die Büsche gefallen ist, müsste es mit Blüten bedeckt sein, aber ...« Er betrachtete die Leiche und den Boden. »Blüten liegen um die Leiche herum, aber nicht auf ihr. Der Täter hat die Zweige zur Seite gebogen, damit nichts auf die Leiche fällt. Vielleicht ist unser Freund hier in die Büsche gezogen worden.«

Ich schaute tiefer in die Vegetation hinein. »Oder herausgezogen.«

»Absurd«, sagte Squill. »Warum sollte die Leiche aus dem Versteck gezogen werden?«

Hembrees stämmiger Assistent holte eine Taschenlampe hervor und bückte sich unter die Büsche. »M al sehen, was da drinnen zu finden ist.«

Squill starrte mich zornig an. »Das Unsub hat dem Opfer hier aufgelauert und die Leiche unter dem Busch versteckt, Ryder. Und wenn nicht ein paar geile Teenies vorbeigekommen wären, dann wäre sie versteckt geblieben, bis sie zu stinken begonnen hätte.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob die Leiche versteckt worden ist«, erwiderte ich und legte meine hohlen Hände wie Scheuklappen an die Augen, um das Licht der Scheinwerfer abzublocken und durch Eichenzweige und spanisches Moos zu einer fünfzehn Meter entfernten, hellen Straßenlaterne zu schauen. Ich hockte mich neben die Leiche und sah die Straßenlaterne von den Zweigen eingerahmt.

»Können wir das Licht ausmachen?«, fragte ich.

Squill schlug sich theatralisch gegen den Kopf. »Nein, Ryder. Wir haben hier zu arbeiten und das können wir nicht mit weißen Kerzen und Blindenhunden.« In Erwartung beifälligen Gelächters schaute er zu den Uniformierten, aber sie starrten auf die Straßenlaterne.

»Wir können die Lichter danach ja wieder einschalten«, sagte Hembree.

Squill hatte keine Kontrolle über die Techniker, was er hasste. Er drehte sich um und flüsterte Burlew etwas zu. Ich war mir sicher, dass Squills Lippen das Wort Nigger formten.

Hembree wandte sich an einen Assistenten im Van der Spurensicherung. »Sag den Leuten in den Streifenwagen, sie sollen ihre Lichter ausmachen. Und dann schalte die Strahler ab.«

Unsere Augen brauchten ein paar Sekunden, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann sah ich, was ich vermutet hatte: Ein schmaler Strahl der Straßenlaterne schien durch die Zweige und zwischen zwei große Büsche und beleuchtete die Leiche wie ein Scheinwerfer.

»Sie ist nicht versteckt«, sagte Hembree und überprüfte die Blickwinkel. »Jedem, der auf dem Weg um die Kurve kommt, sticht sie direkt ins Auge. Mit dem weißen Hemd kann man sie gar nicht übersehen.«

»Spekulativer Schwachsinn«, meinte Squill.

Der Techniker, der durch die Büsche krabbelte, rief: »Hier sind frische Blutspuren. Bringt mir die Ausrüstung und eine Kamera.«

»Im Dunkeln abgelegt und dann ins Helle gezogen«, sagte Hembree und zwinkerte mir zu. Die uniformierten Beamten nickten zustimmend. Als die Scheinwerfer wieder angingen, waren Squill und Burlew verschwunden.

Ich vollführte ein Tänzchen wie an der Endzone beim Baseball, schlug einen unsichtbaren Ball und hob meine Hand, um mit Harry abzuklatschen. Er rammte seine Baseballhandschuhe in die Taschen, knurrte »Komm mit« und marschierte davon.

Harry Nautilus und ich hatten uns vor drei Jahren im Staatsgefängnis von Alabama kennen gelernt; als Besucher, nicht als Insassen. Ich war von Tuscaloosa hergefahren, um im Rahmen meiner Diplomarbeit in Psychologie ein paar Häftlinge zu interviewen. Harry war aus Mobile gekommen, um Informationen aus einem Insassen herauszuholen, dessen Halsschlagader leider ein paar Stunden vorher aufgeschlitzt worden war. Harrys Tag war verdorben gewesen. Er kam mir in einem engen Flur entgegen, unsere Ellbogen stießen aneinander, sein Kaffee wurde verschüttet. Er betrachtete meine Kleidung – Jeanshose und Jeansjacke, eine verspiegelte Sonnenbrille mit roter Fassung, ausgeblichene Baseballkappe über einem selbst zugefügten Haarschnitt – und fragte einen Wächter, wer diesen langen, dämlichen Dorftrottel aus seiner Zelle gelassen hatte. Ich hatte gerade zwei Stunden mit einem angeberischen Päderasten hinter mir und übertrug meine unterdrückte Aggression auf Harrys Nase. Zwei lachende Wächter brachten uns auseinander, als er mir an die Gurgel ging.

Danach starrten wir beide betreten zu Boden und kamen uns lächerlich vor. Aus hingenuschelten Entschuldigungen wurden Erklärungen, warum wir beide an diesem Tag im Gefängnis waren und was uns dazu gebracht hatte, das Temperament von missgestimmten Pitbulls anzunehmen. Die Dummheit machte einem Lachen Platz und wir beendeten den Tag mit ein paar Drinks an der Bar von Harrys Motel. Nach einigen Runden begann Harry Anekdoten aus dem Polizeialltag zu erzählen, die mich amüsierten und faszinierten. Ich konterte mit Erzählungen aus meinen jüngsten Interviews mit den herausragenden Psychopathen und Soziopathen des Südens.

