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II. Franz von Liszt und Ernst Beling

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Die moderne Diskussion um die strafrechtliche Systembildung in Deutschland[72] wird üblicherweise auf Ernst Beling zurückgeführt, der 1906 das Verbrechen in Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld gliederte.[73] Dieser klassische Straftataufbau findet sich der Sache nach aber schon bei Franz von Liszt, der ihn bereits vor der Jahrhundertwende in seinem epochemachenden Lehrbuch zum deutschen Strafrecht verwendete.[74]

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Busch hat die strukturbildenden Grundannahmen Belings und von Liszts wie folgt umschrieben: „Die klassische Strafrechtsdogmatik hat in ihrem System die Unterscheidung der äußeren (objektiven) und der inneren (subjektiven) Seite des Verbrechens zugrunde gelegt. Die äußere Seite umfasst die Handlung, die naturalistisch als Verursachung einer Veränderung in der Außenwelt durch gewillkürtes körperliches Verhalten verstanden wird, also sowohl dieses Verhalten selbst wie den dadurch verursachten Außenerfolg, weiter auch etwaige Modalitäten der Handlung. Diese äußere Seite repräsentiert den Tatbestand und konstituiert, soweit nicht andere Rechtssätze entgegenstehen, die Rechtswidrigkeit. Die innere Seite des Verbrechens kommt ganz auf das Konto der Schuld. Die Schuld ist die psychische Beziehung des Täters zu der äußeren Seite der Tat. Diese psychische Beziehung wird als Vorsatz oder als Fahrlässigkeit existent. Vorsatz und Fahrlässigkeit sind die Formen oder Arten der Schuld, die Zurechnungsfähigkeit ist ihre Voraussetzung. Der Gegensatz objektiv – subjektiv ist identisch mit dem Gegensatz Rechtswidrigkeit – Schuld.“[75]

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Durch die Entdeckung der subjektiven Unrechtselemente[76] und die Hinwendung zu einem als „normativ“ verstandenen Schuldbegriff[77] stieß die klassische Verbrechenssystematik von Liszts und Belings schon bald an Grenzen. Es war vor allem ihrer Klarheit und intuitiven Verständlichkeit zu verdanken, dass sie sich über mehrere Jahrzehnte hinweg bis zu den „neoklassischen“ Systemen von Mezger[78] und Baumann[79] halten konnte.

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Von Liszt, Beling und auch der von Liszt-Schüler Gustav Radbruch[80] werden oft als „Naturalisten“ bezeichnet.[81] Mit diesem im juristischen Schrifttum kaum näher präzisierten Konzept wird die Vorstellung verbunden, dass bestimmte rechtliche Kategorien, etwa die der „Kausalität“, quasi von Natur aus vorgegeben und deshalb von der Rechtswissenschaft nicht modifizierbar seien.[82] Es ist allerdings sehr fraglich, ob der Hinweis auf einen so verstandenen Naturalismus – oft verknüpft mit dem ebenfalls pejorativ gemeinten Beiwort „Positivismus“ – den geistigen Hintergrund von Liszts und Belings angemessen zu umschreiben vermögen.

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Zwar trifft es zu, dass von Liszt von der wissenschaftlichen Weltanschauung seiner Zeit, oft verkürzend „Positivismus“[83] genannt, erheblich beeinflusst wurde. Dies zeigt sich vor allem an seinen Arbeiten zur Kriminalpolitik.[84] Es erscheint aber sehr zweifelhaft, ob sich von Liszts strafrechtsdogmatische Vorschläge geradlinig auf „naturwissenschaftliche“ Konzepte zurückführen lassen. In den Naturwissenschaften des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts spielt das Konzept der Handlung, soweit ersichtlich, überhaupt keine Rolle. Auch die „conditio-sine-qua-non-Formel“ und die mit ihr meist verbundene Vorstellung, alle Ursachen seien gleichwertig, lässt sich mitnichten als genuin „naturwissenschaftlich“ einstufen.[85] Es spricht für sich, dass sich von Liszt in den verschiedenen Auflagen seines Lehrbuchs nicht auf Autoren aus den Naturwissenschaften, noch nicht einmal auf Autoren aus den damals entstehenden empirischen Sozialwissenschaften stützt.

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Stattdessen verweist er auf das Zivilrecht.[86] Man wird vermuten dürfen, dass von Liszt die bekannte Arbeit von Jherings über „Das Schuldmoment im römischen Privatrecht“, wo der Unterschied zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld explizit hervorgehoben wurde, gut kannte.[87] Immerhin hatte er als Student in Wien bei Jhering Vorlesungen gehört, und dürfte dort auch mit den Grundgedanken von Jherings berühmter Schrift über den „Zweck im Recht“ in Berührung gekommen sein.[88] Hier, und nicht in den Naturwissenschaften, liegen die Wurzeln von Liszts Rechtsverständnis.[89]

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Auch bei Beling führt die Annahme, er verdanke seinen Denkstil einem auf die Naturwissenschaften fixierten „Naturalismus“, in die Irre.[90] In seiner Autobiographie beschreibt Beling anschaulich, dass es vor allem praktische Erwägungen didaktischer Art waren, die ihn dazu bewogen, ein einheitliches Konzept von „Tatbestand“ einzuführen und von „Rechtswidrigkeit“ und „Schuld“ zu unterscheiden.[91] Es handelt sich im Kern um den Versuch einer begrifflichen Klärung, um eine „methodische Wegeleitung,“[92] welche in der „Lehre vom Verbrechen“ in großem Detail entwickelt wird.

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Wenn nun von Liszt und Beling nicht durch einfache Übernahmen aus der „Naturwissenschaft“ zu ihren Begriffsbildungen und Strukturierungsvorschlägen kamen, wie dann? Die Antwort lautet, dass sich beide bemühten, die in ihrer Gesellschaft vorzufindenden Vorstellungen von „Straftat“ und „Verbrechen“ in einer einigermaßen präzisen Begrifflichkeit und logisch strukturiert wiederzugeben. Es ging ihnen also um den Nachvollzug und die Explikation lebensweltlicher Annahmen und Konzepte für die Strafrechtsdogmatik.

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Dabei ist es offensichtlich, dass beide als geistig bewegliche und interdisziplinär interessierte Söhne ihrer Zeit in nicht unerheblichem Maße von der „naturwissenschaftlichen Weltanschauung“ ihrer Epoche beeinflusst wurden. Bei von Liszt war dies vor allem der Darwinsche Evolutionsgedanke. Es spricht jedoch wenig dafür, dass von Liszt oder Beling „naturwissenschaftliche“ Begriffe einfach unreflektiert aus der Biologie oder Physik übernommen hätten. Gerade bei von Liszt, dem Schüler Jherings und einflussreichen Befürworter des „Zweckgedankens im Strafrecht“, lassen sich unschwer teleologische Perspektiven erkennen, die sich auch auf die wissenschaftliche Begriffsbildung und den Straftataufbau auswirkten.[93]

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