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Einleitung DER BRUCH

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Die menschliche Ganzheit wird oft definiert als die Einheit von Körper, Geist und Seele. Durch emotionalen Missbrauch, Ablehnung und Trauma erleidet diese Einheit einen Bruch, denn eine falsche Schambotschaft verankert sich im Körper, die uns von dem Gefühl des bedingungslosen Geliebtwerdens trennt.

Das läuft folgendermaßen ab:

Schritt 1: Am Anfang stehen Freude und Ganzheit, wir können ungehindert Liebe schenken (und empfangen). Jeder wird mit dieser Fähigkeit geboren. Nur manche Menschen können sich erinnern, so etwas je empfunden zu haben, aber das ist völlig in Ordnung.

Schritt 2: Wir erfahren Verrat, Trauma, Verlassenwerden, Beurteilung oder Ablehnung durch eine nahestehende Vertrauensperson. Das führt zu erheblichem emotionalem Chaos und einem Kontrollverlust.

Schritt 3: Die externe Erfahrung in Schritt 2 führt zu dem Schluss eines inneren Schamgefühls. „Ich bin fehlerhaft und irgendwie selbst daran schuld, weil ich [unzulänglich, wertlos, verrückt usw.] bin.“ Dieser Glaube an die innere Fehlerhaftigkeit versperrt uns den Zugang zu unserem wahren Ich – der inneren Quelle des Lebens und der Freude, dem Gefühl des bedingungslosen Geliebtwerdens. Diese Trennung ist äußerst schmerzhaft. (Andere Bezeichnungen dafür sind: Kernwunde, Falscher Kern, Narzisstische Wunde, Toxische Scham.)

Schritt 4: Der Schmerz soll uns nicht verzehren, deshalb blendet der Körper ihn aus (im Herzen, Magen, Hals, Becken usw.). Dieses Empfinden kann sich als Leere, Langeweile, Beklemmung, Enge, dumpfer Schmerz o. ä. manifestieren.

Schritt 5: Ein schützendes Selbst übernimmt das Kommando, um den Schmerz zu entkräften und davon abzulenken. Es verfolgt in erster Linie den Zweck der Kontrolle und Vermeidung: Empfindungslosigkeit aufrechterhalten und das erneute Auftreten desselben Schmerzes vermeiden. Das schützende Selbst kann dem wahren Selbst keine Freude entlocken, deshalb verlässt es sich für sein eigenes Überleben stark auf externe Wertmaße. Es ist „wer wir sind“ – wie wir die Welt sehen, und sogar die Linse, durch die wir unseren Weg der Heilung betrachten. (Andere Bezeichnungen dafür sind: Falsches Selbst, Ego.)

Die Wurzel eines derartigen emotionalen Traumas und darauffolgenden Verhaltens liegt in der im Körper verborgenen Botschaft, die vom Bewusstsein betäubt ist und folglich unsere Fähigkeit der Annahme und Erfahrung aufrichtiger Liebe verhindert. Alle weiteren in diesem Buch beschriebenen Zustände (Neurose, Persönlichkeitstransformationen, Schwarz-Weiß-Denken, Stimmungsschwankungen, Ängste, Beziehungsprobleme, Depressionen) gehen auf diese Kernwunde zurück.

In meinen frühen Arbeiten konzentrierte ich mich vorwiegend auf das Verhalten und die Symptome bei Soziopathie und pathologischem Narzissmus, um den Opfern in toxischen Beziehungen zu helfen, den Missbrauch zu erkennen und sich davor zu schützen. Dadurch konnten die Menschen zwar die Ursachen ihres Leidens identifizieren, aber ihr Leiden längst nicht beenden.

Der Traumatisierte beklagt sonderbare Empfindungen des Körpers: Beklemmung, Enge, Leere, Nichts, Ausgehöhltheit. Da er diese Gefühle nicht beschreiben kann, unterzieht er sich einer Therapie und richtet seinen Fokus bevorzugt auf die nachfolgenden verhaltensorientierten und psychologischen Aspekte: Gefallsucht (People-Pleasing), Depression, Perfektionismus, Stimmungsschwankungen, Isolation, exzessives Tagträumen, Kontrollbedarf, Ärger und Wut (Ressentiment), Grübeln (Rumination), Fürsorge, Suchtmittelmissbrauch – die Liste ist unendlich und unterscheidet sich von Person zu Person.

Heilung bedeutet in diesem Zusammenhang eher Symptommanagement als Ursachenbehebung. Das ist vergleichbar mit dem abendlichen Aufstellen von Wassereimern, um durchsickerndes Regenwasser über Nacht aufzufangen, anstatt das Loch im Dach zu reparieren. Sobald ein Eimer voll ist, suchen wir wild aufgescheucht nach einem neuen Eimer, leeren den vollen aus und fühlen uns auf diese Weise von Tag zu Tag erschöpfter.

Das ist der Charakter eines Traumas. Wir sind so sehr mit dem Verwalten der Eimer beschäftigt, dass wir nie die Zeit finden, zu dem Loch im Dach aufzublicken.