Harry tat meine Interviews mit einer Handbewegung ab. »Hinter jeder Ausgeburt dieser kaputten Roboter steht ein Größenwahnsinniger, der sich gebauchpinselt fühlt, wenn er reden darf. Reporter, Seelenklempner, Studenten wie du – die Verrückten erzählen ihnen alles, was sie hören wollen. Für die ist es ein Spiel.«

»Kennen Sie den Albert-Mirell-Fall, Detective?«, fragte ich und bezog mich dabei auf den psychopathischen Pädophilen, mit dem ich die grausamen zwei Stunden verbracht hatte.

»Sein letzter Mord hat in Mobile stattgefunden, Studiosus, erinnerst du dich? Wenn du mit Mirell gesprochen hast, ist dir nur ein dämliches Grinsen und Schwachsinn aufgetischt worden. Richtig?«

Ich senkte meine Stimme und erzählte Harry, was mir Mirell offenbart hatte, während Speichel aus seinem Mund getropft war und er unter dem Tisch die Hände geknetet hatte. Harry beugte sich so weit vor, dass sich unsere Köpfe fast berührten. »Es gibt vielleicht zehn Leute auf der Welt, die von diesem Zeug wissen«, flüsterte er. »Was geht hier ab, Mann?«

»Ich schätze, ich habe Mirell einfach dazu gebracht zu reden«, sagte ich und tat so, als wäre das ein Kinderspiel gewesen.

Harry studierte ausgiebig mein Gesicht.

»Lass uns in Kontakt bleiben«, meinte er.

Damals lebte meine Mutter noch und ich war ein armer Student an der Universität von Alabama. Dennoch fuhr ich alle paar Wochen nach Mobile oder Harry machte sich auf den Weg nach Tuscaloosa. Wir bestellten uns Huhn und sprachen über seine sich auflösende Ehe oder mein schwindendes Interesse am Studium nach sechs Jahren und vier Studiengängen. Wir diskutierten Aspekte von Fällen, die ihm zu schaffen machten, oder sprachen über meine verrückteren Interviews. Manchmal saßen wir stumm da und hörten Blues oder Jazz, was auch in Ordnung war. Das ging etwa drei Monate so. Eines Abends bemerkte Harry, dass meine Mahlzeiten zu Hause für gewöhnlich aus Bohnen und Reis bestanden und dass ich unter den Sofakissen nach Kleingeld suchen musste, wenn ich irgendwo ein Bier trinken wollte.

»Der Lehrbetrieb ist nicht gerade eine hoch bezahlte Branche, oder?«, fragte er.

»Im Grunde eine Branche ohne Bezahlung«, korrigierte ich ihn. »Aber woanders gibt es auch keine freien Stellen.«

»Vielleicht wirst du eines Tages ein berühmter Seelenklempner, Carson Freud, und kutschierst mit einem dicken, alten Benz herum.«

»Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass ich auf einer Bohrinsel mit den Rohren herumkutschiere«, sagte ich. »Warum?«

»Ich denke, du würdest einen guten Polizisten abgeben«, sagte Harry.

Zehn Minuten nachdem wir den Park verlassen hatten, folgte ich Harry an einen hinteren Tisch in der Cake’s Lounge, eine dunkle Spelunke für Heruntergekommene, eingezwängt zwischen Fabriken und Lagerhäusern nahe der Bucht. An der Theke tranken ein paar abgerissene Einzelgänger, ein paar andere hockten an Tischen. Zwei taumelnde Männer spielten Pool.

»Warum hier, warum gehen wir nicht ins Flanagan’s?«, fragte ich und rümpfte die Nase. Im Cake’s stank es, als wäre die Luft seit einer Dekade nicht ausgewechselt worden, das Flanagan’s dagegen servierte billige Drinks und eine anständige Gumbo und zog eine Menge Cops an.

»Squill könnte dort sein, und über Squill müssen wir reden. Das war ein dämlicher Taschenspielertrick mit den Blumen und den Lichtern. Warum wolltest du ihn vor allen anderen übertrumpfen?«

»Ich wollte niemanden übertrumpfen, Harry, ich habe ermittelt. Wir haben einen Kerl ohne Kopf und Squill wollte den großen Macker markieren. Was hätte ich tun sollen?«

»Vielleicht nicht so ein Theater veranstalten, sondern Squill die Dinge so unterbreiten, dass er glaubt, es wäre seine Idee gewesen. Wofür hast du eigen dich Psychologie studiert?«

»Ideen in Squills Kopf zu beamen wäre Parapsychologie, Harry, eines der wenigen Fächer, in denen ich nie eingeschrieben war.«

Harry kniff ein Auge zusammen. »Squill ist ein machtbesessener Hai, Carson. Wenn du dir ihn zum Feind machst, wird von dir nichts übrig bleiben als ein roter Fleck auf dem Wasser.«

Ich stellte eine Frage, die mir jetzt schon seit fast einem Jahr durch den Kopf ging. »Wie wird so ein Schleimscheißer wie Squill überhaupt Leiter der Kriminalabteilung?«

Mittlerweile weiß ich, dass ich mich mal wieder begriffsstutzig anstelle, wenn Harry die Hände vors Gesicht schlägt. »Carson, du bist wirklich wunderbar, mein unschuldiger Engel. Du hast wirklich keine Ahnung, oder?«

»Pervertierte Quotenregelung?«

»Du, Carson. Du hast Captain Terrence Squill dahin gebracht, wo er heute ist.«

Harry stand auf und nahm die Flaschen vom Tisch. »Ich besorg uns noch eine neue Runde und dann werde ich dir eine kleine Geschichtsstunde geben, Bruder. Du siehst aus, als könntest du eine gebrauchen.«

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