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Achtsamkeit

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Zunächst müssen wir lernen, es uns mit dem Unbehagen behaglich zu machen.

Achtsamkeit bedeutet nicht, die Gedanken zu bereinigen, sondern einfach auf unvoreingenommene Weise wahrzunehmen, was geschieht. Am schwersten fällt es, das eigene Verhalten und eigene Gewohnheiten zu identifizieren, weil uns unser Verhalten so vertraut ist, dass es normal erscheint. Ein Perfektionist kann zum Beispiel feststellen: „Unglaublich! Ständig muss ich alles beurteilen und beherrschen. Was für ein Albtraum! Ich sollte wirklich damit aufhören und freundlicher sein.“ Dabei hat er noch nicht einmal bemerkt, wie grob er in diesem Szenario mit sich selbst umgeht. Stattdessen beurteilt er sich selbst für seine Gewohnheit der Beurteilung, was im Prinzip seinen eigenen Selbstwert verringert und seine Gewohnheit der Beurteilung weiter verstärkt.

Als weiteres Beispiel kann sich der Ko-Abhängige begeistert auf Vergebung stürzen, um sich dann letztlich über sich selbst zu ärgern, weil es ihm nicht möglich ist, der Person zu vergeben, die ihn wie Dreck behandelte. Anders gesagt: Er ist zwar bereit, anderen zu vergeben, kann aber nicht sich selbst für seine eigenen Gefühle vergeben.

Achtsamkeit macht uns unsere regulären Denkmuster bewusst, sodass wir erkennen können, wie wir denken. Es ist nicht das Ziel zu versuchen, unliebsame Gedanken oder Gefühle zu stoppen, sondern deren Existenz tatsächlich zuzulassen – ohne diese zu beurteilen, zu verändern oder zu vermeiden. Dadurch können wir ein freundschaftliches, ungewöhnliches Verhältnis zu den Dingen aufbauen, die in unserem Körper und Geist vor sich gehen, selbst zu jenen, die furchtbare Empfindungen auslösen.

Angstbasiertes Denken stellt uns vor die Herausforderung, dass unser Verstand in diesen extra-starren, analytischen Denkmodus umschaltet, der weitere solche Gedanken auslöst. Das ist vergleichbar mit einer Endlosschleife. Wir sagen zum Beispiel: „Schluss jetzt, ihr fiesen Gedanken“ und reagieren dann enttäuscht oder ängstlich, wenn diese Gedanken nicht verschwinden, wodurch letztlich weitere fiese Gedanken aufkommen.

Wenn wir – wie einem Freund – den seltsamen Gedanken sanftmütig, geduldig und gütig gegenübertreten, beginnen sich die Dinge zu entspannen. Auf diese Weise durchbrechen wir die Feedbackschleife. Und wenn wir obendrein nett zu uns selbst sind und eine Stimme zu uns sagt: „Das ist dumm, es ist geschwindelt, du machst das nur, um der eigentlichen Wahrheit, dass du schlecht bist, nicht ins Auge sehen zu müssen“, dann können wir auch diese Stimme zulassen. Je behaglicher wir uns mit dem Unbehagen fühlen, desto eher wird sich das Unbehagen uns gegenüber offenbaren.

Oft nehmen wir einen Teil unseres Selbst als fehlerhaft oder verrückt oder bösartig wahr und verstecken diesen Teil vor Freunden, der Familie und sogar Therapeuten. Denn wenn andere glauben, wir sind gut, dann glauben wir, dass wir gut sind. Das ist vergleichbar mit einem Besuch im Fitnessstudio und dem Vortäuschen eines Trainings, damit andere denken, wir sind körperlich gesund. So sinnlos ist das in Wirklichkeit. Achtsamkeit verlangt von uns hundertprozentige Ehrlichkeit gegenüber uns selbst sowie gegenüber dem seltsamen Verhalten und den seltsamen Gedanken, die wir verdrängen. Wir müssen daran denken, alles zuzulassen. Wir müssen nicht so tun, als fühlten wir uns gut oder normal, wenn eine Stimme mit uns meckert, dass es nicht so ist. Im Prinzip ist genau das die Stimme, mit der wir in Verbindung treten müssen.

Dieses Gefühl der inneren Fehlerhaftigkeit kann durch verschiedene Menschen oder Erlebnisse ausgelöst werden. Deshalb versuchen wir, trotz dieses Gefühls normal und unbeeindruckt zu wirken, denn wir wollen normal sein. Aber genau das ist das Gefühl, das wir erkunden möchten. Bei unserem Heilungsprozess geht es nicht um das Wahren des Scheins oder die Sicherstellung externer Validierung. Es geht auch nicht darum, die erschreckende innere Stimme zu ersticken oder davon abzulenken, sondern sie zuzulassen, damit wir sie endlich erkunden und entwaffnen können.

Sobald wir beginnen, unser eigenes Verhalten zu begreifen, dringen wirklich schwierige, schmerzhafte Gefühle an die Oberfläche. Diese Gefühle gewinnen die Oberhand und überzeugen uns, dass sie die Wahrheit sind. Achtsamkeit gestattet, dass wir zwar deren Existenz bestätigen, aber nicht zwangsläufig deren Wahrheitsgehalt, sodass wir diesen Schmerz weiter erleben, aber nicht länger davon aufgezehrt werden oder uns davon ablenken müssen. Im Grunde entwickeln wir ein freundschaftliches, ungewöhnliches Verhältnis zu unseren eigenen Gefühlen (insbesondere den „schlechten“).