Es ist keineswegs unsere Schuld. Früher oder später sperrt der Körper die Gefühle weg, weil sie in jenem Moment zu schmerzhaft und unerträglich sind. Unser wahres Selbst ist noch da, es wird lediglich von düsteren, frustrierenden Empfindungen wie „Beklemmung“ oder „Leere“ oder „Langeweile“ verhüllt. Das Arbeiten mit solchen Zuständen erscheint vielleicht unmöglich, aber dieses Buch zeigt, dass solche Empfindungen tatsächlich der Schlüssel zur Wiedererlangung der Ganzheit sind.

Ich veröffentlichte meine Schriften in verschiedenen Communitys mit einem Schwerpunkt auf Heilung nach Missbrauch, Ko-Abhängigkeiten, komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen (KPTBS) und sogar Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen (Borderline-Persönlichkeitsstörungen, narzisstische Persönlichkeitsstörungen, antisoziale Persönlichkeitsstörungen und histrionische Persönlichkeitsstörungen). Daraufhin meldeten sich Hunderte Personen, um ihre Lebensgeschichten und persönlichen Erfahrungen mit mir zu teilen. Trotz der individuellen Geschichten dämmerte mir allmählich, dass das Leiden unverkennbaren Mustern folgte. War es möglich, durch geteiltes Leid gemeinsam auch einen Weg in die Freiheit zu beschreiten?

Selbstverständlich unterscheidet sich der Weg des einen von dem Weg des anderen. Mein Weg kombinierte Achtsamkeit mit Therapie und Spiritualität. Ich lernte Achtsamkeit von Psychologen und Autoren wie Tara Brach. Außerdem erkundete ich das von internationalen Philosophen wie Stephen Wolinsky, PhD, und Leslie Temple-Thurston begründete Konzept der Kernverletzung.

Als ich von meinem Weg berichtete, stieß dieser bei fast allen, die sich an mich gewandt hatten, auf Resonanz – selbst bei Personen mit gänzlich anderen Leidensbildern. Auch meine Instrumente funktionierten breitflächig, daher beschloss ich, dieses Buch zu schreiben.

In Keine Macht den Psychopathen schrieb ich über mein Gefühl der „Trennung von meinem wahren Ich“. Damals hatte ich keine Ahnung, was es bedeutete oder wie ich die „Verbindung wiederherstellen“ konnte. Ich stand damit nicht alleine da. Am häufigsten höre ich von Traumapatienten den folgenden Satz: „Ich vermisse mein altes Selbst“ – jene Person, die fröhlich, liebevoll und unterhaltsam war.

Aber angenommen, das alte Selbst hat uns nicht wirklich verlassen. Angenommen, wir beherbergen in uns nur äußerst hartnäckige Botschaften, die uns daran hindern, das alte Selbst zu erleben.

Wenn wir hungrig sind, essen wir etwas. Wenn wir uns nicht in Form fühlen, gehen wir ins Fitnessstudio. Wenn wir müde sind, gehen wir schlafen. Doch wenn wir uns nicht liebenswert fühlen, analysieren wir uns aus irgendeinem Grund fast zu Tode, bis es uns einfach noch schlechter geht.

Die logischste Lösung wäre natürlich, uns selbst Liebe zu schenken. Aber angenommen, wir wissen nicht, wie wir das tun sollen. Angenommen, Trauma und Scham verwehren der Liebe den Zutritt zu unserem Inneren. Angenommen, unsere Gefühle wurden betäubt, um uns zu schützen. Angenommen, ein traumatisches Erlebnis hat der Bindung zu unserem wahren Selbst einen Bruch zugefügt.

Ohne den schmerzlindernden Trost und die Güte der Liebe werden wir unweigerlich immer wieder ins Straucheln geraten. Jeder erlebt die Welt auf seine Weise. Liebe ist an Bedingungen geknüpft und wartet darauf, dass andere ihre Karten zuerst offenlegen, bevor wir unsere zeigen. Wir glauben, wenn jemand uns uneingeschränkt liebt, sind wir endlich zufrieden (das gilt auch für jede unserer anderen externen Fixierungen). Doch selbst wenn wir bekommen, was wir wollen, genügt es nie. Liebe wird durch Aufmerksamkeit ersetzt, Verletzbarkeit durch Validierung und Zuneigung durch Billigung.

Wenn Liebe ungehindert aus dem Inneren herausströmt, wird unsere unendliche Quelle wiederhergestellt und alle anderen Verhaltensanomalien lösen sich auf. Das ist machbar, indem wir uns rückwärts durch die Schritte arbeiten, die ich zu Beginn der Einführung aufgelistet habe. Dieses Buch beherzigt diesen Ansatz. Vielleicht haben wir Angst, dass unser Leiden zu weit fortgeschritten oder der Bruch zu groß ist, um zu heilen, aber tatsächlich kann jeder Ganzheit wiedererlangen. Dieses Buch verlangt Mut und fordert Vertrauen in etwas, das noch nicht spürbar ist.

Ganz ich!

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