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II. Der Verbrechensbegriff

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In der nachfolgenden Darstellung wird mit der ganz h.M. ein dreistufiger Verbrechensbegriff zugrunde gelegt. Ein Verbrechen ist danach eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhaft begangene Handlung.[10] Dieser Verbrechensbegriff orientiert sich an vollendeten Erfolgsdelikten wie der vorsätzlich begangenen vollendeten Körperverletzung oder der vorsätzlich begangenen vollendeten Tötung, aber auch die Unterlassungs-, Versuchs- und Fahrlässigkeitsdelikte werden auf seiner Grundlage diskutiert.[11]

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Diesem „gegenständlichen“ Verbrechensbegriff wird von einigen Autoren ein „ideeller“ Verbrechensbegriff entgegengesetzt, wonach „das Wesen der Straftat in etwas Ideellem, Expressivem, in einem kommunikativen Akt“, zu sehen sei.[12] Für die Anhänger dieser – in unterschiedlichen Varianten vertretenen – Position ist das wesentliche Element an dem Straftatgeschehen „die Infragestellung der Geltung des Rechts, dessen Nichtanerkennung oder Missachtung. Diese, nicht das gegenständlich vorwerfbare Unrecht, sei das, worauf der Staat mit der Strafe antworte, um die Geltung des Rechs zu bekräftigen“.[13]

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Der „ideelle“ Verbrechensbegriff ist eng verknüpft mit einer Familie von Straftheorien, die die Legitimation von Strafe in dem Ausgleich eines durch die Straftat erzeugten „Geltungsschadens“ und der „Bekräftigung der Normgeltung“ sehen (siehe dazu kritisch → AT Bd. 1: Hörnle, § 12 Rn. 34). Er teilt daher viele ihrer Probleme. Letztlich handelt es sich bei der Theorie des durch Strafe auszugleichenden oder zu verhindernden Normgeltungsschadens um eine Variante der Lehre von der (positiven) Generalprävention.

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Wer, wie es einige Vertreter dieser Position vorschlagen, von einer Rechtsgutsverletzung gänzlich absehen will, gerät in bedenkliche Nähe zu einem radikalen Subjektivismus.[14] Angenommen, ein Anarchist setzt sich medial erfolgreich für eine radikale Veränderung der Akzeptanz der geltenden Rechtslage ein – liegt darin schon das (versuchte oder vollendete) Bewirken eines strafrechtlich relevanten „Normgeltungsschadens“? Dem dürfte schon die in Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG verbürgte Meinungsfreiheit entgegenstehen. Gelegentlich scheint „Normgeltung“ aber gar nicht im Sinne faktischer und empirisch überprüfbarer Geltung verstanden zu werden, sondern in einem anderen, bedauerlicher Weise nicht näher explizierten Sinn, so dass auch das Konzept des „Normgeltungsschadens“ schillernd und unbestimmt bleibt.[15]

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Ob und gegebenenfalls wie Strafen die Normgeltung – oder Normakzeptanz – in der Bevölkerung tatsächlich sichern können, ist eine empirische Frage, die bislang nicht zufriedenstellend beantwortet ist. Deshalb ist es misslich, dass die Vertreter der Theorie des „Geltungsschadens“ ganz überwiegend auf der Grundlage der veralteten Konzeption von „Verhaltensnormen“ im Sinne Bindings argumentieren, und nicht die Nähe zu den modernen Sozialwissenschaften suchen, wo Konzepte wie „soziale Norm“ und „Normakzeptanz“ intensiv diskutiert werden.[16]

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Der „ideelle Verbrechensbegriff“, der in der Straftat lediglich eine negativ bewertete Form von Kommunikation mit den normerzeugenden Instanzen sieht, wird der Realität der durch Straftaten bewirken Verletzungen, ihren physischen und psychischen Folgen, nicht gerecht. Eine Vergewaltigung lässt sich nicht als eine negativ zu bewertende Kommunikation des Täters mit dem Staat (!) deuten, wenn nicht die Strafrechtstheorie jeden Anspruch auf Nachvollziehbarkeit und Akzeptanz ihrer Begriffsschöpfungen in der Bevölkerung aufzugeben bereit ist.[17] Im Ergebnis spricht deshalb wenig dafür, den auf „reale“ Güterverletzungen bezogenen gegenständlichen Verbrechensbegriffs der h.M. preiszugeben.

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In jüngerer Zeit ist vorgeschlagen worden, die Diskussion um das auf einem konkreten Verbrechensbegriff beruhende Straftatsystem zu einer Behandlung des „gesamten Strafrechtssystems“ zu erweitern.[18] Dahinter steht die Idee, die Debatte um Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld durch Gesichtspunkte u.a. aus der Kriminologie, dem Strafprozessrecht und dem Gerichtsverfassungsrecht zu ergänzen und gemeinsame Leitprinzipien herauszuarbeiten.[19]

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Die damit angedeutete Ausweitung des Blicks in andere Bereiche des Strafrechts ist sinnvoll, man sollte aber nicht übersehen, dass die Fokussierung der Straftatlehre auf die Strafrechtsdogmatik auch ihre Vorteile hat. Ein zu weit gefasstes System wird notwendigerweise unübersichtlich und vermag dann die oben Rn 3 skizzierten rechtstaatlichen Gewinne möglicherweise nicht mehr zu erbringen.

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Zu beachten sind auch die grundlegenden methodologischen Unterschiede zwischen der Strafrechtsdogmatik und z.B. der Kriminologie (→ AT Bd. 1: Eric Hilgendorf, Strafrecht im Kontext der Normenordnungen, § 1 Rn. 71). Außerdem haben heute die Grundrechte und ihre Interpretation sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Methode der (an Grundrechten orientierten) Abwägung im Strafrecht eine erhebliche Bedeutung erlangt.[20] Auch sie müssten in einem „gesamten Strafrechtssystem“ berücksichtigt werden. Die Ausarbeitung eines solchen Systems stellt eine enorme wissenschaftliche Herausforderung dar; ob sich ein solches System praktisch bewähren würde, ist aus heutiger Sicht nicht absehbar.

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