Der Ansatz in Bezug auf Achtsamkeit und Meditation ist oft der gleiche: „Ich denke an Kätzchen und Regenbogen, an die Heilung und Aufarbeitung meiner Vergangenheit, an die Liebe, die mein inneres Kind erfährt, es ist alles so wunderschön, dass ich weine.“ Doch dann stellt sich langsam dieses schreckliche Gefühl ein und der Betroffene denkt: „Was zum Teufel … Ich praktiziere Achtsamkeit, warum geht es mir jetzt schlechter?“ Weil es in unserem Inneren keine Kätzchen und Regenbogen gibt. Es ist ein unerträgliches Gefühl, das wir seit dem Moment, als es in unseren Körper eindrang, unterbewusst vermeiden.

Sprache hilft uns, die Gefühle zu identifizieren, die beim Praktizieren von Achtsamkeit aufkommen. Wer an einem Trauma oder einer psychischen Störung leidet, erkennt seine wahren Gefühle möglicherweise gar nicht, weil er daran gehindert wird, diese zu empfinden. Es ist bekannt, dass Menschen oft verdrängte Erinnerungen hüten, die in einer Therapie zum Vorschein kommen. Stellen wir uns diese Erinnerungen als verdrängte Gefühle vor. Wenn wir diese Gefühle kennenlernen und uns auf deren Wahrnehmung vorbereiten, erscheinen sie längst nicht so erschreckend. Langsam gelingt uns die Transformation von „mein Körper fühlt sich benommen oder seltsam an“ hin zur Verwendung von Sprache, um die tatsächlichen Gefühle zu identifizieren.

Gefühle sind weitaus komplizierter und lassen sich nicht einfach mit glücklich oder traurig beschreiben. Ich garantiere, dass wir uns in Bezug auf komplexe Traumata und Persönlichkeitsstörungen (die wir selbst oder eine nahestehende Person erleben) ziemlich wahrscheinlich mit folgenden Gefühlen auseinandersetzen müssen:

•Unzulänglichkeit: Ich genüge nicht. Andere sind besser als ich.

•Ablehnung: Ich und meine Gefühle sind unerwünscht.

•Nicht liebenswert: Niemand könnte mich so lieben, wie ich bin.

•Angst: Jemand (oder etwas) ist gefährlich oder schädlich.

•Ressentiment: Empörung über eine ungerechte Behandlung.

•Eifersucht: Neid auf Erfolg oder Glück einer anderen Person.

•Wertlosigkeit: Ich bin nicht wirklich etwas wert und verdiene Verachtung.

•Schuldgefühl: Ich habe etwas falsch gemacht oder Schlechtes getan.

•Scham: Ich (oder meine Gefühle) bin (sind) falsch oder schlecht.

•Machtlosigkeit: Ich kann eine Situation nicht beeinflussen oder kontrollieren.

•Leere: Ich bin nicht real, etwas fehlt, ich existiere nicht.

Es gibt unzählige großartige Ressourcen zum Thema Achtsamkeit, ich erfinde das Rad hier also nicht neu. Wärmstens empfehlen kann ich folgende Bücher von Tara Brach: Mit dem Herzen eines Buddha: Heilende Wege zu Selbstakzeptanz und Lebensfreude sowie Nach Hause kommen zu sich selbst: Im erwachten Herzen Zuflucht und Geborgenheit finden und das Buch von Michael Singer: Die Seele will frei sein: Eine Reise zu sich selbst.

Das wichtigste Mantra, das bei der Lektüre meines Buches stets wiederholt werden sollte, lautet:

Mehr Körper, weniger Geschichte.

Die vorgegebene Schutzreaktion der Psyche besteht in dem Fokus auf die Geschichte. Wer ein Trauma verarbeitet, kann seine Geschichte oftmals millionenfach erstaunlich detailreich wiedergeben. Mit Achtsamkeit wollen wir von der Geschichte abrücken und uns auf die Gefühle in unserem Körper konzentrieren. Im Zuge dessen erschaffen wir vielleicht Geschichten mit einem auf dem betreffenden Gefühl („Ich muss dieses Gefühl wahrnehmen, weil in meiner Kindheit X geschehen ist oder wegen der Beziehung Y“). Auch in diesem Fall nutzen wir nur unsere Achtsamkeit, um uns dieses Geschichtenerzählens bewusst zu werden und uns langsam an ein Körperbewusstsein heranzutasten.

In seinem Buch Der Weg des Menschlichen. Multidimensionale Bewusstheit entwickeln. Notizbücher zur Quantenpsychologie, Band II geht Stephen Wolinsky sogar so weit, dass er schreibt: „Die Geschichte um das ‚Warum wir fühlen, was wir fühlen,‘ ist nicht wichtig. In dem Moment, in dem wir das ‚Warum‘ erläutern, erzählen, begründen oder beurteilen, erleben wir eine Abspaltung1 von dem eigentlichen Erlebnis. Die Geschichte folgt auf das Erlebnis und ist entweder eine Beurteilung oder eine Ablenkung. Es ist nicht möglich, einen Weg aus diesem Falschen Kern/Falschen Selbst zu ersinnen, weil die Geschichte das Denken übernimmt. Sie ist der Antrieb des Geistes.“

Damit möchte ich deutlich machen, dass das Erzählen der eigenen Geschichte nach einem Trauma oder Missbrauch außerordentlich wichtig und therapeutisch wirksam sein kann. Wenn wir diesen Weg beschreiten, täuschen wir in keiner Weise vor, dass die Geschichte sich nicht zugetragen hat oder dass wir ihre Auswirkungen abschwächen. Wir wollen lediglich herausfinden, warum sich die Psyche so fest an diese bestimmte Geschichte klammert und wovor sie uns beschützen möchte.

Ganz ich!

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